Bleiben Sie Leser!

Wenn Aufsätze auf 200 Wörter plus/minus zehn Prozent limitiert werden, verkümmern Kreativität und Phantasie. Beide werden in der Schule mit der Literatur sukzessive abgeschafft. Ein Plädoyer für die Rückkehr des Bildungsbürgertums.

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Buch Wien - Bleiben Sie Leser!

Meine jüngere Tochter hat vor Kurzem ihre erste gymnasiale Deutsch-Schularbeit geschrieben. Resultat und Erfolg waren ansprechend, so wie der gesamte Deutschunterricht: Etwas Schützenderes, Tröstenderes, Bewegenderes als "Das fliegende Klassenzimmer" von Erich Kästner kann man Zehnjährigen in eine Welt sich verflüchtigender Solidarität und Wärme nicht mitgeben. Überhaupt ist nichts alberner, als die großteils engagierten und qualifizierten Lehrer für den Wahnsinn der Lehrpläne verantwortlich zu machen.

Denn wer mit seinen Schülern liest, tut dies vor allem in den höheren Klassen auf eigene Gefahr: Die von literarischen Zumutungen so gut wie gesäuberte Zentralmatura schreibt vielmehr fortgeschrittene Fertigkeiten im Verfassen von Leserbriefen, Bewerbungsschreiben und "Meinungsreden" vor.

Der Weg dorthin wird allerdings schon in der ersten Gymnasialklasse asphaltiert.

Meine Tochter hatte einen Erlebnisaufsatz zu schreiben, und das war meinerzeit eine nur noch durch den Phantasieaufsatz zu übertreffende Wonne. Ich habe mich ungeheurer Textmengen in schwer lesbarer Handschrift entledigt; mein wunderbarer Professor war nach der Lektüre erledigt, aber nicht unglücklich, weil er sicher war, etwas bei mir in Gang gesetzt zu haben.

Meine Tochter hingegen musste ihre Bemühungen lehrplangemäß auf ein Textvolumen von 200 Wörtern konzentrieren, obwohl sie gern das Doppelte geschrieben hätte. Erhebliche Unter-oder Überschreitungen haben Punkteabzüge zur Folge, ebenso wie das Abweichen von der Reihenhausarchitektur mit Einleitung, Hauptteil und Schluss in entsprechenden Proportionen.

So erstickt man Kreativität, Phantasie und Eigenwillen, obwohl das Verfahren seine Folgerichtigkeit hat: Für Leserbriefe und Bewerbungsschreiben sind schon 20o Wörter zu viel, und Phantasie und Kreativität sind die Feinde des Funktionierens.

Ich habe mir zum Anlass überlegt, wie sich das ausnähme: Goethes erhabenes Nachtlied mit der Beginnzeile "Über allen Gipfeln ist Ruh", von 24 auf 200 Wörter gestreckt. Oder Thomas Manns "Zauberberg", auf eineinhalb handschriftliche Seiten eingedampft. Nicht, dass in Gymnasialklassen ein Ausstoß solcher Qualität vorauszusetzen wäre. Aber unstrittig ist, dass Goethe und Thomas Mann ausreichende Schulbildung genossen haben und dass das Segment "Leserbrief" dabei keine Rolle gespielt hat.

Sollte die sich nun anbahnende Wende also einen -nur einen einzigen - Vorzug haben, so wäre das womöglich die Abkehr vom finnischen Bildungsmodell mit Laptop für Volksschüler, dafür ohne Shakespeare. Mit einem Wort: Es wird Zeit, dass der lang desavouierte "Bildungsbürger" wieder in seine Rechte eingesetzt wird. Denn das gebildete Bürgertum steht, nebst weniger Gutem, auch für ein Gutteil aller positiven Veränderungen in der Geschichte der Zivilisation. Viel Freude und Genuss also beim Lesen!