Blick zurück mit etwas Zorn

Weltweit sterben die Dinosaurier der Zirkuskunst. Doch der Österreicher Bernhard Paul pilotiert das Poesie-Großunternehmen Roncalli zum Dauererfolg.

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Zirkus - Blick zurück mit etwas Zorn

Die größte Schau der Welt war einmal: Seit 1919 hatte der "Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus“ der Branche auf allen Kontinenten die Maßstäbe diktiert. Wer nicht mit Millionenmarketing prunken konnte wie die Amerikaner, brüllte umso lauter aus den Lautsprechern auf seinen vier Wohnwagen; wer sich keine 40 Elefanten leisten konnte, tingelte mit wenigstens einem depressiven Dickhäuter durch die Pampa und ließ sein ausgemergeltes Exotentrüppchen in der Pause für Geld sehen. Jetzt verklingt "The Greatest Show on Earth“ nach 146 Jahren: Ringling Bros. sperrte am 21. Mai, nachdem man auf Druck von Tierschutzorganisationen die Elefanten über Nacht in den Ruhestand versetzt hatte. Die folgenden Ovationen waren fast so stürmisch wie der Publikumseinbruch.

Freies Poesie-Universum

Einen Tag vor dem branchenhistorischen Leichenbegängnis, am 20. Mai, feierte der Österreicher Bernhard Paul seinen 70. Geburtstag. Außerdem feierte er 75 Millionen Klicks zu einer Pressemeldung des von ihm 1975 gegründeten und seither geleiteten Zirkusunternehmens: Roncalli verzichtet auf die Pony-Truppe, weil das Nobelunternehmen nicht mehr auf die grüne Wiese, sondern in die Stadtkerne eingeladen wird. Damit ist im Poesie-Universum kein einziges Tier mehr zwangsbeschäftigt. "Mir muss kein Tierschützer sagen, dass ein Pferd neben der Straßenbahn schlecht aufgehoben ist“, sagt Paul. "Mit diesen Figuren, die am liebsten der Rentnerin den letzten Dackel wegnehmen würden und die mich aufgefordert haben, keine Bratwürste zu verkaufen, habe ich nichts zu tun.“ Roncalli sei einfach nie ein Tierzirkus gewesen, verweist er auf das Gründungskonzept, das Poesie und Theateratmosphäre mit akrobatischem Anspruch über das Getöse stellte. "Wir waren die Ersten, mussten nichts über Nacht abschaffen. Wir hatten nie Exoten. Selbst die Pferde wurden im Lauf der Jahre immer kleiner. Jetzt habe ich unsichtbare Pferde.“

© News Reich Sebastian Historische Zelte, Poesie und Atmosphäre statt bombastischen Manegengetöses

Während Dinosaurier wie Hagenbeck und Sarrasani den Ringling Bros. schon vorausgestorben sind, geht es Roncalli "so gut wie nie zuvor“. Die Tour, die im Herbst auch nach Österreich führte, zieht wieder gut verkauft durch deutsche Metropolen. Wobei die Winterpause, an der andere fast zugrunde gehen, für Roncalli die lukrativste Zeit des Jahres ist: "Man muss Kaufmann und Künstler sein“, verweist Paul auf das Varieté in Düsseldorf, den Hamburger Weihnachtsmarkt, den Berliner Weihnachtszirkus und das mobile Spiegelzelt mit akrobatischen Kochshows. Ein TUI-Kreuzfahrtschiff sticht, von Roncalli mit einem kompletten Zirkusprogramm bemustert, mit 6.000 Passagieren in See.

Soeben hat man zum riesigen Kölner Firmengelände 20.000 Quadratmeter zugekauft. Dort entsteht der "Boulevard of Broken Dreams“, ein Stück rekonstruierter historischer Altstadt, das Paul lang nicht verwirklichen konnte. Seit Jahrzehnten lagert in Köln entsorgungsgefährdetes Kulturgut: die Einrichtungen geschleifter Wirtshäuser und Geschäftslokale, Ringelspiele und Salonwagen. Mit diesen Pretiosen wollte er Teilen des Wiener Praters das Flair zurückgeben. Er hatte den Wettbewerb schon gewonnen, da vergab Vizebürgermeisterin Laska den Auftrag an Freunde. Sie stürzte nicht zuletzt über das horrible Resultat. "Der Eingangsbereich hat Millionen gekostet! Für eine gebastelte Styroporkulisse, die man nicht einmal als Filmkulisse verwenden könnte!“

