Anschober: "Ich habe mich sehr oft sehr alleine gefühlt"

Bis zur Erschöpfung und darüber hinaus war Rudolf Anschober als Gesundheitsminister in der Coronakrise gefordert. Was den Grünen Minister in den Rücktritt getrieben hat und welches politische Erbe er nun hinterlässt.

von Politik - Anschober: "Ich habe mich sehr oft sehr alleine gefühlt" © Bild: Ricardo Herrgott

Zwei Kreislaufkollapse mit anschließendem Krankenhausaufenthalt binnen drei, vier Wochen, Blutdruck und Blutzuckerwerte erhöht, beginnender Tinnitus - so offen und nüchtern erklärt Rudolf Anschober Dienstagfrüh, wie es ihm gerade geht. Jener Mann, der in der Regierung für die Gesundheit "zuständig" ist, der den Kampf gegen Corona im Gegensatz zu manchem Regierungskollegen ohne taktische Ausweichmanöver immer in der ersten Reihe geführt hat, kann nicht mehr. Diese 15 Monate in der "schwersten Gesundheitskrise seit 100 Jahren", kein richtig freier Tag, schon gar kein Urlaub - sie haben "sich angefühlt wie 15 Jahre", sagt Anschober in einer "persönlichen Erklärung".

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Vielleicht hätte er diese Erklärung nicht abgeben müssen, wenn er nach dem ersten Zusammenbruch etwas mehr Zeit für sich gehabt hätte. Doch kaum zurück im Amt, muss der Gesundheitsminister alles geben, um strenge Anti-Corona-Maßnahmen rund um Ostern durchzusetzen. Er verhandelt fast die ganze Nacht beim "Ostgipfel", steht am nächsten Tag stundenlang im Parlament Rede und Antwort, um dann am Abend mit Michael Ludwig, Johanna Mikl-Leitner und Hans Peter Doskozil die - mittlerweile in einen harten Lockdown verlängerte - "Osterruhe" zu verkünden. "Auch wenn ich nur 50,60,70 Prozent Fitness habe, ich will 100 Prozent Leistung bringen", sagt er Dienstag. "Hätte er sich da ein bisschen mehr schonen können, wäre es nicht so weit gekommen", sagen Menschen in seinem Umfeld.

Die Geschichte einer Erschöpfung

Vor einem Jahr konnte News Anschober und seinen Hund Agur bei einem Spaziergang am Donaukanal begleiten. Damals war ganz Österreich im harten Lockdown, Stress und Verantwortung für den Minister waren enorm, doch enorm war auch seine Popularität. Er wurde freundlich gegrüßt und lächelte gerne zurück. "Da unten", zeigte er Richtung Wasser, "ist mein Qigong-Platz". Hier mache er frühmorgens seine Konzentrations- und Entspannungsübungen. Bei einem zweiten nächtlichen Spaziergang "bringe ich meine Gedanken runter und überlege, was ist gut gelaufen, was hat funktioniert, wo muss man nachbessern."

Irgendwann ab Herbst läuft vieles nicht mehr gut. Die Stimmung schlägt um, Anschober und auch ihm nahestehende Menschen erhalten Drohungen, er braucht Polizeischutz. Entspanntes Flanieren ist so nicht mehr möglich. "Eine Quelle meiner Energie war damit nicht mehr da", sagt er bei seinem Rücktritt: auch "ganz unbefangene Gespräche in der U-Bahn, auf der Straße, in der Westbahn, in der ÖBB, wo auch immer das war. Das war davor für mich immer eine wirkliche Energiequelle."

»Eine wichtige Quelle meiner Energie war nicht mehr da: unbefangene Gespräche in der U-Bahn oder auf der Straße«

Energie, die Anschober im politischen Alltag gebraucht hätte: Er trifft ihn persönlich, wenn ihn Menschen, deren Angehörige an Corona gestorben sind, mehr oder weniger direkt für schleppendes Impftempo oder volle Intensivstationen verantwortlich machen. Er hadert mit (Fehl-)Entscheidungen, deren Tragweite oft erst Wochen später klar wird. Es gibt bei seinem Amtsantritt kein institutionalisiertes Krisenmanagement im Ministerium, neben der laufenden Pandemiebekämpfung schafft Anschober es nur langsam, ein solches "nebenher" aufzubauen. Viele heute etablierte Maßnahmen wie die Maskenpflicht erfordern mühsame Überzeugungsarbeit. Fehlerhafte und aufgehobene Verordnungen sorgen für Spott und Hohn. Fast jeder mit dem Koalitionspartner und den Ländern mühsam erarbeite Kompromiss erntet Häme. Anschober sei zu nachsichtig und konsensorientiert, heißt es. "Er musste oft Kompromisse vertreten, obwohl er eigentlich ganz etwas anders hätte haben wollen", sagt ein Weggefährte.

