Mireille Ngosso - Keine Gerechtigkeit, kein Frieden

Coronagerecht war sie nicht, die "Black Lives Matter"-Demonstration am 4. Juni. Bei 50.000 Menschen ist das Einhalten von Abstandsregeln aber auch schwierig. Während die einen nun monieren, man könne dann ja auch wieder Sportveranstaltungen besuchen, nutzen die anderen den Moment und kämpfen für nachhaltige Gleichberechtigung in einem System, in dem struktureller Rassismus so tief verankert ist, dass er weißen Menschen nicht auffällt. Politikerin Mireille Ngosso (SPÖ) im Interview über weiße Empfindlichkeiten und junge Hoffnung

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"Black Lives Matter" - Mireille Ngosso - Keine Gerechtigkeit, kein Frieden

News: Wie geht es Ihnen nach den letzten Tagen?
Mireille Ngosso:
Wir haben bei der Demo mit 3000 Menschen gerechnet, am Ende sind 50.000 marschiert. Es war ein großartiger Moment und ein tolles Gefühl, als junge Menschen, alte Menschen, schwarze und weiße Menschen „Black Lives Matter“ im Chor geschrien haben. Vor allem so viele junge Menschen unter 25 waren da. Gerade in dieser Generation scheint man wirklich Veränderungen in puncto strukturellem Rassismus zu wollen. Auch für die nächsten Generationen.

Wie waren die vergangenen Tage und Wochen für Sie? Was lösen die teilweise extremen Protest-Bilder aus Amerika in Ihnen aus?
Super finde ich es nicht, aber ich kann verstehen, warum es so weit gekommen ist. In Amerika hat Rassismus eine lange Geschichte, angefangen von Sklaverei bis Rassentrennung und jetzt der Tod von George Floyd. Das war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die "Black Lives Matter"-Bewegung gibt es ja schon seit dem Jahr 2013, man hat immer versucht, friedlich zu demonstrieren, aber die Menschen wurden einfach nicht gehört. Was jetzt passiert, passiert aus Wut und Verzweiflung. Die Menschen wünschen sich ganz einfach Respekt und Gleichstellung.

Auf Social Media erlebt das Thema eine ganz neue Dimension. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach das Internet in dieser Bewegung?
Eine sehr große Rolle. Durch das Internet konnte diese Bewegung überhaupt so groß werden und ist von Amerika bis zu uns durchgedrungen. Für mich ist es wichtig zu sehen, welche Erfahrungen andere Menschen mit Rassismus gemacht haben. Da sieht man einmal, welche Ungerechtigkeiten wirklich passieren. Gerade auf Instagram gibt es so viele junge People of Color und Black People of Color, die großartige Aufklärungsarbeit leisten und ihre persönlichen Geschichten erzählen. Hier bekommen sie den Raum, hier finden ihre Geschichten endlich Gehör.

Wie sehr haben Sie es selber satt, die Relevanz der Diskussion rund um strukturellen Rassismus immer wieder betonen zu müssen?
Als ich politisch aktiv geworden bin, habe ich mir anfangs geschworen, dass ich nie über die Themen Integration und Migration öffentlich sprechen werde. Ich bin ja nicht nur eine schwarze Frau, sondern auch Mutter und Ärztin. Ich wollte mir diesen Schuh nicht anziehen. Aber in dem Moment, als ich gemerkt habe, wie viele junge schwarze Menschen ein Vorbild in mir gesucht und mich auch bestärkt haben, wusste ich, dass es meine Pflicht ist, andere Menschen aufzuklären. Ich wusste, es geht jetzt nicht mehr nur um mich, es geht um die nächsten Generationen und um Menschen, die eine Stimme brauchen. Junge schwarze Menschen brauchen jemanden, der ihnen zuhört und ihre Probleme versteht, der sie repräsentiert.

Der Begriff „Ally“ wurde in den letzten Tagen immer öfter aufgeworfen. Also dass weiße Menschen sich mit schwarzen Menschen solidarisieren und eine gemeinsame Allianz gegen Rassismus und Hass bilden. Was kann man als weiße Gesellschaft beitragen, um Rassismus zu bekämpfen?
Man trägt als weißer Mensch schon viel dazu bei, wenn man den Leuten einfach mal zuhört und akzeptiert, dass es auch in diesem Land Ungerechtigkeiten gibt, die ein weißer Mensch nicht am eigenen Leib erfährt. Wir haben durch diese mediale Aufmerksamkeit momentan die Chance, eine Tür zu öffnen und das müssen wir auch tun. Auch wenn es anstrengend ist, ständig gegen Vorurteile anzukämpfen. Zum Beispiel gegen jenes, dass man einen Kampf zwischen schwarzen und weißen Menschen herbeiführen will.

