Markus Gauster: "Die Taliban stehen jetzt unter Druck, zu liefern"

Der Machterhalt der Taliban sei mittelfristig nicht in Stein gemeißelt, sagt Markus Gauster, Afghanistan-Analyst des Bundesheeres. Eine Massenflucht sei unwahrscheinlich, allerdings müsse man sich auf mehr Drogenexporte und einen "beflügelten Terrorismus" einstellen

von Afghanistan - Markus Gauster: "Die Taliban stehen jetzt unter Druck, zu liefern" © Bild: Copyright 2021 Matt Observe - all rights reserved.
Markus Gauster. Der Rechts-und Politikwissenschaftler stammt aus Kärnten und arbeitet am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) der Landesverteidigungsakademie des Bundesheeres. Sein Schwerpunkt: Afghanistan. Aufgabe des IFK ist, auf Basis offener Quellen die Auslandseinsätze des Bundesheeres zu analysieren und Lösungsansätze zu erarbeiten

War die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan überraschend, oder hat der Westen die Region bewusst aufgegeben? Das Land, in dem man vor 20 Jahren den "Krieg gegen den Terror" begann, scheinen bis heute nur wenige zu verstehen. Markus Gauster, der Afghanistan-Analyst des Bundesheeres, ist einer davon.

Im Interview spricht der Forscher der Landesverteidigungsakademie über das "Prinzip Aufstand", die afghanische Mentalität, Migration und den Druck, dem sich jetzt auch die Taliban stellen müssen.

Herr Gauster, Sie waren mehrfach in Afghanistan. Haben Sie derzeit Kontakt zu Bekannten dort?
Ja. Die Lage ist unübersichtlich. Vor allem Leute, die mit internationalen Kräften zusammengearbeitet haben, fühlen sich gefährdet. Wenn sie weg wollen, brauchen sie Dokumente wie Reisepässe. Doch diese zu beschaffen, ist gefährlich bis unmöglich. Der internationale Flughafen und ausländische Botschaften sind abgeriegelt. Es gibt Unsicherheit darüber, wie ernst man die angekündigte Amnestie gegenüber Mitarbeitern der Exregierung oder der ausländischen Streitkräfte nehmen darf.

Manche in Europa befürchten eine Migrationswelle wie vor wenigen Jahren. Ist das wahrscheinlich?
Kurz- bis mittelfristig schätze ich das als wenig wahrscheinlich ein. Erinnern wir uns: 2015 kamen kaum Afghanen aus Afghanistan zu uns, sondern Menschen, die zuvor in die Nachbarländer -insbesondere den Iran -geflüchtet waren. Derzeit sieht es so aus, also ob diese Länder keine Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen wollten. Dafür wurden an den Grenzen "diplomatische Pufferzonen" errichtet. Und ohne 20.000 Euro in bar für die Schleppung lässt man auch diese Pufferzonen nicht hinter sich. Bestimmte Waren hingegen werden künftig verstärkt ihren Weg nach Europa finden.

Welche Waren meinen Sie?
Drogen. Schmuggler sind sehr innovativ, was das Erschließen neuer Routen betrifft. Der Iran und große Teile seiner Jugend leiden derzeit besonders darunter. Für den Drogenexport scheint es keine Grenzen zu geben. Die Taliban finanzieren sich ja zu bedeutenden Teilen aus dem Mohnanbau für Drogen. Es ist für mich kein Zufall, dass sie ihren endgültigen Siegeszug im Land erst nach der Ernte zwischen Mai und Juni begonnen haben. Diese Einnahmen wollten sie sich nicht entgehen lassen.

Woran erkennt man die Bedeutung von Morphium und Heroin für die Taliban?
Etwa daran, dass sie ihre Kämpfer besser und verlässlicher bezahlen können als die afghanische Armee ihre Soldaten. Damit Sie eine Vorstellung von der Größenordnung der Drogenproduktion in Afghanistan bekommen: Auf einer Fläche von 2.500 Quadratkilometern wird dort nur Schlafmohn zur Gewinnung von Morphium und Heroin angebaut. Das entspricht in etwa der Fläche Vorarlbergs.

