Ihr Scheitern ist nur
ein Umweg - keine Sackgasse

Sie strauchelte, aber sie fiel nicht. Auch wenn Anna Veith im WM-Super-G von St. Moritz als Titelverteidigerin ausschied, hat sie noch Großes vor. Ihr Biograf, Manfred Behr, beschreibt, wie Österreichs populärste Wintersportlerin selbst aus der Enttäuschung noch neue Kraft schöpft.

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ein Umweg - keine Sackgasse

DNF. Drei Buchstaben, die im Skisport in dieser Reihenfolge nichts Gutes erahnen lassen. Ein Scheitern im besseren Fall. Ein schmerzvolles Scheitern im schlechteren. Am Dienstag prangte so ein "DNF" in den Ergebnislisten des WM-Super-G ausgerechnet neben dem Namen der Titelverteidigerin. Und es stand auch diesmal für "Did Not Finish". Nicht für: "Die Neue Fenninger". Die heißt seit April 2016 bekanntermaßen "Veith", hatte sich tapfer all den ernüchternden, quälenden Konsequenzen ihres Patellasehnen-, Kreuzband- und Innenbandrisses gestellt und nun in St. Moritz, im wichtigsten Rennen ihrer Comebacksaison, nicht gefinisht. War gewissermaßen gescheitert. Eingeknickt, ausgerutscht bei einem Rechtsschwung nach exakt 60 von 81 Fahrsekunden. Ein Rechtsschwung, den Anna Veith so keck durchziehen wollte wie weiland Anna Fenninger. Der Geist war willig, das Knie, keine 16 Monate nach dem verhängnisvollen Trainingslauf in Sölden, aber noch zu schwach für den angepeilten kurzen Radius. Einmal mehr gab das Gelenk die Richtung vor. Und die wies am nächsten Tor vorbei. Was man auch so interpretieren könnte: bis hierher und nicht weiter.

Eine Schlussfolgerung, die trotz zumindest eines weiteren WM-Einsatzes, nämlich im Riesentorlauf, sinnbildlich für das nahe Karriereende stehen könnte. Warum weiter Kopf und Kragen riskieren? Alles, was der Skisport an Kugeln und Medaillen hergibt, steht, liegt, hängt längst daheim in Vitrinen, mitunter in mehrfacher Ausfertigung. Und war da nicht der oftmals artikulierte Wunsch, eine Familie zu gründen?

Gedanken, wie sie nur ein Couch-Potato haben kann. Und eine Öffentlichkeit, der Anna Veith immer ein Stück weit fremd geblieben ist. Was sich auch mit ihrem Naturell erklären lässt, das sich mit dem Gegenteil von "leutselig" trefflich beschreiben lässt.

Who's that girl?

Als ich Anna im Jänner 2016 das Angebot machte, ihre Biografie zu verfassen, trieb mich diese eine Frage an: Who's that girl? Who's that girl, das auf der Piste seit geraumer Zeit so punktgenau funktionierte, dann am eindrucksvollsten performte, wenn andere reihenweise die Nerven wegschmissen, das dem allmächtigen ÖSV-Präsidenten Schröcksnadel so furchtlos die Stirn bot, vermeintlich klein beigab - und dadurch mehr erreichte, als sie jemals gefordert hatte? Who's that girl, das medial bisweilen ein wenig zickig rüberkommt, sich so gar nicht vereinnahmen lässt und nicht müde wird, die Schattenseiten der Popularität zu beklagen?

»Von Beginn an war klar: Halbe Sachen sind mit Anna nicht zu machen«

Eine Zusage, 58 Interviewstunden und einen ganzen Buchentstehungsprozess später wage ich zu behaupten: Ich habe verstanden, wie dieses "Girl" tickt. In erster Linie deshalb, weil Anna großen Wert darauf legte, mir ihr Leben, ihre Gedanken, ihre Geschichte in aller Offenheit zu erzählen. Von Beginn an war klar: Halbe Sachen sind mit Anna nicht zu machen. So professionell sie ihr Comeback anging, so professionell näherte sie sich ihrer Biografie.