Türkis-grüner Nervenkrieg

All das kann man aushalten, wenn das Klima in der Regierung passt. Die Arbeitsbeziehung zwischen Anschober und Sebastian Kurz ist allerdings zerrüttet. Besonders gut war sie ohnehin nie. Das liegt nicht nur daran, dass der Gesundheitsminister den Bundeskanzler in den ersten Monaten der Pandemie in diversen Vertrauens-und Beliebtheitsrankings überholt.

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Die Kluft zwischen Anschober und der ÖVP ging gleich zu Beginn der türkis-grünen Regierung auf. Der damalige oberösterreichische Landesrat für Integration und Erfinder der Initiative "Ausbildung statt Abschiebung" verhandelte in den für die Grünen den Themenbereich Asyl, Zuwanderung und Integration. "Schon da ist er mit der ÖVP ziemlich zusammengekracht", erinnert sich ein Verhandler. Ereignisse wie die Abschiebung von gut integrierten Schülerinnen, die trotz grüner Proteste im Jänner stattfand, nimmt Anschober daher bis zu einem gewissen Grad persönlich.

Auch in seinem unmittelbaren Kompetenzbereich, der Gesundheit, gibt es bald Grabenkämpfe. Immer wieder prescht der Kanzler mit Aktionen wie etwa den Massentests vor, Anschober hat das Nachsehen. Oft ist man sich uneinig, ob Aufsperren oder Zusperren dem Land in der jeweiligen Corona Phase besser täte. Zuletzt verhandelt Kurz mit Russland über den Kauf von Sputnik V. Auch da soll Anschober skeptisch gewesen sein. Die Verantwortung für eine Notfallzulassung des von der EU noch nicht anerkannten Impfstoffs hätte nämlich er tragen müssen.

»In der zweiten Welle begann die Spaltung, in der dritten habe ich mich oft sehr alleine gefühlt«

Immer öfter bekommen die Grünen den Eindruck, dass Kurz mit seinen Corona Aktivitäten Pleiten, Pech und Pannen, etwa beim Ibiza U Ausschuss, kaschieren wolle. Und nachdem für die ÖVP dort derzeit wenig rund läuft, hätte es wohl immer öfter den Infight mit Anschober gegeben. "Der konnte Kurz zwar gut Paroli bieten, aber gesundheitlich angeschlagen hätte er das auf Dauer nicht mehr geschafft", sagt ein Weggefährte.

In seiner Abschiedsrede hat Anschober die ÖVP und den Bundeskanzler mit keinem Wort erwähnt. Weder offene Kritik noch scheinheiliger Dank für die Zusammenarbeit war für die Türkisen vorgesehen. Aber das Wenige, was Anschober sagt, ist eindeutig: "Es gab durchaus auch in manchen Bereichen einen Schuss Populismus, der spürbar war, und durchaus auch Parteitaktik, die spürbar gewesen ist. Aber in Summe glaube ich, dass wir eine gute Arbeit geleistet haben." Österreich sei im Kampf gegen Corona immer dann erfolgreich gewesen, "wenn wir in Politik und Bevölkerung zusammengehalten haben." Allerdings habe es ab der zweiten Welle "Vieles an Spaltung gegeben". Und nun, in der dritten Welle, "habe ich mich sehr oft sehr alleine gefühlt."

Und der scheidende Minister macht klar, was er in den nächsten Monaten für richtig halten würde, wenn er noch könnte: "Ich sehe vier große Probleme. Das eine sind die Mutationen. Wir wissen nicht, wie das Virus weiter handelt, wie es sich weiterentwickelt. Das zweite Problem, das ich sehe, ist, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung nach wie vor in Österreich nicht testen geht. Da haben wir eine Baustelle an Überzeugung, an Notwendigkeit, an Maßnahmen. Wir haben mehr als ein Drittel, die nicht impfen gehen werden. Und wir haben viertens ein Phänomen, das in Österreich noch viel zu wenig Thema ist. Das ist Long Covid. Das sind viele, viele, viele Betroffene, die vielfach nur leicht betroffen sind am Beginn und dann nach Monaten doch sehr, sehr gravierende Spätfolgen und Probleme haben. Und ich denke, wir müssen in der österreichischen Gesundheitspolitik dieser Gruppe in der Bevölkerung alle Möglichkeiten, die es braucht, geben, was Betreuung betrifft, was Anerkennung als Krankheit betrifft, und vieles andere mehr. Und deswegen warne ich davor, dass ein Gefühl entstehen könnte, dass man dann, wenn die Risikogruppen und ältere Mitbürger und Mitbürgerinnen geimpft sind, zu rasch öffnen könnte. Es geht um jeden einzelnen Infektionsfall, der vermieden werden muss."

