"Ich bin zum
Außenseiter geworden"

Österreicher erzählt, wie er sein Leben mit einer Lese- und Schreibschwäche meistert

von Analphabetismus - "Ich bin zum
Außenseiter geworden" © Bild: Stadtkino Wien

Heute geht er selbstbewusster und offener mit seinen Schwächen um, wie Kurt Kochberger erzählt. Als Erwachsener besucht er Kurse auf der Volkshochschule, weil er das nachholen will, was er einst in der Kindheit verpasst hat. Doch warum hat er nie richtig Lesen und Schreiben gelernt? Im Doppelinterview verraten Regisseurin Hanne Lassl und ihr Protagonist, was sie während der gemeinsamen Dreharbeiten erlebt haben, welche Hürden es generell zu meistern gilt und warum man dabei über sich hinauswächst.

Regisseurin Hanne Lassl
© Stadtkino Wien Regisseurin Hanne Lassl

NEWS.AT: Frau Lassl, wie sind Sie auf das Thema Analphabetismus in Österreich gekommen?
Hanne Lassl: Das hat einen privaten Hintergrund. Ich habe eine Schwester in Frankreich, die bei Analphabetisierungsprogrammen mitarbeitet. Sie hat mir einmal ganz aufgeregt erzählt, dass eine 65-jährige Frau aus ihrer Gruppe zum ersten Mal richtig gelesen hat. Ihre Begeisterung hat mich so überwältigt und bewegt, dass ich neugierig auf das Thema geworden bin.

NEWS.AT: Und warum haben Sie zugesagt, im Film einen der Hauptdarsteller zu spielen?
Kurt Kochberger: Ich habe es für meinem Sohn gemacht und weil es genug andere Menschen gibt, denen es genauso geht wie mir.

»Bei langen Wörtern wird es schwierig.«

NEWS.AT: Beim Wort Analphabetismus, denkt man sofort, dass jemand gar nicht lesen und schreiben kann.
Kochberger: Das muss ich gleich richtigstellen. Ich kann schon lesen und schreiben. Bei langen Wörtern wird es schwierig, dann strenge ich mich so an, das Wort zu lesen, dass ich darüber den Sinn des Wortes vergesse. Das sinnerfassende Lesen hat mir einfach gefehlt.

NEWS.AT: Warum haben Sie trotz Schulbildung eine Lese- und Schreibschwäche?
Kochberger: Bei mir war es krankheitsbedingt. Ich bin als Kind immer wieder länger im Spital gewesen und habe viel versäumt. Als ich dann in die Schule zurückgekommen bin, bin ich mit dem Stoff nicht mehr mitgekommen. Ich habe das nie wieder aufgeholt. Auch wenn es die Kinder nicht bewusst gemacht haben, bin ich zum Außenseiter geworden. Irgendwann bin ich in die Sonderschule gekommen und dort war ich einfach nicht mehr motiviert etwas zu tun. Ich habe mir's auch gemütlich gemacht.
Lassl: Du warst nicht faul, sondern du hast durch den verpassten Stoff einfach den Anschluss verloren.
Kochberger: Ja, das stimmt. Ich bin nicht so gefördert worden, dass mir das Lernen schmackhaft gemacht worden ist.

NEWS.AT: Inwieweit unterscheidet sich der Alltag von Menschen ohne Lese- und Schreibschwäche zum Beispiel beim Einkaufengehen?
Kochberger: Einkaufengehen ist einfach, da habe ich mich oft an den Bildern orientiert. Ich weiß zum Beispiel wie die Packung von meinem Lieblingskaffee aussieht, das ist überhaupt kein Problem.
Lassl: Ich habe am Anfang der Dokumentation geglaubt, dass die Einkaufsituation nicht einfach ist. Ich bin dann mit Rosi in den Supermarkt gegangen und habe mir gedacht, jetzt muss gleich etwas Spektakuläres passieren. Aber sie ist da durchspaziert und hat ihre Sachen eingekauft, wie jeder andere auch.

