Eine Karriere wie
ein Rückwärtssalto

Abgesehen von Marcel Hirscher gilt Snowboard-Weltmeisterin Anna Gasser bei den Olympischen Spielen von Pyeongchang als Österreichs größte Medaillenhoffnung. Dabei begann ihre Karriere mit Schulschwänzen, Vorurteilen und Ausgrenzung

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Olympia - Eine Karriere wie
ein Rückwärtssalto

Jahrelang war sie nicht einmal bis zu seinem Vorzimmer durchgedrungen, sondern schon an den Bürokraten der unteren Etagen gescheitert. Doch in dieser denkwürdigen Nacht begegnete sie Peter Schröcksnadel, dem mächtigen Präsidenten des Österreichischen Skiverbandes, erstmals persönlich. Es war der 2. November 2017, und Anna Gasser war soeben zur "Sportlerin des Jahres" gekürt worden. Ideale Voraussetzungen also für einen Überraschungsangriff: "Herr Präsident, wir Snowboarder bräuchten dringendst ein Trainingszentrum."

Im Winter zuvor hatte Gasser bei den X-Games, der wichtigsten Extremsportveranstaltung der Welt, einmal Bronze und einmal Gold geholt. Bei der Snowboard-WM in der Sierra Nevada hatte sie dann mit der Punktehöchstzahl von 100 die Goldmedaille errungen. Kurzum, Gasser stand ihrem Präsidenten plötzlich als beste Snowboarderin alive gegenüber. Und da nun auch die prestigeträchtigen Olympischen Spiele bevorstanden, griff die alpingraue Funktionärseminenz spontan und tief in die Kriegskasse: Noch zwei Tage vor Silvester wurde am obersteirischen Kreischberg um knapp eine Viertelmillion Euro ein sogenannter Airbag, eine luftgepolsterte Landebahn für Snowboarder, errichtet -die allererste außerhalb der USA. "Endlich können wir risikofrei trainieren, das ist wohl mein wichtigster Sieg", sagt Anna Gasser.

Kein Trainer, kein Support

Die Qualifikation für Olympia 2014 und die WM im darauffolgenden Jahr hatte die heute 26-jährige Kärntnerin noch ohne Trainer und auf eigene Kosten bestreiten müssen. "Sie haben mich trotz nachweislicher Erfolge nicht ins ÖSV-Team gelassen, da ich kein Eigengewächs war, das innerhalb des Verbandes groß geworden ist", blickt die zierliche, gerade einmal 50 Kilo schwere Spitzensportlerin zurück.

Eigentlich, sagt Gasser, sei sie sportlich ein reines Zufallsprodukt. Und ein Produkt des unerschütterlichen Glaubens an sich selbst. Bis zu ihrem 17. Lebensjahr, erzählt sie, habe sie noch nicht einmal gut Ski fahren können, öfter als fünf, sechs Mal pro Jahr sei sie eigentlich nicht auf der Piste gestanden, und auch da hielt sich die Begeisterung in überschaubaren Grenzen. "Aber ich war als Teenager auf der Suche nach einer Leidenschaft, und als ich erkannte, dass Snowboarden diese Leidenschaft werden könnte, habe ich sie nicht mehr losgelassen."

Krasse Gegenwelten

Dabei begann die außergewöhnliche Karriere der Anna G. damit, dass zwei völlig konträre Welten vorurteilsschwer aufeinanderprallten. Zum einen war da das wohlbehütete, gutbürgerliche Zuhause: Mutter Lehrerin, Vater Versicherungsmakler, gemütliche Wohnung im Obergeschoß eines Zweifamilienhauses in Spittal an der Drau. "Es lief alles in geregelten Bahnen", erinnert sich Gasser. Sie war eine unauffällige Schülerin, die durchschnittlich, aber verlässlich ihre Leistungen ablieferte; die später, soweit der vorgezeichnete Plan, in Innsbruck Englisch und Sport studieren sollte; die regelmäßig zum Kunstturnen ging, bis zu sechs Mal pro Woche trainierte und dabei so diszipliniert war, dass sich einige Nachwuchs-Staatsmeistertitel ausgingen. "Ich war gut, aber nicht gut genug für die echte Spitze", erinnert sich Gasser. Und als sie schließlich im Rahmen eines Trainingslagers in Rumänien sah, dass dort bereits die Elfjährigen doppelt so gut wie sie waren, habe sie die Lust an der ganz alltäglichen Quälerei verlassen.

Aus Anna, dem Musterkind, das daheim mit seinen beiden Katzen kuschelte, war mit einem Mal Anna, der orientierungslose Teenager, geworden. Mal dies und das ausprobieren, nur nichts Fixes, nur nichts Verbindliches, Langfristiges. Und so dachte sie sich zunächst auch nichts dabei, als sie Mario, der um fünf Jahre ältere Cousin, einmal zum Snowboarden auf den Mölltaler Gletscher mitnahm.

