Arne Dahl: "Alles, von dem wir dachten, dass wir es für immer begraben haben, ist jetzt wieder da"

Der Literaturwissenschaftler Jan Arnald lehrt seit den Neunzigerjahren als Arne Dahl das Grauen. Politisch korrekte Tendenzen lassen ihn kalt. Er verfolgt konsequent seinen Weg. Mit News sprach er über seinen aktuellen Roman, "Null gleich eins", den Fall Kampusch und die Rückkehr barbarischer Zeiten.

von Arne Dahl © Bild: Thron Ullberg

Die detailfrohe Beschreibung seiner Bluttaten brachte Arne Dahl das Attribut "Leonardo da Vinci in Mordangelegenheiten". So nannte ihn das Feuilleton der deutschen "Welt". In seinem jüngsten Roman, "Null gleich eins"*, wird der 59-jährige Schwede, der sich mit dem bürgerlichem Namen Jan Arnald anreden lässt, seinem Ruf gerecht. Etwa mit folgender Szene: "Nachdem das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist, arbeitet sich das Messer weiter voran. Zur Brust, zum Rumpf, dann ein letztes Mal zurück ins Gesicht." Und, Absätze später: "Die Hand in die Eingeweide gleiten zu lassen, entlang der präzisen Schnitte durch die Haut-, Muskel- und Bindegewebsschichten, hat etwas unvergleichlich Erbauliches. Als würde man ans Unterbewusste rühren und in dem herumwühlen, was die Menschlichkeit verbergen will. Um dann das vollendete Organ in den Händen zu halten. Das ist sublim." Manche mögen sich fragen, was in einem Kopf, der solches schafft, vorgeht. Gibt es denn keine Grenzen des Grauens? News fragte den Schöpfer selbst.

An jedem 5. des Monats wird eine Leiche gefunden. Molly Blom und Sam Berger sind gefordert. "Null gleich eins"* von Arne Dahl ist der fünfte Fall des Ermittlerduos.

Ein Gespräch per Zoom wurde vereinbart. Und kaum zu glauben, dass der sympathische Herr, ein freundlich vom Bildschirm grüßender studierter Literaturwissenschaftler, dergleichen in die Welt befördert.

Die Auskunft kommt sachlich: "Meine Regel ist: Alles ist erlaubt, wenn es einen Sinn ergibt. Aber man darf nichts schreiben, wenn man damit nur schockieren will. Manchmal ist es notwendig, bis ins Extreme zu gehen. In diesem Buch ist das der Fall." So kommentiert er die aktuelle Neuerscheinung "Null gleich eins".

Wie im Fall Kampusch

An jedem 5. eines Monats wird eine Leiche gefunden, vier werden es am Ende des Romans sein. Das Problem: Keines der Opfer wurde vermisst, denn sie waren seit Jahrzehnten verschwunden. Privatdetektiv Sam Berger hat einen Verdacht. Er hält die Toten für Opfer eines Entführers, der sie nun im Monatsrhythmus entsorgt. "Wie im Fall Kampusch?", fragt sich der erfahrene Mann. War der Fall Kampusch tatsächlich die Inspiration für den Roman? Das sei nicht das richtige Wort, erklärt der Meister. Er habe sich für extreme Entführungsfälle interessiert, die nichts mit dem organisierten Verbrechen zu tun hätten. So sei er auf Natascha Kampusch gekommen. "Als ich zum ersten Mal davon gehört habe, hätte ich so etwas nie für möglich gehalten. Aber mit fortschreitendem Alter erkennt man, dass alles Mögliche passieren kann, besonders in kriminellen Belangen."

»Alles, von dem wir dachten, dass wir es für immer begraben haben, der Faschismus und der Superkapitalismus, ist jetzt wieder da«

Die Geschichte selbst geht weit über diesen Fall hinaus. Denn sein Täter im Roman verfolgt einen Zweck, der dem Kidnapper Priklopil um mehrere Etagen zu hoch gewesen wäre: Er will ewig leben, was nur in einem funktionierenden Körper möglich ist. Gesunde Menschen sollen ihm daher als Ersatzteillager dienen. "Das ist alles sehr radikal dargestellt, aber ich war auch selbst etwas irritiert davon, wie sich diese Forschung heute entwickelt", kommentiert Arnald seinen Plot.

Grausame Zeiten

Für ihn gleichen die Morde Rembrandts Post-mortem-Bildern. "Und in gewisser Hinsicht leben wir heute auch wieder in sehr grausamen Zeiten."

Ja, vor zehn Jahren, da schien die Welt mitsamt ihren Demokratien auf der sicheren Seite. "Alles war irgendwie cool, und jetzt ist die Gewalt auf den Straßen zurück", kommt Arnald auf die Umstände zu sprechen, die ihn zu Horrorszenarien inspirieren. "Wenn jemand wie Donald Trump in Amerika Präsident werden kann, ist alles möglich, da kann alles passieren. Wir haben auch noch die Klimakrise und die Pandemie. Und alles, von dem wir dachten, dass wir es für immer begraben haben, der Faschismus, der Superkapitalismus, ist jetzt wieder da", stellt er fest. Kriminalliteratur könne die Ängste einer Zeit in einem Buch sammeln und am Ende eine Art Katharsis vermitteln. "Und so funktionieren meine Bücher."