»Ich wollte nicht mehr von anderen abhängig sein.«

NEWS.AT: Welche Hürden sind durch die verminderte Lesekompetenz auf Sie zugekommen?
Kochberger:Vor allem Behördenschreiben waren schwierig. Man sucht sich Freunde und Bekannte, die für einen vorlesen. Mir hat damals mein Vater sehr geholfen, er hat quasi meine ganze Buchhaltung gemacht und mich bei den Behörden unterstützt. Dann ist der traurige Tag gekommen, an dem er nicht mehr da war. Und ich wollte nicht mehr ständig von anderen Personen abhängig sein. Das war mit ein Grund dafür, dass ich so spät praktisch wieder zur Schule gegangen bin. Es ist nicht einfach als Erwachsener noch einmal in die Schule zu gehen.
Lassl: Er hat acht Stunden gearbeitet und ist am Abend noch teils drei Stunden lang zur Abendschule gegangen, das ist schon eine Leistung.
Kochberger: Ich habe meinem Sohn immer gesagt, wie wichtig die Schule ist. Aber ich kann ihm nicht etwas erzählen, das ich selbst nicht vorlebe. Deswegen habe ich angefangen, die Kurse zu besuchen.

Kurt und sein Sohn Sebastian
© Stadtkino Wien Kurt Kochberger und sein Sohn Sebastian

NEWS.AT: Im Film ist die Beziehung zu Ihrem Sohn ein wichtiges Thema. Wie geht er mit Ihrer Leseschwäche um?
Kochberger: Ich habe mir immer gedacht mein Sohn wird sagen: "So schlecht kann mein Papa lesen und schreiben". Aber das war gar nicht so. Er hat gesagt, dass das schon so passt und wir das gemeinsam schaffen werden.

»Sie haben mir gesagt, mein Sohn darf nicht bei mir wohnen.«

NEWS.AT: Um das Sorgerecht für Ihren Sohn zu bekommen, sind Sie vor Gericht gegangen.
Kochberger: Vor Gericht haben sie zu mir gesagt, mein Sohn darf nicht bei mir wohnen, weil ich nicht gut genug lesen, schreiben und rechnen kann. Ich kann ihm nicht bei den Hausaufgaben helfen und so. Da habe ich mir gedacht, ich muss etwas machen, damit sich das ändert. Ich habe aus dem Negativen etwas Positives gemacht. Wenn jemand zu mir gesagt hat, du wirst nie eine Arbeit finden, du wirst das nie schaffen, dann wollte ich es erst recht. Mein Sohn ist einer der Hauptgründe, warum ich richtig lesen und schreiben lernen wollte.

NEWS.AT: Und wie sieht die rechtliche Situation in Bezug auf Ihren Sohn heute aus?
Kochberger: Beim zweiten Termin vor Gericht habe ich die Obsorge zugesprochen bekommen und nicht die Aufsichtspflicht. Das bedeutet, ich bin verantwortlich für Schulnachrichten, Behördenbriefe und so etwas, weil ich ja so gut lesen und schreiben kann (schmunzelt). Diesen Beschluss kann ich nicht verstehen, aber ich habe mich nicht beschwert. Ich bin froh, dass ich wenigstens die Obsorge über meinen Sohn habe. So habe ich ein Mitspracherecht, was mit ihm passiert.

Kurt und sein Sohn Sebastian
© Stadtkino Wien Kurt Kochberger und sein Sohn Sebastian

NEWS.AT: Was haben die Kurse Ihnen gebracht?
Kochberger: Auf der Volkshochschule bringen sie dir das spielerisch bei. Ich musste unterwegs, in der U-Bahn oder in der Straßenbahn, lesen und jetzt mache ich das privat, weil es mir einfach Spaß macht. Mein Arbeitgeber hat mich für die Kurse freigestellt, so eine Firma muss man erst einmal finden. Es nutzt der Firma, wenn ich besser lesen kann und für gewisse Sachen nicht mehr so lange brauche.

NEWS.AT: Ihr Arbeitgeber weiß also von der Leseschwäche?
Kochberger: Ich habe schon vor meiner jetzigen Arbeit einen geschützten Arbeitsplatz in einem Hotel gehabt. Ein Filialleiter einer Lebensmittelkette wollte mich unbedingt als Verkäufer haben. Ich habe "Ja" gesagt, aber nur wenn ich wieder einen gesicherten Arbeitsplatz und einen Gehaltszuschlag von zehn Prozent bekomme. Sie haben zugesagt und seitdem arbeite ich dort. Die Geschäftsleitung und der Verkaufsleiter haben von meiner Leseschwäche gewusst. Unter den Mitarbeitern und Kollegen habe ich es nicht an die große Glocke gehängt.

