ÖVP-FPÖ-Regierung: Was unter Kanzler Kurz passiert ist

1,5 Jahre Türkis-Blau: Reformen, "Message Control" und "Einzelfälle". Nun musste Kanzler Sebastian Kurz den Posten räumen.

von Bilanz - ÖVP-FPÖ-Regierung: Was unter Kanzler Kurz passiert ist © Bild: JOE KLAMAR / AFP

Das Skandalvideo von Vizekanzler Heinz-Christian Strache hat die ÖVP-FPÖ-Regierung nach 1,5 Jahren schwer erschüttert. Geprägt war Türkis-Blau bisher von Reformen und v.a. deren durchorganisierter Platzierung in den Medien - Stichwort "Message Control". Die stakkatoartig präsentierten Maßnahmen waren allerdings von Skandalen begleitet - wie den rechten FPÖ-"Einzelfällen" und der BVT-Affäre.

Im Video: Die Kanzlerschaft von Sebastian Kurz

Keine Konflikte in der Öffentlichkeit - das war die Devise

Angetreten waren ÖVP-Chef Sebastian Kurz und FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache mit dem festen Vorsatz, keine Konflikte in der Öffentlichkeit auszutragen und einen "neuen Stil" in der Politik zu leben. Bereits während den Koalitionsverhandlungen zeigten sich die Teams äußerst bemüht, die Kommunikation straff an den Zügeln zu halten. Ein Ausscheren aus dem offiziellen Regierungs-Wording gab es auch in Folge so gut wie nicht, die Disziplin von Partei-Vertretern nach außen war im Vergleich mit den Vorgänger-Regierungen ungewöhnlich groß.

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Im ersten Jahr 2018 brachte die Regierung gleich zwei größere Reformen auf den Weg: die von Wirtschaft und Industrie geforderte und von Arbeitnehmervertretern scharf kritisierte Arbeitszeitflexibilisierung ("12-Stunden-Tag") sowie die 2019 angelaufene Fusion der Gebietskrankenkassen samt Schwächung der Arbeitnehmerseite. Beides wurde rasch durchgezogen - in Anlehnung an das Motto "speed kills" der ersten schwarz-blauen Koalition: Die Arbeitszeit-Flexibilisierung boxten ÖVP und FPÖ im Eiltempo ohne Begutachtung durchs Parlament, zum großen Unmut der Opposition.

Dicke Luft beim Rauchverbot

Ähnlich ging die Regierung bei der Aufhebung des von der Vorgängerregierung schon beschlossenen Rauchverbots in der Gastronomie vor. Dieser Schritt war eine der zentralen Forderungen der FPÖ in den Koalitionsverhandlungen, auf den vor allem der Raucher Strache gepocht hatte. Trotz parteiinterner Kritik gab Kurz diesem Drängen nach, und das Verbot wurde mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ tatsächlich gekippt.

Querelen wie diese konnte die Regierung mit nahezu im Wochen-Takt vorgestellten Reformvorhaben überdecken. Auch schlugen sich unpopuläre Maßnahmen oder Skandale kaum auf die Umfragewerte der Koalitionsparteien nieder, im Gegenteil. Aufgewartet wurde etwa mit Zuckerln wie dem "Familienbonus", der pro Kind Steuererleichterungen von rund 1.500 Euro und Jahr bringt. Kritik der Opposition, dass dies nur Besserverdiener entlaste, verpufften ungehört und brachte keinen Knick in den türkis-blauen Beliebtheitswerten.

Darauf waren Kurz & Strache besonders stolz

Besonders stolz waren Kurz und Strache auf das Budget 2019, das einen ausgeglichenen Haushalt brachte und die Regierungsspitzen von einer "Trendwende" sprechen ließ. Erreicht wurde das Nulldefizit dann sogar schon 2018, wie sich nachträglich herausstellte - was freilich auch der guten Konjunktur geschuldet war.