Die Leserschaft beglaubigt das Gelingen seit Längerem: Mehr als 3,5 Millionen Bücher hat Arnald alias Dahl verkauft, egal, wer seine Ermittler sind. Den Durchbruch verschaffte ihm 1998 die 13-köpfige Stockholmer Spezialtruppe A-Team. Elf Fälle ließ er sie zwischen 1999 und 2008 lösen, acht von ihnen wurden erfolgreich als Serie verfilmt und via ZDF und Netflix ausgestrahlt. Sein nächster Coup waren vier Fälle der Opcop, einer Sonderheit, die sich aus Polizisten mehrerer europäischer Länder formierte. 2016 reduzierte er seine Ermittler auf das Paar Molly Blom und Sam Berger, zwei ambitionierte Polizisten, die auch im aktuellen Roman als Privatdetektive ermitteln.

Ihre Geschichten hätten im Vorjahr zur nächsten Fernsehserie werden sollen, doch das hat die Pandemie verhindert.

Das Gespräch wendet sich dem Unvermeidlichen zu. Ja, das Virus hat ihn im Vorjahr ereilt, kurz bevor er sich impfen lassen konnte. Und der schwedische Weg durch die Pandemie? "Der habe zu Beginn Leben gekostet, aber den Menschen die Isolation erspart", resümiert er.

Themenwechsel zurück zur Literatur. Håkan Nesser, Henning Mankell und er selbst machten in den 1990er-Jahren den Kriminalroman aus Skandinavien in der Welt bekannt. Die Zahl der gedruckten Bluttaten steigt aber stetig. Immer mehr wollen den Großen gleichen. Beunruhigt das nicht? Leidet das Genre darunter?

© Getty Images/David Levenson "Alles ist erlaubt, wenn es einen Sinn ergibt. Aber man darf nichts schreiben, wenn man damit nur schockieren will." Arne Dahl steckt die Grenzen ab

Viele hätten entdeckt, dass man mit dem Skandinavien-Krimi Geld verdienen könne, bedauert Arnald. "Die meisten schreiben heute ohne jegliche literarische Ambition. Sie kommen aus der Geschäftswelt, aus der Werbung oder auch aus dem Journalismus, manche sind Anwälte oder Ärzte. Die Szene hat sich verändert. Der Markt ist überflutet mit skandinavischen Krimis. Man will einen kommerziellen Erfolg, damit man finanziell abgesichert ist. Ich bin sicher, dass die Leser das bemerken werden. Die große Menge an Büchern hat nicht mehr die Qualität von früher. Es geht nicht mehr um Literatur, es geht ums Geschäft."

Auch bei den Preisen, die vergeben werden, zähle nicht mehr die Qualität, sondern nur noch die Anzahl der verkauften Exemplare.

Immer dümmer

Nächstes Problem: die politische Korrektheit. "Ich bin kein Gegner davon, das Problem ist, dass dieses Thema alles überschattet." Zeitungen, auch Kulturmagazine, hätten offensichtlich keine ergiebigeren Themen mehr. "Das scheint das einzige zu sein, worüber wir heute noch reden."

Die Situation dreht sich ins Drohende, wenn sogar am Londoner Globe-Theater Studenten vor "Romeo und Julia" gewarnt werden, denn der harte Stoff könnte sie traumatisieren. "In den vergangenen 20 Jahren scheint es, als wäre jeder etwas dümmer geworden. Früher, als ich noch studiert habe, konnte man über alles diskutieren. Wenn ich etwas von meinem akademischen Leben gelernt habe, dann das, dass man sehr hart aneinandergeraten kann, ohne einander zu hassen." Nun dürfe man nicht einmal mehr eine eigene Meinung haben.

"Wer ganz korrekt sein will, müsste die gesamte Literatur aus dem 19. Jahrhundert abschaffen", meint Arnald gelassen. Denn da gehe es nur um Themen, die man heute nicht mehr anrühren sollte. Also keine Freude mit der Cancel Culture?

Die sei gefährlich, denn sie enge das Bewusstsein ein. "Die Menschen werden immer mehr zu Maschinen wie in diesen amerikanischen Superhero-Filmen. Es ist sehr irritierend, dass auch so viele Erwachsene das sehen. In Schweden", fährt er fort, "haben wir den Vorteil, dass bereits in den vergangenen 20 Jahren Männer und Frauen gleichmäßig in den Funktionen verteilt waren, in der Politik und auch in der Kultur. Vielleicht sind wir dadurch den meisten Ländern etwas voraus."

Allein: Das ändere nichts am immer gleichen Diskurs, und die Folgen seien beklagenswert. "Auch als Schriftsteller ist man heute sehr eingeschränkt. Die Freiheit der Kunst war immer sehr wichtig, man durfte alles sagen. Aber das ist jetzt nicht mehr der Fall."

Er gedenke aber nicht, sich einschränken zu lassen, dafür sei er schon zu lange im Geschäft. "Ich habe vor 30 Jahren debütiert. Man weiß, was ich schreibe, also kann ich auch weiter schreiben, was ich will." Das kann dem Genre auf keinen Fall schaden.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 08/2022.

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