Terrorismusexperte Shams Ul Haq: "Hunderttausende werden das Land verlassen"

Der Islamismus- und Terrorismusexperte Shams Ul Haq über die chaotische Lage in Afghanistan. Der gebürtige Pakistani und Investigativjournalist sieht ein Tauziehen zwischen gemäßigten und radikalen Taliban, das wesentlichen Einfluss auf die Gespräche über eine neue afghanische Regierung hat. Und er befürchtet eine drohende Migrationswelle, die terrorbereite Schläfer nach Europa bringen könnte.

von Afghanistan - Terrorismusexperte Shams Ul Haq: "Hunderttausende werden das Land verlassen" © Bild: imago images/SNA
Shams Ul Haq, 46, gilt als Terrorismusexperte. Der gebürtige Pakistani wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und kam mit 15 als unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber nach Deutschland. Nach einer Ausbildung zum Schweißer arbeitete er bei verschiedenen Firmen, unter anderem als Leiter eines Callcenters. Er nahm 2001 die deutsche Staatsangehörigkeit an und betrieb ein Geschäft für Mobiltelefone mit Postagentur. Seit 2007 arbeitet er als investigativer Journalist in Libyen, Syrien, Afghanistan, Pakistan und anderen Ländern. Für das Buch "Die Brutstätte des Terrors" recherchierte er mehrere Monate undercover in 35 verschiedenen Flüchtlingsunterkünften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zugleich begann er seine verdeckte Arbeit in 150 europäischen Moscheen zum Thema Radikalisierung. Das Ergebnis war das Buch "Eure Gesetze interessieren uns nicht", das 2018 erschienen ist.
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Herr Haq, wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Afghanistan? Welche weitere Entwicklungen sind dort noch zu erwarten?
Das ist schwer zu sagen. Derzeit ist die Lage unübersichtlich, chaotisch und unsicher -nicht nur für die Menschen dort, sondern auch für die Hilfsorganisationen vor Ort und auch die internationale Politik. Es gibt ja mehrere Gruppierungen der Taliban, im Wesentlichen jedoch eine gemäßigte und eine radikale. Die eine führt derzeit die Verhandlungen über die Zukunft des Landes in Doha, die andere hat auch Verbindungen zum IS und will mit westlichen Werten gar nichts zu tun haben. Es ist die Frage, wie die miteinander klar kommen und welche der beiden sich im Endeffekt durchsetzen wird. Wobei: Derzeit betonen die Taliban, dass sie anders als vor 20 Jahren die Menschenrechte einhalten und die Freiheit der Frauen künftig garantieren wollen. Angeblich wollen die Taliban, sollte es eine Übergangsregierung geben, auch Frauen im Parlament als Abgeordnete zulassen und Schulunterricht für Mädchen erlauben.

Sind diese Aussagen tatsächlich glaubwürdig?
Ich habe nicht nur regelmäßig Kontakt zum Taliban-Sprecher Suhail Schahin sondern via Skype und WhatsApp auch mit den Menschen dort; und ich habe gute Freunde in Kabul. Die Menschen sind sehr skeptisch und fürchten sich. Besonders Frauen haben Angst, dass sich die Ereignisse zwischen 1996 und 2001, als es eine fundamentalistische Schreckensherrschaft mit Anwendung der Scharia und enormer Gewalt gab, wiederholt. Bis jetzt haben sich die Taliban noch zurückgehalten, aber die Menschen, die dort leben, vertrauen ihnen nicht. Man wird erst mit der Zeit sehen, wie sich die Taliban längerfristig verhalten werden, wenn sie in der Regierung sind und die Scharia anwenden - die Menschen in Kabul wollen die aber nicht. Es hat jetzt aber auch erstmals eine CNN-Reporterin mit Kopftuch mit den Taliban gesprochen - das war bislang nicht möglich. Auch mit einer BBC-Reporterin und anderen Medien gab es Interviews. Und es gab eine erste offizielle Pressekonferenz.

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Das vermittelt den Eindruck einer PR-Offensive ...
Das ist es auch. Die Taliban geben sich offener als früher. Sie haben sogar eine WhatsApp- Notfallnummer eingeführt, unter der sich Menschen melden können, die sich schlecht behandelt fühlen oder misshandelt werden. Dennoch herrscht Chaos. Man kann nicht sagen, wie es weitergeht. Das werden erst die nächsten Tage und Wochen zeigen.