Gasser war zuvor noch nie auf einem Snowboard gestanden. Doch mehr als der Sport an sich nahm sie auf Anhieb der Lifestyle der Boarder gefangen. Bunter Schlabberlook, bis ins Knie runterhängende Sporthosen, alles irgendwie easy, alles irgendwie cool, alles irgendwie ganz große Freiheit. Und Party, Party, Party als mitgelieferte Lebenseinstellung, die den Sport stets eng flankierte. "Ich selbst war nie wild oder exzessiv", relativiert Österreichs größte Medaillenhoffnung neben Alpinstar Marcel Hirscher. Doch dann habe sie ihre ersten Moves am Brett gemacht und sich aufgrund der Basisathletik ihrer langjährigen Turnerschaft rasch in die Bewegungsabläufe eingefunden. Und dann waren da noch die coolen Videos von Tiefschneefahrten, die ihr der Cousin vorspielte.

»Das Ganze war wie ein Rausch, es war das, was mich - so kitschig das klingen mag - glücklich machte«

Rasch lernte Anna, vorwärts eine Piste runterzukurven, ebenso rasch dasselbe im Rückwärtsgang. Bald folgten erste kleine Tricks, erste Sprünge über Schanzen. "Das Ganze war wie ein Rausch, es war das, was mich - so kitschig das klingen mag - glücklich machte. Das, womit ich mein Leben verbringen wollte."

Der alte Mann und das Meer? Die junge Frau und der Berg! Just im Maturajahr begann Anna damit, die Schule zu schwänzen. Stattdessen tingelte sie mit dem Bus in die winterlichen Funparks der näheren und weiteren Umgebung. Mit dem Lift rauf, mit dem Brett runter, immer und immer wieder, trancehaft, selbstvergessen, bis zum Einbruch der Dunkelheit. "Auch wenn viele nicht gesehen haben, viele nicht sehen konnten, dass daraus etwas entstehen könnte - ich glaubte fest an mich und war überzeugt davon, dass ich daraus irgendwann einen Beruf machen könnte." Denn Anna nahm auch an ersten kleinen Wettkämpfen teil, errang erste kleine Achtungserfolge.

Übermacht der Klischees

Aber nichtsdestotrotz stelle man sich vor: Da die besorgten Eltern, die für ihr Kind nur das Beste wollten, alles für eine solide Ausbildung in die Wege geleitet hatten. Dort die Tochter, die eigentlich nie eine große Rebellin gewesen war und jetzt zwar noch die Matura machte - aber dann ihr Leben einem Lifestyle verschrieb, der auf den ersten Blick so antibürgerlich anmutete, dass ihn viele Außenstehende heute noch mit Love, Peace, elendslangen Nächten und elendslangen Joints in Verbindung bringen. "Die Situation an sich war schon schwierig für meine Eltern. Aber mich dennoch schweren Herzens gewähren zu lassen, das war noch schwieriger. Und dafür bin ich ihnen heute noch dankbar."

Anna, die frischgebackene Maturantin, jobbte zunächst als Babysitterin. "Von sieben Uhr in der Früh bis sieben Uhr am Abend kümmerte ich mich um ein unglaublich verwöhntes Kind, das alleine zwischen iPhone, Xbox und Playstation aufwuchs." So lange, bis sie genug Geld hatte, um sich eine Amerikareise leisten zu können.

»Billigste Herbergen, kein Geld für Heimflüge - es war eine harte Zeit«

Dort dockte die Autodidaktin from Austria erstmals bei den "echten" Snowboardern an, lernte den um zwei Jahre älteren Eric kennen, der dem US-Team angehörte und Snowboarding als Beruf ausübte. So gelang es Gasser, im Weltcup Fuß zu fassen, wo sie immer erfolgreicher wurde. "Allerdings unter Rahmenbedingungen, über die ich mich heute rückblickend auch selber nur noch wundern kann: Ich habe in den billigsten Absteigen übernachtet oder kam bei Freunden unter, nicht einmal zu Weihnachten konnte ich mir einen Heimflug leisten, das waren echt harte Zeiten."

Endlich Aufmerksamkeit

Zurück in Europa, durfte sie dann 2012 an der O'Neill Evolution in Davos, einer der prestigeträchtigsten Veranstaltungen im Snowboardzirkus, teilnehmen und wurde gleich auf Anhieb Dritte - mit einem Preisgeld von 5.000 Euro. "Da wurde schließlich der ÖSV auf mich aufmerksam, und ich qualifizierte mich für Olympia 2014 in Sotschi", erzählt Gasser. Nachsatz: "Allerdings finanzierte ich mir die Quali selbst."

Kurz vor den Spielen in Russland (die Kärntnerin belegte in der Qualifikation noch den ersten Platz, wurde dann im Hauptbewerb Zehnte) schwang sich Gasser dann sogar zur weltweiten Snowboard-Berühmtheit empor. Als erster Frau der Welt gelang ihr im Rahmen eines Bewerbs ein Sprung namens "Cab Double Cork 900": ein doppelter Rückwärtssalto, kombiniert mit einer halben Drehung -und das in bis zu zehn Metern Höhe.

Anna Gasser, eine Karriere wie ein Rückwärtssalto. Und ein ÖSV-Präsident, der sich mit einem Mal vor Hilfsbereitschaft überschlägt.

Dieser Artikel ist im News Nr. 5/2018 erschienen.