»Der Sieg der Taliban hat eine sehr starke Symbolkraft«

Aber auch der Westen hat viel Geld in den Aufbau der regulären afghanischen Armee investiert.
Das stimmt schon, und für eine Zeit lang lief das auch ganz gut. Die Rede ist von fünf Milliarden Dollar pro Jahr. Das wäre knapp das Doppelte, was dem Bundesheer jährlich zur Verfügung steht. Das Problem ist, dass die Führung der afghanischen Armee hochgradig korrupt ist, beträchtliche Summen in dunklen Kanälen versickern. Letztlich kam deshalb immer weniger Geld bei den einfachen Soldaten an. Es gibt ein altes Sprichwort in der Region: "Man kann einen Afghanen nur mieten, aber niemals kaufen." Tatsächlich hat sich der Westen dort in den vergangenen Jahren für Geld die Loyalität der Einheimischen gekauft. Endet der Geldfluss, endet auch die Loyalität auf Zeit.

Und deshalb ergibt sich eine Armee kampflos einer Gruppe leicht bewaffneter Aufständischer?
Nicht nur. Der Aufbau der afghanischen Streitkräfte startete kurz nach der Vertreibung der Taliban 2001. Wenige Jahre später begann eine strategische Unterwanderung der Armee, parallele Rekrutierung von Kämpfern und "Anmietung" von Milizen, die bis zuletzt andauerte. Fast alle Provinzhauptstädte waren von den Taliban im Juli 2021 komplett eingekreist bzw. belagert.

Was ist da passiert?
Während die Regierung versuchte, neue Rekruten zu finden, bauten die Taliban Druck auf Interessenten auf. Dabei griffen sie gezielt Sicherheitskräfte an, um potenzielle neue Soldaten noch vor ihrem Eintritt einzuschüchtern. Die Botschaft lautete: Wer in die Armee geht, stirbt. Gleichzeitig wurden Taliban als Schläfer in die offiziellen Streitkräfte eingeschleust. Viele dieser Schläfer wurden dann in der Ausbildung als Selbstmordattentäter aktiv und bekämpften die Armee des Landes von innen. Zudem wuchs die Schattenarmee der Taliban kontinuierlich an.

Hat der Westen die afghanische Mentalität jemals wirklich verstanden?
Das wesentliche Prinzip des afghanischen Systems ist der Aufstand. Fremde im Land gelten per se als Besatzer und müssen bekämpft werden. Das spürten vor den USA schon Alexander der Große, die Mongolen und die Briten. Die Geschichte des Aufstands in Afghanistan ist lang. Zuletzt galt dieses Misstrauen sogar gebürtigen Afghanen, die wie die letzten Präsidenten in den USA studierten. Verstärkt wurde das ab 2005 durch die "Night Raids" der USA. Dabei drangen Spezialkommandos nachts in die Dörfer ein, stürmten Häuser, um mutmaßliche Terroristen zu töten. Im Rahmen dieser Aktionen wurden aber auch Unbeteiligte getötet. Zudem betrachten Afghanen solche Aktionen als Ehrverletzungen gegenüber Frauen, die die betroffenen Häuser bewohnen. Der damalige Präsident Karzai hat die Amerikaner darauf hingewiesen. Erfolglos. Dieses Vorgehen, nicht zu vergessen die unzähligen Drohnenangriffe, hat die Motivation für Widerstand und Aufstand verstärkt. Und die Taliban, die sich nie vollständig aufgelöst hatten, haben das genutzt.

Was Sie sagen, ist alles interessant. Nur müssten das Nachrichtendienste auch gewusst haben. Haben die Dienste wirklich so versagt, dass sie die Dynamik des Vormarsches unterschätzten? Oder ist die westliche Überraschung darüber nur gespielt, und man hat Afghanistan in vollem Bewusstsein aufgegeben?
Womöglich sehen wir gerade eine Mischung aus dem Versagen der Dienste und bewussten Entscheidungen der Politik.

»Die Taliban brauchen Beziehungen, um das Volk zu ernähren«

Vor 20 Jahren ging der Westen nach Afghanistan, um Osama bin Laden, die Terrororganisation Al-Qaida und die Taliban zu bekämpfen, die ihnen Unterschlupf gewährten. Wie stehen die Taliban des Jahres 2021 zum islamistischen Terrorismus?
Das ist nicht ganz klar und wird wohl davon abhängen, welche Strömungen sich innerhalb der Taliban durchsetzen werden. Mullah Baradar zum Beispiel gilt als pragmatisch und einer, der keine Kontakte zu Al-Qaida pflegt. Sein Rivale hingegen, Anas Haq qani, schon. Ich schließe einen Richtungsstreit nicht aus.