NEWS.AT: Frau Lassl, als Regisseurin haben Sie den Alltag der Protagonisten hautnah miterlebt. Wie war das für Sie?
Lassl: Ich habe Rosi rund drei und die anderen beiden Protagonisten über zwei Jahre lang begleitet. Es war eine sehr schöne Erfahrung. Ich wollte nicht nur zeigen, wie sie nicht lesen und schreiben können, sondern wie sie sich dabei fühlen, was hinter den Personen für Geschichten stehen. Ich hätte mir vor den Arbeiten zum Film nie gedacht, dass es so ein großes und bewegendes Thema ist. Es war berührend zu erleben, wie liebevoll Kurt mit seinem Sohn umgeht und er trotzdem nicht bei ihm wohnen darf. Oder dass Rosi von ihrer besten Freundin verlassen und später besachwaltet wird. Es ist ein Film, bei dem man in gewissen Szenen schmunzeln darf, wie es die Protagonisten schaffen, ihr Leben zu meistern. Er ist humorvoll, ohne die Menschen vorzuführen, das war mir wichtig.

»Als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, habe ich geweint.«

NEWS.AT: Was hat sich durch den Film für Sie als Protagonisten verändert?
Kochberger: Ich bin seitdem viel selbstbewusster und offener geworden. In meiner Arbeit begleite ich jetzt Lehrlinge, die Lernschwächen haben. Ich erzähle ihnen meine Geschichte und sage: "Ich bin auch nicht gut in lesen und schreiben gewesen". Und durch meine Erfahrungen kann ich sie mit nach oben ziehen und ihnen vermitteln, wie wichtig es ist, zu lernen. Anfangs war es schon schwierig nach außen zu gehen, aber jetzt, seit dem Film, trage ich es immer mehr nach außen.
Lassl: Sie wollen einfach nicht mehr am Rand der Gesellschaft leben, sie wollen keine Außenseiter mehr sein. Beruflich ist das nicht so einfach. Einer meiner Protagonisten ist durch den Film geoutet worden.

NEWS.AT: Wie fühlt es sich an, wenn man einen Teil seines Lebens auf der Leinwand sieht?
Kochberger: Ich habe mir das irgendwie anders vorgestellt. Als ich den Film das erste Mal auf der Leinwand gesehen habe, habe ich geweint. Ich habe mir gedacht, wie sich ein "normaler" Mensch (ohne Lese- und Schreibschwäche, Anm. der Red.) fühlen würde, wenn er den Film sieht und das hat mich innerlich zerrissen. Zu sehen, wie meine Geschichte erzählt wird, hat mich wirklich mitgenommen. Es ist dem Film gelungen, aufzuzeigen, ohne jemanden anzuklagen, dass es noch einige Ungereimtheiten im österreichischen System gibt.

Ein Ausschnitt aus der Dokumentation:

© Video: Stadtkino Wien

Weiterführender Link:
Das Alfatelefon Österreich (Tel.: 0800 244 800)gibt Information und Beratung zum Thema Basisbildung und Alphabetisierung.

KINOTERMINE:
Premiere in Wien: 11. März 2015 im Stadtkino Wien im Künstlerhaus in Anwesenheit von Hanne Lassl
Kinostart Wien, Graz: 13. März 2015
Kinostart OÖ, Salzburg: April 2015

Kommentare

Gabriele Meixner

Mein Sohn wurde wegen seiner Lese- und Rechtschreibschwäche fertig gemacht. Und das von seinen Lehrkräften. Seither kämpfe ich für diese Kinder.
Unter www.geschuetztegrausamkeit.at könnt ihr die Geschcihte lesen und sie ist noch immer nicht zu Ende!



Oberon
Oberon melden

Mich hat das Thema Analphabetismus schon immer interessiert und ich habe mich damit befasst. Warum kann jemand nicht lesen und schreiben, das habe ich mich gefragt. Es muss sehr
anstrengend sein, ständig sein "Handicap" verstecken zu müssen, damit ja keiner merkt, was mit einem los ist!
Es nützt auch nichts, wenn man zwar die einzelnen Buchstaben kennt, sie aber nicht zu einem sinnvollen ...

Oberon
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2.) ... Wort zusammen fügen kann. Einen Text zu lesen, bedeutet auch, die Worte richtig zu betonen, ansonsten wird's für die Zuhörenden schwer mit dem Verstehen.
Heutzutage muss man sich nicht mehr schämen, wenn man etwas nicht richtig kann, denn es gibt Kurse, um alles nach zu lernen.

Ute Heidorn
Ute Heidorn melden

Wird der Film auch in Deutschland zu sehen sein? Oder wird es ihn als DVD geben?

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