Wie ist das Verhältnis zwischen gemäßigten und radikalen Taliban?
Die Frage ist, wer sich von den beiden durchsetzen wird. Diejenigen, die jetzt den Präsidentenpalast besetzt haben, sind die gemäßigten. Die radikalen haben auch bereits begonnen, Gewalt anzuwenden. Ein wichtiger Punkt wird auch sein, welche konkreten Regeln für die Scharia festgelegt werden und wie diese künftig interpretiert wird. Wenn sich die beiden Gruppen nicht einigen können, wird es in Zukunft sicher ganz schwierig. Wenn sich die beiden bekämpfen, gibt es wieder Krieg.

»Die Frage ist, welcher der beiden Gruppen sich durchsetzen wird«

Warum ist den Taliban die Machtübernahme eigentlich so schnell gelungen?
Die Angst war mit ein Grund, dass sie jetzt so schnell das Land erobern konnten. Die Leute sagten sich, bevor wir misshandelt oder getötet werden, riskieren wir lieber nichts. Viele Junge haben sich den Taliban angeschlossen. Deshalb hat es auch kaum Widerstand gegeben - abgesehen davon, dass Polizei und Militär nicht wirklich zum Kampf aufgefordert wurden und sie den Taliban alles kampflos überlassen haben. Dabei wäre das Militär weit in der Überzahl gewesen. Die Taliban haben ja nur rund 75.000 Kämpfer. Präsident Aschraf Ghani ist einfach geflohen.

Er war und ist ja nicht einzige ...
Sehr viele wollen aus Kabul raus, aber schaffen es nicht. Von der Stadt zum Flughafen müssten sie eine Vielzahl von Checkpoints passieren, die von den Taliban kontrolliert werden. Laut Insidern versuchen die Amerikaner in Doha, mit den gemäßigten Taliban einen Deal auszuhandeln, damit die Evakuierungen friedlich verlaufen. Angeblich hat es auch Absprachen gegeben, wonach der Vorstoß der Taliban nicht behindert wird und dafür die US-Interessen nicht berührt und mögliche Terrorakte in den Vereinigten Staaten unterbunden werden. Auch dass Präsident Ghani das Land verlassen konnte, wird kaum ohne Zustimmung der Amerikaner möglich gewesen sein.

© imago images/AGB Photo Bis 1988 war Afghanistan von den Sowjets besetzt, die USA unterstützten deren Gegner

Wer hat sonst noch Interessen an oder in Afghanistan?
Laut Insidern sollen auch noch Pakistan, der Iran, China und die Türkei in die laufenden Gespräche involviert sein. Die haben aktuell die meisten Bürger in Kabul und auch noch ihre Botschaften dort in Betrieb. Und sie haben ein großes Interesse daran, dass die Taliban künftig in einer Regierung vertreten sind. Insbesondere China. Das soll auch der erste Staat sein, der bereit wäre, die Taliban als Staatsmacht anzuerkennen. China hat bereits Gespräche mit den Taliban geführt und zugesichert, einer stabilen Regierung beim Wiederaufbau zu helfen. Da geht es um viel Geld und Bodenschätze. China ist eine Weltmacht und hat auch beste Kontakte zu Pakistan, dem Iran und der Türkei. Auch Russland redet natürlich mit. Und der deutsche Außenminister Maas hat angekündigt, nach Doha fliegen zu wollen. Auch die EU hat gesagt, man wird mit den Taliban reden müssen.

Welche Rolle spielt die Türkei?
Eine große. Präsident Erdoğan erhält ja Milliarden von der EU, damit er die Flüchtlinge behält und die Migrationsströme kontrolliert werden können. Und es werden ja Hunderttausende das Land verlassen.

Werden die das Land auch verlassen können?
Die Taliban haben zugesagt, dass jene, die raus wollen auch raus können. Nicht nur die Ausländer und Mitarbeiter internationaler Organisationen. Wenn sie sich nicht daran halten, werden sie kaum internationale Hilfsgelder bekommen. Es sind ja schon sehr viele unterwegs Richtung Europa - auch aus Pakistan. Die nehmen alle die Route über die Türkei.

»Die Menschen fürchten sich, besonders die Frauen haben Angst«

Werden Migrationswillige so einfach das Land verlassen können?
Die Grenzen werden an sich bewacht, aber da kommen Grenzbeamte, die sich bestechen lassen, und Schlepperbanden ins Spiel. Außerdem könnten die Taliban Flüchtlinge als Druckmittel gegenüber der internationalen Gemeinschaft verwenden.