Hotel statt Feier

Zurück zur Ski-WM von St. Moritz: Während Sensationsweltmeisterin Nicole Schmidhofer von Schulterklopfer zu Schulterklopfer gereicht wurde, saß Anna Veith längst im Team-Hotel Laudinella, haderte mit sich und ihrem Übermut, dem rechten Knie mehr Fliehkräfte zugemutet zu haben, als es gegenwärtig zu verkraften imstande ist. Sie registrierte aber auch, dass sie das Teilstück vor dem Malheur schneller als jede andere bewältigt hatte, zur Halbzeit der Medaillenjagd gerade einmal zwei Zehntel hinter der späteren Weltmeisterin gelegen war.

Reflexionen zum Karriereende? Keine. Keine mehr, korrekt formuliert. Denn während der schmerzerfüllten, tränenreichen Rehabilitation drängten sich die trüben Gedanken bei jedem Rückschlag ins Bewusstsein. Was mir Anna Veith in diesen Tagen anvertraute: "Wenn wieder einmal nichts weiterging, grübelte ich:,Ich könnte es so viel einfacher haben. Was wäre, wenn ich hier und jetzt den Hut draufhaue?' Mein Körper hätte nichts dagegen gehabt. Und ich merkte auch positive Veränderungen an mir selbst - wie ich mit jedem Monat lockerer wurde, in dem ich nicht unter ständiger Beobachtung stand. Wie ich auf der Hochzeit meiner Zimmerkollegin Michaela Kirchgasser plötzlich eine ganze Nacht durchtanzte -etwas, das ich das letzte Mal mit 19 getan hatte."

Permanente Bestätigung

Die Alternative, den Weg des geringsten Widerstandes zu wählen, blieb aber nur für wenige Tage die verlockendere. "In Wahrheit wollte ich um jeden Preis mein Leben zurück, das ich so sehr liebte", sagte mir Anna. "Mir fehlten der Adrenalinschub des Rennens, meine Selbstbestimmtheit, jeden Tag daran arbeiten zu können, ein wenig besser, ein wenig gescheiter zu werden. Dazu der Nervenkitzel, die permanente Selbstbestätigung und dieses Glücksgefühl, hart auf ein Ziel hinzuarbeiten und dann die Früchte zu ernten."

Zu einem solchen Ziel wurde auch unser Buchprojekt. Wir feilschten um Formulierungen, um Darstellungen von Situationen, Anna bedacht um Authentizität, ich um dramaturgische Höhepunkte. In Summe hatte ich Anna über viele Monate intensiv begleiten dürfen. Drei, vier Stunden pro Tag saßen wir uns im Hotel ihres Mannes in Rohrmoos gegenüber, verteilt über den Frühling und Sommer. Auch in Phasen, in denen die Skepsis überwog, in denen sich ein klein wenig Verzweiflung breitmachte.

Blank liegende Nerven

Anna erzählte von Einheiten im Hallenbad, in denen die Nerven blank lagen. Von ihrer Angst vor dem ersten Schritt ohne Krücken, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat. Von der Ernüchterung, dass die Patellasehnenentzündung links - bis zum Oktober 2015 das "Problemknie" - auch durch viele Monate der Schonung und weitere Therapien wenig Besserung zeigte. Von kleinen Spaziergängen, die sie an die Grenze der Belastbarkeit brachten. Von ihrer ersten "Abfahrt" am beinahe brettlebenen Anfängerhügel in Rohrmoos, wo ihr selbst die Rookie-Touristen um die Ohren gefahren waren.

Sie vertraute mir auch an, dass sie in der Reha Fehler begangen hatte. Aus purer Unwissenheit, weil für diese komplexe Art der Verletzung so wenig Präzedenzfälle vorliegen. Dass sie erst nach etlichen vergeudeten Monaten dahinterkam, warum die Muskeln auf ihre Überstunden in der Kraftkammer so gar nicht reagierten (in den ebenfalls zerstörten Muskelfasern kamen gar keine Reize an). Dass sie auf die Wiederherstellung aller Kniefunktionen statt auf Muskelwachstum hätte setzen sollen - was sich im Juli rächte, als die Verklebungen im Kniegelenk derartige Schmerzen verursachten, dass nur Radfahren als einzige Trainingsmaßnahme blieb.

