Warum die Kirche Angst
vor Veränderung hat

Strukturreformen, Mission, Masterpläne: Viele Versuche, die Kirche im Leben der Menschen vor Ort lebendig zu erhalten, gab es schon – mit mäßigem Erfolg. Theologe Ferdinand Kaineder erklärt im Interview, woran es scheitert und wie man Gemeinschaft wiederbeleben kann - auch in Zeiten von Corona.

von Gesellschaft - Warum die Kirche Angst
vor Veränderung hat © Bild: iStockPhoto.com
Ferdinand Kaineder, geb. 1957 in Linz, Theologe. Von 2012 bis 2019 Leiter des Medienbüros der Ordensgemeinschaften Österreichs und deren Mediensprecher, seitdem selbstständiger Kommunikationscoach und PR-Berater.

Sie beschreiben zu Beginn Ihres Buches, wie die Belebung einer mehr oder weniger toten Pfarrgemeinschaft funktionieren kann. Aber auch das Dilemma, dass die katholische Kirche für solche Projekte offenbar nicht aufgeschlossen ist. Wie erklären Sie sich das?
Ich habe über viele Jahre miterlebt, dass die Amtskirche an Verschlossenheit leidet. Sie bringt nicht die Vibrationen eines Freiraums auf, für Menschen, die für eine Sache brennen, die von einer Sache begeistert sind. Sie bringt eigentlich oft ein Stück Angst mit, schließt dann auch Menschen aus, weil sie etwas probieren, was aus ihrer Sicht nicht vorgesehen ist.

Ich beschreibe im Buch meine Versuche, wie man dennoch ein bisschen innerhalb und ein bisschen außerhalb, an den Rändern der Kirche viel Lebendigkeit hineinbringen kann und so auch zum Wachstum von Gemeinschaften oder Pfarren beitragen kann. Es wird aber nicht anders gehen, als dass man interessante Menschen auf Augenhöhe hereinholt oder zur eigenen Verlebendigung wirken lässt.

»Die Bischöfe fühlen sich zutiefst ohnmächtig«

Aber warum ist die katholische Kirche so veränderungsresistent?
Es gibt für mich so etwas wie einen Wurzelfokus, wenn man über die eigene Identität spricht. Der erzeugt aber auch etwas Starres, gerade bei der katholischen Kirche, die über Jahrtausende Dinge angesammelt hat. Ich plädiere aber eher für den Synapsenfokus. Diese Anschluss- und Veränderungsfähigkeit wird es unbedingt brauchen.

Zum zweiten glaube ich, dass es die tiefe Ohnmacht der Leitenden in der Kirche ist, die sie so veränderungsresistent macht. Die Bischöfe fühlen sich zutiefst ohnmächtig und trauen es sich nicht zu sagen, zu zeigen und zu leben. Dabei ist die Ohnmacht die Wurzel für die neue Verlebendigung. Es geht etwas zu Ende, das sie sich nicht eingestehen wollen und haben nicht den Mut, das neue zum Leben erwecken zu wollen.

Veränderung ist dem Menschen vom Grundgefühl her ja grundsätzlich immer etwas Unangenehmes…
Es ist bekannt, wenn man in einem Raum mit 100 Personen zu Veränderung aufruft, dass sich 80 bis 85 Leute umdrehen und gehen, weil sie das nicht wollen. Oder sie jubeln über eine Veränderung - aber die von anderen Personen.

Dieses Verändernwollen und –können ist derzeit ganz sicher ein Paradoxon in der Kirche. Von zentraler Bedeutung ist ja die Eucharistie-Feier, und damit die Wandlung – aber gleichzeitig soll alles gleich bleiben. Das passt nicht zusammen. Man sollte sich in Bezug auf Gemeinschaft nicht fragen, was erlaubt ist, sondern was möglich ist.

© Magdalena Schauer-Burkart

Wo zieht man die Trennlinie zwischen Veränderungsresistenz und dann doch verbindender Tradition?
Am schwierigsten ist es Veränderung gegen Stabilität auszutauschen beziehungsweise gegeneinander auszuspielen. Ich bin mit meiner Frau den „Coast Path“ in Cornwall gegangen. Dort erlebt man Tag für Tag das fluide Element, das Meer, zu seiner Linken und rechts das feste Element, das Kristalline. Beides hat seine Berechtigung, im übertragenen Sinne ist in der römisch-katholischen Kirche derzeit das Kristalline, wenn man so möchte, absolut überbewertet. Das Fluide, das Fremde kann dabei nicht herauskommen. Dabei ist Zusammenhalt in der Vielfalt eigentlich die Grundkonstruktion der Kirche. Im Buch spreche ich auch vom elliptischen Denken: Es braucht immer zwei Brennpunkte, die in Beziehung zueinander stehen.

Heutzutage spricht man davon, dass viele Leute in ihrer eigenen Blase leben. Gibt es Ihrer Ansicht nach ein Gegenkonzept dafür?
Ich habe in meinem Buch das Dreiraum-Modell als Leitfaden herangezogen, das aus meiner beruflichen Erfahrung entstanden ist. Wie geht es, dass eine Gemeinschaft, eine Gruppe oder Organisation lebendig wird? Der erste Punkt ist das Mitmachen, vier Felder sind in diesem Zusammenhang mit Leidenschaft gefüllt: Das ist Musik, die Bühne, die Bewegung und das Soziale.

Der zweite Punkt ist das vielfältige Vernetzen: Wenn ich da mitmachen kann, dann vernetzen wir uns eigentlich. Ich lerne die Gruppe kennen, ihre Werte, ihre Rituale und spüre auch das Dazugehören.

