Die neue Lust am guten Leben

60-Stunden-Wochen? Burn-out? Die eigenen Kinder nur vom Hörensagen kennen? Immer mehr junge Menschen brechen mit den toxischen Arbeitsgewohnheiten ihrer Eltern und bestimmen selbst, wie sie arbeiten wollen. Über eine Generation, die nichts zu verlieren und deshalb viel zu gewinnen hat. Und einen Trend, der gekommen ist, um zu bleiben.

von Arbeit Zukunft © Bild: iStockphoto

Sara Weber schildert ihr Erweckungserlebnis so: Im Fernsehen liefen Bilder des beginnenden Ukraine-Kriegs. Sie fühlte sich wütend, traurig und machtlos. Dann, beschreibt sie, "setzte ich mich reflexhaft an den Schreibtisch, um einen Workshop vorzubereiten. Und dachte mir: Was mache ich hier eigentlich? Alles um uns scheint kaputtzugehen, und wir arbeiten einfach weiter." Weber, 35, war damals Chefredakteurin des Karriereportals LinkedIn in Deutschland. Kurz darauf kündigte sie ausgebrannt ihren Job. Und schrieb stattdessen ein Buch. In "Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?" setzt sie sich mit dem Arbeitsethos einer Generation auseinander, für die Sechstagewochen und Zehn-Stunden-Tage nicht mehr erstrebenswert sind. "Früher war das Versprechen von Arbeit klar: Wer hart arbeitet, wird es mal besser haben. Wenn ihr auf den Markt vertraut, gibt es Wohlstand für alle. Mein Haus, mein Auto und so. Dieses Versprechen funktioniert nicht mehr. Junge Menschen arbeiten und arbeiten aber können es sich trotzdem nicht leisten, eine Immobilie zu kaufen, weil alles viel zu teuer geworden ist."

Großes Kündigen

Die Schlagworte gehen seit einiger Zeit um die Welt: "The Great Resignation", das große Kündigen, erschütterte 2021 die USA. Insgesamt 47 Millionen Menschen gaben binnen eines Jahres ihre Jobs auf, um etwas Neues auszuprobieren. Junge überarbeitete Chinesinnen und Chinesen drückten ihren Protest durch "Tangping" aus, Herumliegen im wahrsten Sinne des Wortes, endlich einmal raus aus der Leistungsmaschinerie und nichts tun. Und im Herbst 2022 wurde "Quiet Quitting" zum Social-Media-Trend: Angestellte geben nicht mehr 150 Prozent, sondern leisten nur mehr Dienst nach Vorschrift.

Auch in Österreich hat sich die Arbeitskultur geändert, das beweisen zahlreiche Untersuchungen. Nicht nur bei den unter 40-Jährigen. Die Europäische Wertestudie, die während der vierten Coronawelle im Dezember 2021 erhoben wurde, zeigt, dass der Stellenwert von Arbeit bei den Österreicherinnen und Österreichern deutlich zurückgegangen ist. Nur mehr 79 Prozent halten sie für sehr wichtig oder wichtig, 1999 waren es noch 93 Prozent. Parallel dazu steigt der Stellenwert von Freizeit. Und die Hälfte der Befragten einer Studie des Marktforschungsinstituts Spectra gaben im Juni 2022 an, für die Viertagewoche (bei unveränderter Gesamtarbeitszeit) zu sein. Unter den 15-bis 29-Jährigen waren es sogar zwei von drei.

Die Unternehmerin Beatrix Skias holte jüngst zwei neue Mitarbeiter an Bord. Ihre Erkenntnisse aus dem Bewerbungsprozess: "Die Bewerber sondieren länger und schauen ganz genau, ob das Angebot passt. Ich habe bei den Bewerbungsgesprächen die ganze Bandbreite erlebt. Jene, die gleich zu Beginn nach der Arbeitszeit fragen und wissen wollen, ob sich der Yogakurs und Zeit für den Freund in der Schweiz eh mit der Arbeitszeit vereinbaren lassen. Und jene, die unbedingt wollen und auch schon im jungen Alter mit ihren Fähigkeit sehr weit sind." Generell, sagt Skias, Gründerin der PR-Agentur skias. strategy + relations, hätten sich die Erwartungen der Mitarbeiter verändert. "Sie erwarten sich viel Flexibilität. Wichtig ist mir, dass man sich an die vereinbarten Regeln hält und das Leistungspensum nicht leidet. Aber die Spielregeln werden ganz klar von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mitbestimmt."

Selbstbewusstsein

Das Selbstbewusstsein, mit dem vor allem junge Arbeitnehmer für bessere Work-Life-Balance eintreten, irritiert viele Ältere. Was wurde aus dem Leistungsprinzip? Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft, wenn das Berufsleben plötzlich rund um private Bedürfnisse gebaut wird und die Mitarbeiter die Regeln vorgeben, nicht die Chefs? Wo sind der Biss und der Leistungswille früherer Generationen?

