Aufgeschmissen

Sebastian Kurz hat den Freiheitlichen Hunderttausende Wähler abgenommen. Das hat die ÖVP stark gemacht. Karl Nehammer bemüht sich, sie bei Laune zu halten. Bisher ist es ihm jedoch nicht gelungen.

von Kolumne - Aufgeschmissen © Bild: Privat

In der Volkspartei pflegt man noch hin und wieder, eine Wallfahrt nach Mariazell durchzuführen. Jetzt hätte es wieder einmal einen Grund dafür gegeben: Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat angekündigt, sich um eine zweite Amtsperiode zu bemühen. Das erspart es den Bürgerlichen um Bundeskanzler Karl Nehammer, einen eigenen Kandidaten aufzustellen und eine Niederlage zu riskieren. Die Schmach vom letzten Mal ist nicht vergessen. Andreas Khol schied damals in der ersten Runde aus, der ÖVP-Mann musste sich mit 11,1 Prozent bzw. Platz fünf begnügen. Geschichte mag sich nicht wiederholen, gegenwärtig gibt es jedoch niemanden in der Partei, dem von vornherein gute Chancen auf das höchste Amt im Staat zugeschrieben werden könnten.

Die Bundespräsidentenwahl wird für die ÖVP andererseits aber auch so eine Herausforderung. Nehammer wünscht Van der Bellen zwar "alles Gute", von einer Wahlempfehlung sieht er jedoch ab. Das wäre zu viel Parteinahme - für den Amtsinhaber und gegen die FPÖ, die eine Gegenkandidatur vorbereitet.

Aus türkiser Sicht handelt es sich um einen Drahtseilakt: Die Partei darf es sich weder mit Alexander Van der Bellen verscherzen, mit dem sie im Regierungsalltag zusammenarbeiten muss, noch darf sie dies mit potenziellen FPÖ-Wählern tun. Sie sind entscheidend für die Volkspartei. Das hat Einfluss auf sehr vieles, was sie macht. Bei fast allen Fragen, die öffentlich behandelt werden, geht es für sie darum, Freiheitliche anzusprechen. Allein: Es will ihr nicht mehr gelingen.

Richtung "Vor-Kurz-Niveau"

Die Volkspartei nähert sich "Vor-Kurz-Niveau". Gemeint ist damit ein Wählerzuspruch, der Richtung 20 Prozent geht. In diesem Bereich lag sie auch, als Andreas Khol bei der Bundespräsidentenwahl im April 2016 unterging. Ein Viertel der ÖVP-Anhänger gab damals dem freiheitlichen Kandidaten Norbert Hofer den Vorzug. Nur ein Bruchteil unterstützte Van der Bellen. Sebastian Kurz zog seine Lehren daraus und ging als Parteichef dazu über, FPÖ-Wählern ein Angebot zu machen.

Mit Erfolg: Die "Schließung der Balkanroute" für Flüchtlinge, von der er immer wieder sprach, wirkte in Verbindung mit Slogans wie "Stopp der Zuwanderung ins Sozialsystem". Kurz gelang es, Wählerströme umzudrehen. Bei der Nationalratswahl 2017 wechselten laut einer Analyse der Sozialforschungsinstituts SORA 168.000 Wähler von der FPÖ zur ÖVP. Zwei Jahre später taten es infolge der Ibiza-Affäre sogar 258.000, während es umgekehrt so gut wie keine Bewegung mehr gab. Allein diese Viertelmillion entsprach gut fünf Prozentpunkten. Ohne sie wäre die Volkspartei nie und nimmer auf 37,5 Prozent gekommen.

»Die Bundespräsidentenwahl wird für die ÖVP ein Drahtseilakt: Sie darf es sich weder mit Van der Bellen noch mit potenziellen FPÖ-Wählern verscherzen«

Allmählich sickert, wie groß der Preis dafür ist. Ein erheblicher Teil der gewonnenen Wähler hat sich nach dem Rückzug von Kurz enttäuscht wieder abgewendet. Glück im Unglück für Nachfolger Karl Nehammer ist, dass dies bisher nur in Umfragen zum Ausdruck kommt. Irgendwann wird jedoch gewählt, und bis dahin sollte ihm irgendetwas einfallen. Im Klartext: Ohne Wähler, die Kurz zur ÖVP gelockt hat, wird es schwer bis unmöglich, wieder auf Platz eins zu kommen und weiterhin den Kanzler zu stellen. Nehammes Job ist es, das zu checken.

Er mag sich bemühen, bisher deutet jedoch nichts darauf hin, dass es ihm gelingen könnte. Die einfachste Übung ist es, Unpopuläres zu unterlassen. Das hat Nehammer sehr schnell realisiert. Wenige Tage, nachdem aus seinen eigenen Reihen heraus eine Neutralitätsdebatte eröffnet worden war, erklärte er diese auch schon wieder für beendet. Neun von zehn Österreichern hängen an der Neutralität. Also stellte Nehammer nach einem Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vergangene Woche in den Vordergrund, "aktive Neutralitätspolitik" zu betreiben. Unabhängig davon, was im Hintergrund läuft, ist es mit Blick auf das Meinungsklima im Land unheimlich wichtig für ihn, das zu betonen. Wenigstens hier könnte er den Freiheitlichen vielleicht ein bisschen Wind aus den Segeln nehmen.

