Wie ist es, als Erwachsener bevormundet zu werden?

Paternalismus ist ein Begriff aus Medizinethik, Politik und den Rechtswissenschaften und bezeichnet den vorübergehenden Eingriff in die Selbstbestimmung von Menschen - auch gegen ihren Willen. Die Voraussetzung: Eine Missachtung der Autonomie darf nur zum Besten der Betroffenen geschehenen.

von Liebes Leben - Wie ist es, als Erwachsener bevormundet zu werden? © Bild: Nathan Murrell

Statt Paternalismus kann ich im Folgenden ebenso Maternalismus sagen; von lateinisch "pater" für "Vater" beziehungsweise "mater" für "Mutter". Mit diesen beiden Begriffen werden Situationen benannt, in denen eine Person A, nennen wir sie Anja, die Autonomie von einer Person B, sagen wir: Bea, vorübergehend missachtet. Und bewusst etwas gegen Beas Willen macht. Maternalistisch ist eine Aktion dann und nur dann, wenn sie unter dem Aspekt eines späteren Benefits für Bea geschieht. Nur unter dieser Prämisse darf Anja etwas gegen Beas Willen tun. Gleichsam Bea in ihrem Recht beschneiden, selbst für sich zu entscheiden. Das Recht auf Respekt vor der Autonomie ist ein menschliches Grundrecht. Anja wendet aber keinen mutwilligen Gewaltakt an, sondern agiert im eigentlichen Interesse von Bea, zu dem diese nur aktuell keinen Zugang findet.

Um dieses Handeln besser zu verstehen, beginnen wir bei Peter, der mit dem Rauchen aufhören will, aber es nach zig Anläufen nicht schafft. Seine Frau Angela versteckt neuerdings regelmäßig Zigaretten vor ihm. Sie belügt Peter, wenn er in einem Anflug von Resignation nach dem Verbleib der Glimmstängel fragt. Angela macht das nicht, um ihm etwas vorzuenthalten, sondern um ihn bei seiner Raucherentwöhnung zu unterstützen. Dabei nimmt sie Peters Wutanfälle in Kauf und vertraut darauf, dass er ihr in Zukunft dankbar sein wird. Mit Paternalismus werden Vorgehensweisen benannt, in denen eine Person A die Autonomie einer Person B vorübergehend ganz bewusst missachtet. Ethisch gerechtfertigt ist das jedoch nur dann, wenn es nicht im Eigeninteresse, sondern zum Vorteil der betroffenen Person ist. Nur unter dieser Voraussetzung kann Person A etwas -eben paternalistisch -gegen Person Bs Willen tun, wodurch ihre Selbstbestimmung vorübergehend übergangen wird.

Das Recht auf Respekt vor der Autonomie ist ein menschliches Grundrecht. A wendet keinen mutwilligen Gewaltakt an, sondern agiert im eigentlichen Interesse von B. Hintergrund dessen kann Person As Wissensvorsprung sein, den sie gegenüber der Person B hat und daher über Bs Kopf hinweg entscheidet. Ein sehr aktuelles Beispiel ist der paternalistische Akt des Staates, anlässlich einer Pandemie seine Bürgerinnen und Bürger einem Lockdown oder einer kollektiven Impfung zu unterziehen. Die Menschen werden für das übergeordnete Ziel ihrer Gesunderhaltung und zur Schadensvermeidung in ihrer Freiheit beschnitten: Das ist nur dann "ethisch sauber", wenn es zum Wohlergehen der Menschen geschieht. In der Covid-19-Pandemie ist Paternalismus zum fast schon alltäglichen Staatsakt geworden.

Dabei fühlen sich die Menschen in eine frühere Entwicklungsstufe zurückversetzt, wenn ihnen auf einmal für jedwede Situation des Alltags Vorschriften gemacht werden. War früher Händeschütteln ein klares Höflichkeitsritual, wird dies nun fast als Anschlag auf die Gesundheit bewertet. Allerdings unter der Prämisse, nicht übergeordnete (verborgene) Ziele klammheimlich in die Gesellschaft einzuschleichen. Sondern um uns vor einer schlechten, weil krank machenden Nähe zu bewahren. Was logisch schlüssig klingt, fühlt sich jedoch nicht ganz richtig an. Vor lauter Expertentum und medialer Reizüberflutung verwirren uns immer neue Nachrichten und Theorien, Erklärungsversuche und Aufklärungsstrategien, was inhaltliche Kohärenz und sozialen Zusammenhalt verhindert. Und fatalerweise zu einem zunehmenden Schwarz-Weiß-Denken führt. Und einer Spaltung der Gesellschaft in Gute und Böse, Helden und Dämonen, maligne Aggressoren und wehrlose Opfermenschen.

Was hier gewaltig fehlt, ist die Vertrauenswürdigkeit der paternalistischen Instanzen: Dann würde sich der Eingriff in die Selbstbestimmung zwar nicht angenehm, aber anders als jetzt anfühlen.