Dabei haben Millennials und Generation Z, nach 1980 geborene Menschen also, die Skepsis gegenüber einem Lebensmodell, das Erwerbsarbeit über alles stellt, nicht erfunden. Rainer Eppel, Ökonom am Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo, sieht einen langfristigen Trend zu kürzeren Arbeitszeiten. "In den letzten 20 Jahren hat sich die durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche reduziert. Zum einen, weil immer mehr Frauen berufstätig sind, viele davon auf Teilzeitbasis. Zum anderen aber auch, weil die Vollzeitbeschäftigten weniger Stunden arbeiten. Darin sieht man durchaus auch den Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten."

Empirische Untersuchungen, wonach die "Lust an der Arbeit" generell abgenommen hätte, lägen nicht vor, heißt es vonseiten des AMS. Aber: Der Trend zu Teilzeitarbeit sei eindeutig, hauptsächlich -aber nicht nur - bei Menschen mit Kinderbetreuungspflichten. Bei Personen ohne Kinderbetreuungspflichten arbeiten immerhin 13 Prozent der Männer im Alter von 25 bis 49 Jahren in Teilzeit, bei den Frauen sogar 27,6 Prozent. Aus der Arbeitsmarktbeobachtung lasse sich auch ableiten, dass "Themen wie Work-Life-Balance, Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder der Wunsch nach sinnstiftender Arbeit im öffentlichen Diskurs derzeit stark präsent sind. Bei viele Menschen, insbesondere auch bei jüngeren, dürfte die Covid-Periode dazu geführt haben, ihre beruflichen Aktivitäten neu zu reflektieren."

Wertewandel

Wifo-Ökonom Eppel sieht bei den Jungen einen regelrechten Wertewandel, was die Bedeutung von Arbeit betrifft. "Sie sind nicht weniger leistungsbereit, aber das Leben abseits der Erwerbsarbeit wird zunehmend wichtig. Die Geschlechterleitbilder haben sich zum Beispiel verändert. Immer mehr Eltern wollen sich die Erwerbsarbeit und die unbezahlte Care-Arbeit partnerschaftlich aufteilen. Die Corona-Zeit hat diesen Wertewandel noch einmal beschleunigt. Die jungen Menschen haben die multiplen Krisen der letzten Jahre stark gespürt, blicken teilweise sehr pessimistisch in die Zukunft und wägen angesichts dieser Unsicherheit ihre Prioritäten und Wertvorstellungen ab. Nur mehr für die Erwerbsarbeit zu leben -oder das Leben aufzuschieben -, macht für manche in dieser Situation keinen Sinn."

Diese neue Carpe-Diem-Mentalität muss man sich freilich leisten können. Menschen mit geringeren Einkommen können von einer Reduktion der Arbeitszeit nur träumen, erst recht in Zeiten der Teuerung. Aber Schreibtischarbeiter der jüngeren Generation sind immer weniger bereit, den alten, toxischen Leistungsgedanken über alles zu stellen, wonach ein wertvoller Mensch nur ist, wer sich im Büro komplett und weit über die Grenzen des Wohlbefindens hinaus verausgabt.

Dabei geht es um mehr als Selbstfürsorge und Work-Life-Balance. Sara Weber, die ausgebrannte Karrierefrau, die ihr Leben umkrempelte, betrachtet den neuen Lifestyle der jungen Generation als insgesamt nachhaltiger. Auch in ökologischer Hinsicht. "Wird die Arbeitszeit reduziert, sinken Energienutzung und Treibhausemissionen. Wenn nicht gearbeitet wird, bleiben Büros und Fabriken dunkel, es muss nicht geheizt werden, die Computer bleiben aus." Außerdem, argumentiert Weber in ihrem gerade erschienenen Buch, würden Menschen, die mehr Zeit haben, umweltfreundlichere Konsumentscheidungen treffen. "Je höher die Arbeitszeit, desto mehr verdienen Menschen, desto mehr konsumieren sie. Wer mehr arbeitet, fährt eher mit dem Auto statt mit dem öffentlichen Nahverkehr. Wer mehr arbeitet, lebt in größeren Häusern oder Wohnungen mit höherem Energieverbrauch und besitzt mehr Geräte wie Trockner, Mikrowelle und Spülmaschine, mit denen Zeit gespart werden kann. Je mehr jemand arbeitet, desto häufiger isst diese Person auswärts und kauft mehr Fleisch und gefrorene Lebensmittel -mit höherem ökologischem Fußabdruck."

Neue Intensität

Die neue Anti-Work-Bewegung vereint viele Trends und Strömungen. Gemeinsam ist ihnen das Unbehagen an der aktuellen Situation. In Internetforen tauschen sich frustrierte Arbeitnehmer über Ängste, Mobbing durch den Chef, ausufernde Arbeitszeiten und das Gefühl, immer zu müde für die Ausübung von Hobbys zu sein, aus. Es ist ein bisschen, als breche endlich ein Damm, nachdem fragwürdige Arbeitsbedingungen und Selbstausbeutung jahrzehntelang als normal angesehen wurden. Die Intensität und Komplexität in der Arbeitswelt habe zuletzt immer mehr zugenommen, sagt Wifo-Ökonom Eppel. "Auch die Entgrenzung der Arbeit ist gestiegen, nicht zuletzt wegen der Digitalisierung. Die Qualifikationsanforderungen sind höher, was vor allem gering Qualifizierte unter Druck setzt. Lebenslanges Lernen wird immer wichtiger. Das sind Prozesse, die Arbeit und Ausbildung intensiver gemacht haben."