Europa muss sich also auf eine neue Migrationswelle einstellen?
Ich denke, die Migrationswelle wird nicht so stark sein wie die von 2015/16. Man hat aus den Fehlern von damals viel gelernt, deshalb wird die Migration dieses Mal viel strukturierter und Step by Step erfolgen. Und dabei wird die Türkei eine große Rolle spielen - und auch Griechenland. Es werden Flüchtlinge kommen, ich hoffe jedoch, dass sie kontrolliert kommen.

Zeitbombe am Hindukusch

Afghanistan liegt an der Schnittstelle von Südasien, Zentralasien und Vorderasien und besteht zum Großteil aus schwer zugänglichen Gebirgsregionen. Das Land, in dem eine Vielzahl von Ethnien bzw. Stämmen leben, allen vorn Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken und Sadat, die direkt vom Propheten Mohammed abstammen, war immer wieder in Konflikte verwickelt. 99,9 Prozent der geschätzten 38 Millionen Einwohner sind Muslime. In Afghanistan werden neben Paschto und Persisch mehr als 40 Sprachen und über 200 Dialekte gesprochen. Das behindert die Entwicklung des Landes ebenso wie der Umstand, dass die Mehrheit der Menschen nicht schreiben und lesen kann.

Rund 60 Prozent der Afghanen sind Analphabeten, bei Frauen liegt der Anteil bei etwa 75 Prozent. Abgesehen von Afrika hat Afghanistan weltweit die höchste Fertilität. Die meisten Frauen haben keinen Zugang zu Verhütungsmitteln und werden häufig sehr jung schwanger.

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Fürchten Sie, dass auch Schläfer, also radikale Islamisten und potenzielle Terroristen, dabei sein können?
Auf jeden Fall. Man kann ja nicht kontrollieren, wer bei den Flüchtlingen dabei ist. Es wird wohl auch eine Taktik der Taliban sein, Schläfer mitzuschicken. Es ist vorstellbar, dass die dann sozusagen als Druckmittel fungieren. Wenn die Taliban zum Beispiel nicht anerkannt werden oder von Hilfsmitteln abgeschnitten werden, dass dann Schläfer aktiviert werden.

Wie gut ausgerüstet sind die Taliban nach den Rückzug der Amerikaner, die angeblich 80 Milliarden Dollar in die afghanischen Militärstrukturen investiert haben?
Die Waffen und Panzer befinden sich jetzt alle de facto in den Händen der Taliban. Die sind jetzt top ausgerüstet. Und es ist davon auszugehen, dass diese Waffen auch an den IS gehen könnten. Auch deshalb ist es so wichtig, dass die sich gemäßigten und radikalen Taliban einigen.

Wie finanzieren sich die Taliban eigentlich?
Die Taliban haben eigene Einnahmen: Sie haben wichtige Straßen kontrolliert und dafür Steuern kassiert, sie handeln mit Waffen und natürlich mit Opium. Dazu kommen noch Unterstützer, die angeblich neben China und der Türkei aus Pakistan, Saudi-Arabien und Katar kommen sollen. Letztere machen das wohl aus dem Motiv, dass die Taliban dort nicht aktiv werden.

Was war aus Ihrer Sicht der Hauptfehler dafür, dass der Westen -sprich: die USA - mit seiner 20 Jahre dauernden Präsenz am Hindukusch gescheitert ist?
Man hat die falsche Politik gemacht, indem man in ein Land eingedrungen ist und dort mit Gewalt Macht über die Menschen ausgeübt hat. Und das in einem Land, das schon jahrelang gegen die Sowjetunion gekämpft hat. Außerdem hat man sich zum Teil mit den falschen Partnern eingelassen, zum Beispiel einzelnen Warlords, die wiederum eigene Pläne hatten. Zudem ist es schwierig, mit dem Menschen zu kommunizieren. Afghanistan hat eine der höchsten Analphabetenquoten der Welt. Dazu kommt noch, dass es eine Vielzahl von Stämmen mit eigenen Interessen gibt.

Und wie sieht es mit der gebildeten Schicht aus?
Es heißt, viele gebildete Afghanen in den USA, Kanada oder Deutschland wollen dazu beitragen, das Land wieder stabil zu machen. Die Frage ist nur, wie weit sich die Taliban mit diesen einlassen.

Dieses Interview erschien ursprünglich im News 33/2021.