Was von einer Karriere bleibt

"Die Pandemie hat mein Leben verändert", sagt Anschober, doch die Vorentscheidung dafür fiel schon mit seinem Eintritt in die Bundesregierung. Der Oberösterreicher übernahm im Jänner 2020 mit den Gesundheitsagenden ein Ressort, das völlig neu für ihn ist. Seine ersten Pläne galten daher auch eher dem Sozialbereich, für den er auch zuständig war. Er hat neben der Coronakrise eine längst fällige Pflegereform vorbereitet, die demnächst umgesetzt werden kann, zudem gibt es Vorarbeiten für den Ausbau der psychosozialen Betreuung und für Maßnahmen gegen die Altersarmut bei Frauen, zieht er Bilanz. Schon näher an seinen politischen Wurzeln ist die Kennzeichnung von Lebensmitteln und der Tierschutz, wofür er ebenfalls zuständig war.

Anschober ist ein Grüner der ersten Stunde, seine politische Laufbahn reicht zurück bis in die 1980er-Jahre. Er wuchs in Schwanenstadt auf, sein Vater war ÖVP-Politiker und Pädagoge, er selbst wurde zunächst Volksschullehrer. Er dockte zuerst bei einer Vorläufergruppe der heutigen Grünen, der Partei für Umweltschutz und Menschlichkeit, an, war 1982 bei der Gründung der Alternativen Liste in Graz dabei und ab 1986 Sprecher der Grünen Alternative in Oberösterreich. Eher "Realo" als "Fundi", hielt er sich bei Flügelkämpfen der grünen Anfänge zurück, schon da glaubte er mehr an den Zusammenhalt als an Einzelkämpfertum. Es ging damals um die Rettung der Hainburger Au, Friedensmärsche und Kampf gegen Atomkraft jeder Art -die Stationierung von Atomraketen in Deutschland, die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf und vor allem das Atomkraftwerk in Temelin. Seine allererste Bürgerinitiative hieß "Notwehr gegen Temelin". Er schmuggelte Bilder der Baustelle aus dem Nachbarland, schrieb investigative Artikel.

1990 wurde er Nationalratsabgeordneter, wechselte 1997 in den oberösterreichischen Landtag, führte die Grünen dort bei der Wahl 2003 erstmals in eine Landesregierung, wo er 17 Jahre lang blieb und nur wegen eines Burnouts vor neun Jahren drei Monate Pause brauchte.

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Seine Motive seien über all diese Jahre die gleichen geblieben, sagt Anschober als frischer Minister vor einem Jahr. "Es hat sich absolut nichts bei mir verschoben. Es geht um Zusammenhalt und um Solidarität. Es geht darum, dass man mit Lebewesen positiv umgeht, dass man im anderen einen Freund sieht und nicht einen Gegner, dass man versucht, diesen Planeten ein kleines Stückchen besser zu machen."

»Es geht darum, dass man mit Lebewesen positiv umgeht, dass man im anderen einen Freund sieht und nicht den Gegner«

Weggefährten bezeichnen Anschober als unerschütterlichen Humanisten und Optimisten. "In der Pandemie hat er vor allem eines gut geschafft: den Leuten eigentlich Unerklärliches zu erklären, und das auch noch mit einem Schuss Zuversicht", sagt ein Grüner. "Oberlehrerhaft" nennen das jene, die Anschober als überforderten und falschen Mann im Gesundheitsressort wahrgenommen haben.

"Ganz klar formuliert: Ich will mich nicht kaputtmachen", bekennt Anschober am Ende. Was er nun vorhat? Zur Ruhe kommen. Irgendwann den politischen Roman schreiben, von dem er schon lange träumt. "Und vielleicht gibt's da in den Erfahrungen und Erlebnissen der letzten Wochen, Monate die eine oder andere Inspirationsquelle."

© Ricardo Herrgott Vor einem Jahr bei einem Spaziergang am Wiener Donaukanal. Anschober war zu diesem Zeitpunkt in Umfragen auf einem Höhenflug

Noch einmal zurück an den Donaukanal: "Ich habe wegen Corona ganz vergessen, dass ich rund um Ostern ein Nachtzug-Ticket in die Maremma gehabt hätte", erzählte Anschober damals am Ende des Spaziergangs. Er liebt Italien, Land und Leute und vor allem die Küche, an der sich der Hobbykoch auch selbst versucht. Nun hätte er Zeit, die Reise nachzuholen und "durchzuschnaufen". Um Reisebeschränkungen und Quarantäneregeln muss sich sein Nachfolger Wolfgang Mückstein kümmern.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 15/2021.