Und erst im April 2019 präsentierte die Koalition dann ihre lang angekündigte Steuerreform. Sie soll in Summe 6,5 Mrd. Euro schwer sein. Kernpunkt ist eine Senkung der Lohn- und Einkommensteuer, die gestaffelt in Kraft tritt. Bringen wird sie auch niedrigere Gewinnsteuern für Firmen.

Flüchtlingspolitik

Einen scharfen Kurs fuhr die Koalition von Beginn an in der Flüchtlingspolitik, allen voran Innenminister Herbert Kickl (FPÖ), der sich damit zum Lieblingsfeind der Regierungsgegner aufschwang. Für Kritik selbst innerhalb der ÖVP (u.a. durch den nunmehrigen EU-Spitzenkandidaten Othmar Karas) sorgte etwa der Koalitions-Beschluss, die Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder zu indexieren. Und Kickl forderte bis zuletzt, die Asylanträge "auf Null" runterzufahren. Nebenbei benannte er die Erstaufnahmezentren für Asylwerber in "Ausreisezentren" um.

Mindestsicherungs-Reform

Ebenfalls gegen Ausländer, wenn auch nicht ausschließlich, richtete sich die schon Ende 2018 präsentierte Mindestsicherungs-Reform, die die Bundesländer bis spätestens Mitte 2021 umsetzen müssen. Sie bringt nicht nur für Familien mit mehreren Kindern Einschnitte. Auch Zuwanderer mit schlechten Deutschkenntnissen bekommen nur 65 Prozent der regulären Leistung der künftig wieder "Sozialhilfe" genannten Leistung. Und auch das mit September 2018 in Kraft getretene Fremdenrechtsänderungsgesetz brachte Verschärfungen: Seitdem kann Flüchtlingen bei ihrer Ankunft u.a. bis zu 840 Euro Bargeld abgenommen werden, auch gibt es die Erlaubnis zur Prüfung von Handys, um etwa die Reiseroute prüfen zu können.

Ganz grundsätzlich zog die Regierung zu möglichst vielen Themen die Ausländer-Karte, sei es beim als "Ausländer-Sparpaket" vermarkteten Budget über die erwähnte Indexierung der Familienbeihilfe und das Kopftuchverbot in Kindergarten und Volksschule bis hin zur Mindestsicherung, deren Kürzung auch mit einem hohen Ausländeranteil begründet wurde.

Vorwurf der Umfärbe-Versuche

Für Sand im Getriebe der Koalition sorgte auch die Affäre im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Die Hausdurchsuchung im BVT brachte der blauen Regierungsseite u.a. den Vorwurf der Umfärbe-Versuche ein und bescherte dem Nationalrat einen Untersuchungsausschuss, der bis heute tagt. Im Fokus der Kritik stand auch hier Innenminister Kickl. Und nach einem umstrittenen Schreiben seines Ressorts mit Anweisungen zur Kommunikationsstrategie der Polizei sah er sich mit dem Vorwurf der Einschränkung der Pressefreiheit konfrontiert.

Die vielen "Einzelfälle"

Für immer wiederkehrende Aufregung sorgten auch die sogenannten "Einzelfälle" am äußerst rechten Rand der FPÖ. Aber weder das Aufstellen von Stacheldrähten bei einem Asyl-Quartier im niederösterreichischen Drasenhofen durch den niederösterreichischen FPÖ-Asyllandesrat Gottfried Waldhäusl, das rassistische "Rattengedicht" des Braunauer FPÖ-Vizebürgermeisters oder die Berufung des umstrittenen Malers Odin Wiesingers in den oberösterreichischen Landeskulturbeirat brachten das Fass für ÖVP-Chef Kurz zum Überlaufen.

Selbst die augenscheinliche (wenn auch bestrittene) Nähe der FPÖ zu den als rechtsextrem eingestuften Identitären konnte die Koalition nicht wirklich ins Wanken bringen. Nach öffentlichen Distanzierungen der Parteispitze zeigte sich Kurz zufrieden. Mit den nun aufgetauchten Videos aber dürfte Strache die "rote Linie", von der Kurz immer wieder sprach, nun aber doch überschritten haben.

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