»Veiths Comeback war immer auf den Olympiawinter ausgerichtet«

Noch im September war keineswegs gesichert, dass sich die 27-Jährige ihren zwei WM-Titelverteidigungen (Super-G, Riesentorlauf) stellen wird können. Ein zweiter Winter voller "DNS"(FIS-Jargon für: "Did Not Start") oder, noch chicer, "DNC" ("Did Not Compete") galt als nicht unwahrscheinlich. Womit das "DNF" vom Dienstag mit etwas Abstand gleich verkraftbarer erscheint. Denn Veiths Comeback war immer auf den Olympiawinter 2017/18 ausgerichtet, ihre Karriereplanung und die meisten wichtigen Sponsorenverträge laufen bis zum Frühjahr 2019.

Wer Annas Gedanken nachvollziehen möchte, muss verstehen, wie sie zu der wurde, die sie heute ist. Dass sie nach der Olympiasaison 2009/10 kurz davor war, wegen notorischer Erfolglosigkeit das Handtuch zu werfen, ehe sie beschloss, nicht mehr Erfüllungsgehilfin der Trainer zu sein, sondern nur mehr sich selbst zu vertrauen.

Dass sie am 7. Jänner 2012, zehn Tage nach ihrem ersten Weltcupsieg, in Bad Kleinkirchheim die prägende Erfahrung machte, einer Menschenmasse hilflos ausgeliefert zu sein, aber daraus die richtigen Schlüsse zog, ihre Einstellung gegenüber der Öffentlichkeit anpasste, statt darüber zu klagen, dass es die Fans an Distanzgefühl vermissen lassen. Dass sie immer wieder alle Materialkomponenten in Frage stellte, auch nachdem sie 2014 Olympiasiegerin und Gesamtweltcupsiegerin geworden war. Und dass sie in der Reha zu einem anderen Menschen geworden ist. Demütiger, geduldiger, bedachter, überlegter. "Ich will nie wieder die sein, die am meisten trainiert. Sondern die, die am besten auf ihren Körper hört." All das zeugt von viel Mut zur Veränderung. In unserer letzten Interview-Session erläuterte sie mir ihr Erfolgsrezept: "Man muss sich von der Angst lösen, Fehler zu begehen. Weil es ohne Fehler auch keinen Fortschritt gäbe. Selbst das Scheitern, zweifellos eine schmerzhafte Erfahrung, ist nur ein Umweg, keine Sackgasse."

Womit auch das "DNF" im WM-Super-G nur ein kleiner Sidestep auf dem Weg zu noch mehr Erfolgen sein sollte. Früher oder später. Passendes Kürzel für die nächste Ergebnisliste: "MTC -More To Come".

Zu den Personen:

Über Anna Veith: Am 18. Juni 1989 als Anna Fenninger in Hallein geboren, nahm sie nach ihrer Hochzeit mit Manuel Veith im April 2016 dessen Nachnamen an. Sie gewann zweimal den Gesamtweltcup, holte drei Weltmeistertitel und errang 2014 Olympia-Gold im Super-G. Im Oktober 2015 zog sich Veith im Training eine schwere Verletzung im rechten Knie zu (Riss des vorderen Kreuzbands, des Innenbands und der Patellasehne) und pausierte seither. Ihr Comeback gab sie am 27. Dezember des Vorjahres im Weltcup-Riesentorlauf am Semmering, qualifizierte sich aber nicht für den zweiten Durchgang. Im Riesentorlauf von Cortina d'Ampezzo am 29. Jänner erreichte sie hingegen den beachtlichen dritten Platz.

Über den Autor Manfred Behr: Sieht man vom engsten Familien- und Freundeskreis ab, so gibt es wohl nur wenige Menschen, die Anna Veith besser kennen als der niederösterreichische Sportjournalist Manfred Behr. Der ehemalige Chefredakteur der "Sportwoche" verbrachte mehr als 58 Stunden an der Seite der Spitzensportlerin. Offen wie kaum zuvor erzählte ihm die gebürtige Halleinerin mit dem Mädchennamen Fenninger über die privaten und beruflichen Höhepunkte ihres Lebens - aber auch über die Schattenseiten: etwa die Scheidung ihrer Eltern und den nervenaufreibenden Konflikt mit dem ÖSV-Präsidenten Peter Schröcksnadel. Behr protokollierte die Gespräche und entwickelte aus ihnen das Buch "Zwischenzeit", das zu Anna Veiths offizieller Biografie wurde. Die Aufzeichnungen erschienen in der Edition Mensch & Marke und sind über den Buchhandel, aber auch über Anna Veiths Webshop beziehbar: Details unter www.anna-veith.com

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