Zorn über Heller

Altersbedingte Abgeklärtheit kann man ihm zum Jubelfest auch anderweitig nicht attestieren. 1975 quittierte der gebürtige Niederösterreicher seinen Job als Art Director beim jungen "Profil“, nannte sich Zippo, der Clown, und gründete einen Zirkus. Dass André Heller in so gut wie jeder aushäusigen Roncalli-Biografie als Mitbegründer namhaft gemacht wird, löst beim Prinzipal eine hörenswerte Übellaunigkeitsattacke aus. "Er kam in der allerletzten Gründungsphase zu mir und wollte mitmachen. Er hat mir Gott und die Welt versprochen und nichts gehalten, sich aber dann, als es losgegangen ist, einen roten Overall mit Bügelfalte angezogen und sich wichtig gemacht. Dann ist er verschwunden. Wir waren vor 41 Jahren genau drei Monate zusammen. Aber in der Wahrnehmung ist er immer noch da. Warum redet man nicht über seine missglückten Projekte? Ich will den Namen nicht mehr hören!“ Dass der Poet in seiner Biografie sein Versagen reuevoll einbekannte, mildert den Paul’schen Groll nicht.

© News Reich Sebastian Prinzip Roncalli: Akrobatik vom Feinsten, aber als Kunstwerk mit Theateranspruch

Auch Fragen zum Wiegenfest begegnet er unwirsch. "Das macht man nicht“, verbittet er sich vorzeitige Glückwünsche unter Verweis auf überlieferten Manegenaberglauben. "Außerdem ist das ein Tag wie jeder andere. Man kann nichts dafür, und es ist kein Verdienst. Ich bin im Hochbetrieb, ich mache mein Ding.“ Begleitend macht er sich einmal jährlich zur Ayurveda-Kur davon, schwimmt, ganz gleich, wo er gerade Station macht, täglich seine Runden und schwingt, statt zu laufen, diszipliniert die Walking-Stöcke.

Die Clownmaske, die ihm der Schöpfer auch ohne Schminke und Nasenzubehör ins Angesicht gemeißelt hat, nimmt er demnächst wieder in Kurzbetrieb: Eine deutsch-österreichische Filmdokumentation zum Phänomen Roncalli stellt das Alter Ego des Gründers in den Mittelpunkt der Ereignisse. Schon in den Achtzigerjahren war Roncalli Gegenstand einer ARD-Serie, damals wurde Paul noch von Günther Maria Halmer verkörpert. Jetzt ist die Ideal- und Alleinbesetzung am Werk.

»Ich gebe eine Überdosis an Herz, Poesie und Atmosphäre«

Epigonen gab es viele, nachdem die Branche das Roncalli-Konzept zunächst verlacht hatte. Der markanteste, der Cirque du Soleil, ging kürzlich pleite und wurde von Chinesen aufgefangen. Klar, sagt Bernhard Paul. "Wenn man mit vier identisch geklonten Shows auf Tournee geht, fehlt die Seele. Das merken die Leute, so, wie sie spüren, dass ich ehrlich, aus ganzem Herzen Zirkus mache. Wir geben eine Überdosis an Herz, Ästhetik und Poesie.“ So können er und die einer italienischen Zirkusdynastie entstammende Ehefrau Eliana den Kindern eine wirtschaftlich gut unterfütterte Märchenwelt hinterlassen. Die Töchter Vivi und Lilli sind schon avancierte Akrobatinnen, Adrian, der Sohn, managt ein Roncalli-Subunternehmen.

Vermisst er nichts im Leben? Doch, die politische Sicherheit der Kinderjahre. Bei Stifterfiguren wie Leopold Figl, Julius Raab und Theodor Körner habe man sich in guten Händen gewusst, anders als in der obwaltenden Stil- und Prinzipienlosigkeit. Österreichischer Staatsbürger ist er immer geblieben, aber die Wiener Wohnung bezieht er nur als Gast. Woran sich auch nichts ändern wird.

Und ohne Manfred Deix, den Freund aus Studientagen, ist die Welt nicht mehr, was sie war. Am Ende telefonierten sie stundenlang, wenn der Schwerkranke um drei Uhr früh nicht schlafen konnte. "Er ist an der Welt verzweifelt. Es ist ihm alles auf den Arsch gegangen“, sagt Bernhard Paul.

Das ist ein Nachruf, wie ihn nur ein Großer wagen kann.