Ein Hashtag, der in den letzten Tagen immer wieder hochgekocht ist: #alllivesmatter. Also nicht nur schwarze sondern alle Leben zählen. Das stößt bei #blm-Bewegung auf Kritik. Warum ist es so wichtig, jetzt gerade und ausschließlich schwarzen Menschen zuzuhören?
Es ist mühsam, dass sich weiße Menschen oft sofort angegriffen fühlen, in diesen Diskussionen. Es geht nicht um ein Auseinanderdividieren der Gesellschaft, sondern darum, dass wir als Gesellschaft zusammenwachsen. Es ist eine Absurdität, zu behaupten: "Jetzt wollen die Schwarzen gegen die Weißen kämpfen!" oder "Jetzt werden die Weißen diskriminiert!" Das stimmt ganz einfach nicht. Es ist eine Tatsache, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft kein Problem mit ihrer Hautfarbe hat. Weder im Bildungsbereich, bei der Wohnungssuche oder am Arbeitsmarkt. Schwarze Menschen werden in ihrem Alltag aber eben aufgrund ihrer Hautfarbe systematisch diskriminiert. Wir leugnen nicht, dass alle Menschen Probleme aufgrund ihres Geschlechts, ihres Jobs, ihrer Religion haben. Aber dabei spielt die weiße Hautfarbe eben nie eine Rolle. Ich sage: Natürlich zählen alle Leben! Aber solange schwarze Leben nichts oder weniger wert sind, kann man nicht behaupten, "all lives matter".

»Es geht nicht um ein Auseinanderdividieren der Gesellschaft, sondern darum, dass wir als Gesellschaft zusammenwachsen«

Es gibt einen Eintrag auf Wikipedia von Ihnen, in dem steht, Ihre Eltern hätten Sie „übertrieben österreichisch“ erzogen. Können Sie das präzisieren?
Meine Eltern haben schon sehr darauf gepocht, dass ich gut Deutsch spreche, dass ich die österreichische Geschichte erlerne, viel von Österreich sehe. Das war ihnen ein Anliegen. Als meine Eltern vom Kongo nach Österreich gekommen sind, waren sie so damit beschäftigt, hier anzukommen und Fuß zu fassen, dass unsere eigene Kultur in den Hintergrund gerückt ist. Ich mache ihnen absolut keinen Vorwurf, sie wollten einfach, dass ich es so leicht wie nur irgendwie möglich habe. Aber im Nachhinein finde ich es schade, dass ich erst viele Jahre später mehr über den Kongo gelernt habe. Ich bin als Erwachsene viel dorthin gereist und habe mich viel mit der Kultur beschäftigt. Erst dann habe ich überhaupt verstanden, dass schwarze Menschen auch in Österreich schon lange präsent sind. Wir sind schon lange Teil dieser Kultur aber wir kommen in den Geschichtsbüchern nicht vor. Es wird so getan, als ob diese Gesellschaft schon immer weiß gewesen wäre und durchgehend weiß ist.

Wie war das Aufwachsen in Österreich als schwarze Frau für Sie?
Ich bin mit drei Jahren aus dem Kongo nach Wien gekommen, gemeinsam mit meinen Eltern. Es war nicht immer leicht, gerade im schulischen Bereich hatte ich oft Schwierigkeiten und mit Rassismus und Vorurteilen zu kämpfen. Mit 16 habe ich die Schule abgebrochen und erst viel später, mit 20, die Matura an der Abendschule nachgeholt. Danach habe ich Medizin studiert. Jetzt bin ich seit drei Jahren Ärztin in Hietzing und seit einigen Jahren auch politisch aktiv. Rassismus habe ich immer wieder erlebt, das jüngste Ereignis war diese extreme Hasswelle, die mir nach meiner Ernennung als SPÖ-Bezirksvorständin im Jahr 2018 entgegengeschlagen ist. Als ich die Stelle im Krankenhaus angenommen habe, dachte ich, dass meine Hautfarbe auch im Gesundheitsbereich ein Thema sein wird. Aber bis jetzt gab es in meinem Beruf zum Glück noch keine Vorfälle. Das einzige, was mir manchmal passiert, ist, dass mich Patienten für die Krankenschwester halten. Aber das passiert vielen Frauen.