Kann es auf Dauer gutgehen, wenn alle nur mehr 32 Stunden arbeiten? Sind die sozialen Sicherungssysteme in Gefahr? Nein, meint Eppel. Gesamtgesellschaftlich sei entscheidend, wie sich das Erwerbsarbeitsvolumen insgesamt entwickle. Und das wiederum hänge von Demografie, Migration und der Erwerbsbeteiligung ab.

"Natürlich: Wenn Menschen ihre Arbeitszeit reduzieren, kann das das Erwerbsarbeitsvolumen dämpfen. Eindeutig ist dieser Zusammenhang aber nicht. Denn wenn die Leute gesünder sind, weil sie weniger arbeiten, können sie vielleicht länger bis ins höhere Erwerbsalter arbeiten. Es kann auch positiv wirken, wenn sich Mann und Frau die Erwerbsarbeit und die unbezahlte Arbeit besser aufteilen. In jedem Fall ist es politisch gut, wenn man die ungenutzten Arbeitskräftepotenziale hebt."

Neue Regeln

Was den Jungen, die sich nicht mehr kaputt arbeiten wollen, in die Hände spielt: Arbeitskräfte werden überall händeringend gesucht -nicht wegen zu vieler Teilzeitjobs, sondern wegen des massiven Wirtschaftswachstums, das bis Mitte 2022 angehalten hat, analysiert man beim AMS. Hochqualifizierte können sich aussuchen, wo sie arbeiten wollen, und die Arbeitsbedingungen (mit-)bestimmen. Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist ebenbürtiger geworden, verlangt aber auch Abmachungen, wie das neue hyperflexible Arbeiten funktionieren soll.

Ein Forschungsteam an der Fachhochschule Wiener Neustadt und der Universität Graz hat gemeinsam mit fünf Partnerunternehmen einen Leitfaden entwickelt, wie Unternehmen und Mitarbeiter mit der neuen Arbeitsrealität im Homeoffice umgehen können. Das Um und Auf, sagte Projektleiterin Karin Wegenstein, sind klare Erwartungshaltungen. "Eine Mitarbeiterin glaubt vielleicht, dass sie bis spätabends auf die E-Mails ihres Chefs antworten muss, um als engagiert zu gelten. Dabei erwartet der das möglicherweise gar nicht. Solche Fragen der Arbeitskultur müssen besprochen und abgesteckt werden."

Entgrenztes Arbeiten, wie es in der Corona-Zeit üblich wurde, als die Unterschiede zwischen Frei-und Arbeitszeit zusehends verschwammen, wird von vielen Mitarbeitern als belastend empfunden, sagt Wegenstein. Zwei Dinge würden dem entgegen wirken: das Gefühl wertgeschätzt und anerkannt zu werden, und die Gewissheit, einem sinnvollen Job nachzugehen -beides Aspekte, die ein intaktes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern voraussetzen.

Und das, sagt Wegenstein, zahlt sich aus. Buchstäblich. "Wir haben in einer Studie erhoben, dass Personen, die sich Arbeitsort und Arbeitszeit flexibel einteilen können, eine Steigerung von im Schnitt elf Prozent in ihrer eigenen Produktivität wahrnehmen. Je mehr Vertrauen in die Arbeitnehmer gesetzt wird, desto mehr kommt auch zurück. Das ist ein starker Kulturwandel im Vergleich zu den 80erund 90er-Jahren, als es noch ein sehr starkes Kontrollbedürfnis gab."

Keine Extrameilen

Die Unternehmerin Beatrix Skias kommt zu ähnlichen Erkenntnissen: "Bei den Jungen spielt Sinnhaftigkeit eine große Rolle. Für wen arbeite ich? Kann ich die Werte des Arbeitgebers teilen? Wird auf mich eingegangen? Die Bedingungen, unter denen man bereit ist, zu arbeiten, werden sehr konkret artikuliert. Ich finde das unterm Strich sehr in Ordnung. Geben und Nehmen müssen sich aber die Waage halten. Wenn das Engagement des Mitarbeiters endenwollend ist, ist auch der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin nicht bereit, die Extrameile zu gehen."

Das Buch:

Die frühere LinkedIn-Chefredakteurin Sara Weber setzt sich in "Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?" mit dem Arbeitsethos einer Generation auseinander, die nicht um jeden Preis will (Kiepenheuer & Witsch, 19 Euro)

Das Buch ist hier erhältlich. (*)

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Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin 04/2023.