Der dritte Raum, der vibrieren soll, ist das Verstehen. Was tun die da? Wie tun sie das? Und warum tun sie das? Hier liegt auch Vieles in der Kirche im Argen, weil diese Kausalität nicht klar und sprachlich ausgedrückt wird. Es ist oft fromm besetzt und abgehoben in einer eigenen Sprache formuliert. Aber erst wenn man etwas verstanden hat, wirft man sich mit größter Leidenschaft in die Sache.

Lässt sich dieses Modell für alle Gesellschaften umsetzen? Es soll Leute geben, die weder musikalisch sind noch auf einer Bühne stehen, sich aber dennoch in einer Gemeinschaft wiederfinden wollen…
Das ist natürlich nicht nur ein Modell für die Kirche, sondern auch ein allgemeines. Bei einer Bühne sind ja auch Zuschauer gefragt, die die Begeisterung spüren und miterleben können. Das Mitmachen heißt ja auch in diesem Zusammenhang das Mitleben.

In den kirchlichen Milieus ist beispielsweise auch die gemeinsame Bewegung massiv reduziert worden. Das sind Felder, die man wiederbeleben muss, weil das zum gelingenden Leben dazugehört. Auf das Mitleben kommt es an: Eine Gemeinschaft wird im Grunde durch viel Raum, Freiraum und Gestaltungsraum lebendig. Und natürlich mit Personen, die sich mit Leidenschaft für eine Sache einbringen und elliptisch denken.

»Struktur ist manchmal wichtig, aber ein Kaffeehäferl alleine hat noch keinen Kaffeegeschmack«

Und wie bringt man Leute unterschiedlichen Glaubens zur Bildung einer Gemeinschaft?
Mit strukturellen Gebilden wird das aus meiner Sicht nicht funktionieren. Eine Struktur ist manchmal wichtig, aber ein Kaffeehäferl alleine hat noch keinen Kaffeegeschmack. Es braucht in der Kirche ganz dringend Menschen, die als Brückenbauer agieren, die eine Lust an der Vielfalt, am Unterschied und an den Milieus haben. Wenn solche Leute in die Führungsebene kommen, dann wird das gelingen. Jeder Getaufte sollte in solche Leitungsämter kommen können, weil sie dann Verbindungen über die eigenen Grenzen hinaus schaffen. So hätte es sich Jesus auch vorgestellt.

Interessiert? Was die Kirche von anderen lernen kann: "Anpacken, nicht einpacken!"*

Die mit Sternchen (*) gekennzeichneten Links sind sogenannte Affiliate-Links. Wenn Sie auf einen Affiliate-Link klicken und über diesen Link einkaufen, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.

Wie lässt sich Gemeinschaft in Zeiten von Corona bilden?
Ein wesentliches Problem in der Kirche ist, dass sich manche, auch Priester, aus Angst vor allem zurückgezogen haben. Aus meiner Sicht, gerade in Zeiten von Corona, ist das der falsche Weg. Man muss das Telefon hernehmen und anrufen. Ältere Menschen, Außenstehende und Leute mit mehreren Kindern fragen: „Kommt ihr zurecht, kann man euch helfen?“

Gerade jetzt heißt es unterwegs zu sein, sich aufzumachen und sich zu fragen, wo die Leute sind, die einen gerade brauchen. Manchmal gelingt das sehr fein, manchmal aber auch desaströs, weil es nur ängstlichen Rückzug gibt. Wesentlich ist in Corona-Zeiten, in generell bedrängten Zeiten, die Sakristei zu verlassen und die Menschen aufzusuchen.

Kann digitale Kommunikation in diesem Zusammenhang hilfreich sein oder eher ein Trugschluss?
Ich bin selbst ein relativ „durchdigitalisierter“ Mensch, als ehemaliger Internetbeauftragter der Diözese Linz sozusagen ein Early Adopter. Das Digitale ist für mich eher ein Hinweis oder eine Möglichkeit sich abzusprechen, aber wirklich nährend für die Seele und für das gesamte Empfinden wird es sich mit dem Digitalen nicht ausgehen, das wäre ein Trugschluss.

Es ist jedenfalls ein Vorraum, wo man gut miteinander kommunizieren kann, aber die Seele wartet auf einen haptischen Besuch, eine Berührung, auch eine körperliche, wenn es möglich ist. Das Digitale sollte man natürlich mit Vernunft und Hausverstand nutzen.

Wie würden Sie ideale Gemeinschaft beschreiben?
Vielfältig auf jeden Fall, die Mitglieder dieser Gemeinschaft sollten aus verschiedenen Milieus kommen, verschiedene Berufe und auch verschiedene Interessen haben. Die Gemeinschaft sollte spüren, dass sie gemeinsam ein schönes soziales Gebilde ist.

Zum anderen sollte die Gemeinschaft auch über gutes Leadership verfügen. Eine Person oder Personengruppe sollte sich darum kümmern, dass dieses Gemeinsame gut geleitet und angeleitet wird. Ich vermeide bewusst das Wort „Management“, das mag ich nicht. Es muss klar sein, dass die Dinge gut abgesprochen sind, dass jeder zu seinem Recht kommt, dass jeder eine Aufgabe hat. Keine Gemeinschaft ohne Probleme, keine Gemeinschaft, die perfekt ist, sondern eine Gemeinschaft, die zusammen spürt und immer wieder das Verbindende sucht.

Disclaimer: Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. News.at macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.