Preise müssten runter

Schwieriger wird es in Bezug auf die Teuerung, die von den Österreichern als größtes Problem angesehen wird. Damit eine Lösung von einer Mehrheit goutiert wird, wären wohl Maßnahmen nötig, die dazu führen, dass Preise in Supermärkten und auf Tankstellen, die permanent zu sehen sind und die daher tief ins Bewusstsein einsickern, deutlich sinken. Durch eine bloße Steuerreduktion würde es nur vorübergehend dazu kommen. Und durch Einmalzahlungen gar nicht; sie erleichtern es den Haushalten lediglich, mit schmerzlichen Preissteigerungen fertigzuwerden. Das ist ein kleiner, aber relevanter Unterschied.

Zumindest ebenso schwierig ist es für Nehammer bei allem, was mit Flucht, Migration und Integration zu tun hat. Da ist er Opfer eines Kurses, den Kurz verfolgt hat und den er selbst jahrelang mitgetragen hat. Insofern muss er einem nicht leidtun. Aber das würde ihm ohnehin nichts bringen.

In der Weihnachtszeit 2021 erteilte Karl Nehammer der Forderung des Papstes eine Absage, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Österreich könne nicht mehr, erwiderte er: "Das ist keine Frage der bösen Absicht, sondern auch der Machbarkeit." Zwei Monate später sah er sich gezwungen, sich selbst zu widersprechen: Für Frauen, Kinder und Männer aus der Ukraine geht schier Unbegrenztes über das hinaus, was bisher machbar gewesen sein soll. Versuche, das zu kaschieren, indem von "Heimatvertriebenen", "Nachbarschaftshilfe " und dergleichen gesprochen wird, ändern wenig daran: Ehemaligen FPÖ-Wählern, die man 2017 und 2019 mit ganz anderen Botschaften überzeugt hat, kann man das im besten Fall erklären. Sie jedoch zu begeistern dafür, damit sie noch einmal Türkis wählen, ist eine Nuss, die kaum zu knacken ist.

Karner auf Augenhöhe mit Kickl

Also wird ÖVP-Innenminister Gerhard Karner tagein, tagaus ausgeschickt, eine "Aktion scharf" gegen Schlepper sowie "Asyl-Missbrauch" durch Nicht-Ukrainer zu bewerben. Das sind die einschlägigen Klassiker, die bisher immer gewirkt haben. Bloß: Gegenwärtig gehen sie unter. Und überhaupt: Karner ist nur bedingt tauglich dafür, eine Masse zu beeindrucken. Im jüngsten APA/OGM-Index erklärten gerade einmal 15 Prozent, sie würden ihm vertrauen. Das waren so wenige wie bei Herbert Kickl (FPÖ). Zwar wird Kickl auf der anderen Seite viel größeres Misstrauen entgegengebracht als Karner, zufrieden kann die ÖVP damit aber nicht sein. Zumal es um ihr Kernthema geht, kommen seine Werte einer Belastung gleich.

Die Partei ist eher nur zur Schadensbegrenzung in eigener Sache unterwegs. Stichwort Einbürgerungen: Österreich zählt zu den Staaten, die besonders zurückhaltend sind dabei. Mitte Mai stellte sich ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner gegen eine Forderung aus der Arbeiterkammer, den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Ihr Wert würde dadurch geschmälert werden, erklärte sie. Schließlich übernahm auch Bundespräsident Van der Bellen die AK-Forderung. Ihm antwortete Nehammer, dass das mit der Volkspartei nicht möglich sei.

Diskussion zwecklos: Bisherige Politik hat bei einer Bevölkerungsmehrheit zur Überzeugung geführt, dass man bei Einbürgerungen gar nicht streng genug sein kann, weil man sonst nur noch mehr Zuwanderer und damit auch Probleme anlocken würde. Das ist so fest verankert, dass mit Argumenten wie jenem, dass es sich in Wirklichkeit um einen Schritt handeln könnte, der Integration fördert, von heute auf morgen kein Durchkommen ist. Also stellt man von allem Anfang an klar, dass alles bleiben soll, wie es ist.

Das hätte Nehammer wohl schon vor einem Jahr unter Kurz getan. Heute aber ist der Druck für ihn viel größer: Zumal er keine Absicht zeigt, die ÖVP inhaltlich neu auszurichten und damit neue Zielgruppen zu erschließen, kann er nur schauen, wie er wenigstens ein paar Ex-FPÖ-Wähler an die Partei binden könnte, um einen Totalabsturz zu verhindern.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at