Welche Unterschiede erkennen Sie von damals zu heute? Was hat sich verändert?
Meine Mutter hat jahrelang als Putzfrau gearbeitet, mein Papa in einer Fabrik. In solchen Positionen waren schwarze Menschen für die weiße Mehrheitsgesellschaft tolerabel. Schwarze Menschen haben lange die Jobs gemacht, die Weiße ohnehin nicht machen wollten. Aber jetzt gibt es diese neue Generation an jungen Schwarzen, die studiert und als Teil der Gesellschaft anerkannt werden will. Wir wollen nicht mehr unsichtbar sein. Ich bin Wienerin, Österreicherin. Ich bin ein Teil dieser Gesellschaft. Mein Sohn ist hier geboren, er ist Wiener und er will auch als solcher akzeptiert werden. Darum geht es uns.

Sehen Sie sich als schwarze Frau in Österreich überhaupt von den klassischen Medien hierzulande repräsentiert?
Schauen Sie sich bitte in Ihrer eigenen Redaktion um. Wie viele schwarze Redakteure sind bei Ihnen beschäftigt? Oder überhaupt in den großen Mainstream-Medien dieses Landes vertreten? Stefan Lenglinger und Arabella Kiesbauer, da hört es beinahe schon wieder auf. Man darf nicht immer nur über Inklusion sprechen. Man muss sie leben. Man muss in allen Bereichen des Lebens die Türen öffnen. Je mehr schwarze Vorbilder junge Menschen in Politik, Wirtschaft und in den Medien haben, desto leichter wird es, gegen Alltagsrassismus vorzugehen. Dieses Momentum muss man nun nutzen, um endlich Aktionen zu setzen.

Wie könnten Medien hier für mehr Vielfalt sorgen?
Wenn ich mir die Kommentare unter manchen Medienberichten ansehe, wird mir schlecht. Da muss ich auch manchmal wirklich das Handy weglegen, weil es mich sonst fertigmacht. Ich bitte alle Medienschaffenden: Moderieren Sie Ihre Kommentare. Meinungsfreiheit und ein aktiver Diskurs ist wichtig aber bitte löschen Sie rassistische Beleidigungen. Rassismus ist keine Meinung. Das kann man sich als weißer Mensch gar nicht vorstellen: Wenn man öffentlich so beschimpft wird, ob das nun online passiert oder auf der Straße, fühlt man sich schrecklich. Man entwickelt ein unglaubliches Schamgefühl. Auch, wenn Alltagsrassismus zum Beispiel in der Arbeit erfolgt. Wie oft habe ich bei „Witzen“, die latent rassistisch waren, mitgelacht, weil ich mir nicht die Blöße geben wollte. Man ist als schwarzer Mensch eben auch oft in einem Abhängigkeitsverhältnis und kann den Mund nicht aufmachen. Das muss aufhören.

Welche Impulse zur Bekämpfung von Rassismus sollte die Politik setzen? Was würden Sie sich wünschen - auch von Ihrer eigenen Partei?
Ich wünsche mir ein Zugeständnis von Seite der Politik und das Versprechen, dass wir dieses Problem in unserem Land angehen. Diese Situation jetzt gerade ist für mich die Bestätigung, dass ich mir den Rassismus in diesem Land all die Jahre nicht eingebildet habe. Dass es anderen auch so ergeht. 50.000 Menschen haben bestätigt, dass wir in Österreich ein Problem mit Rassismus haben. Das gibt mir ein Gefühl der Befreiung. Jetzt können wir sagen, wie es wirklich ist. Jetzt können wir die Weichen für die nächsten Generationen stellen. Wir werden weitermachen und planen regelmäßige Veranstaltungen, zu denen wir Leute von der Polizei und aus dem Bildungsbereich einladen wollen. Wir suchen den Dialog. Die Jugend soll die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen und zeigen, wie engagiert und motiviert die schwarze Community in diesem Land ist. Wir wünschen uns den „Black History Month“, in dem wir die schwarze Geschichte in Österreich erzählen wollen. Die weiße Mehrheitsgesellschaft soll die Chance bekommen, zu lernen. Dieses Momentum muss man nutzen, um endlich Aktionen zu setzen.

Zur Person

Mireille Ngosso ist 39 Jahre alt, Ärztin im Krankenhaus Hietzing und stellvertretende Bezirksvorsteherin der Inneren Stadt Wien (SPÖ). Sie ist Mitorganisatorin der "Black Lives Matter"-Bewegung in Österreich. Für den Wiener Gemeinderat wird sie auf dem SPÖ-Listenplatz 27 kandidieren.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News-Ausgabe Nr. 24+25/20. Online haben wir eine längere Version veröffentlicht.