Was bedeutet der Abzug der Armeen des Westens nun für den internationalen islamistischen Terrorismus?
In Afghanistan wurden seit jeher nicht nur Kämpfer ausgebildet, die in Europa und den USA Anschläge verübten. Auch Personen, die in Tadschikistan und China aktiv waren, erlernten hier das terroristische Handwerk. Das muss sich im Detail nun nicht wiederholen, aber: Der Sieg der Taliban wird im internationalen Jihadismus fast euphorisch als Sieg über den Westen gefeiert. Das allein hat eine sehr starke Symbolkraft und ist geeignet, Extremisten weltweit zu beflügeln. Meine Befürchtung ist, dass das weit über Afghanistan hinaus wirksam wird.

Vor Ort weniger?
Die Taliban haben 2020 in Verhandlungen mit den USA noch unter Präsident Trump garantiert, künftig kein sicherer Hafen mehr für Terrororganisationen sein zu wollen. Selbst wenn sie sich formal daran halten sollten: Zuletzt haben sie in Afghanistan über 10.000 Inhaftierte aus den Gefängnissen entlassen, darunter auch zahlreiche Kämpfer der Al-Qaida. Das darf man nicht unterschätzen.

Moderne Waffen, die der Westen an Afghanistan lieferte, sind nun in den Händen der Taliban. Es gibt Berichte, wonach diese nach desertierten Piloten für die erbeuteten Kampfjets suchen. Eine Luftwaffe in der Hand religiöser Fanatiker - das klingt nach einem Albtraum.
Ein Teil dieser Berichte ist wohl auch nur Propaganda. Das würde ich nicht überbewerten. Interessanter ist die aktuelle "Staatswerdung" Afghanistans unter den Taliban. Dort wird gerade ein Polizeistaat aufgebaut. Offiziell hat man Mitarbeitern der alten Regierung eine Art Amnestie zugesagt. Ob das stimmt, werden wir sehen, denn viele dieser Betroffenen trauen sich - ich habe es bereits erwähnt - nicht mehr an ihre alten Arbeitsplätze zurück. Alle haben Angst. Bei den Militärpiloten - darunter gibt es auch eine Frau - wird es ähnlich sein. Und bei den vielen Beamten, die die Taliban zur Aufrechterhaltung der Verwaltung brauchen, auch. Zudem können sie mit den erbeuteten Waffen nicht viel anfangen. Größere Systeme brauchen gut ausgebildete Soldaten, laufende Wartung und Nachschub. Oft scheitert es schon beim Verständnis für die komplexe Software, mit der moderne Waffen betrieben werden. Damit all das funktioniert, brauchen die Taliban Beziehungen, insbesondere Wirtschaftsbeziehungen ins Ausland. Allein schon, um in Zukunft das eigene Volk zu ernähren. Wenn nun die große Hungersnot ausbricht, dann wird sich das uralte Prinzip des Aufstands gegen sie selbst richten. Die Taliban stehen jetzt im Land massiv unter Druck, auch zu liefern.

Das Regime der Taliban ist nicht in Stein gemeißelt?
Nein. Sie können sich alleine nicht halten, brauchen für ein längerfristiges Bestehen Unterstützung. In Afghanistan sind Wasser und Weideland knapp. Kabul quillt aufgrund der Landflucht über vor Menschen, die ernährt werden wollen. Lebensmittel sind aber jetzt schon Mangelware.

Das Bundesheer bildete Soldaten der afghanischen Armee im Gebirgskampf aus. Heute wissen wir, dass die offiziellen Truppen rasch von den Taliban besiegt waren. Schlug die Ausbildung fehl?
Solche Einsätze tragen immer ein hohes Risiko, zu scheitern, wenn das politisch-strategische Umfeld negativ ist. Insgesamt machte Österreich in Afghanistan gute Arbeit entsprechend des Mandates und sorgte in der ersten Phase für ein sicheres Umfeld, in dem sich eine relativ starke afghanische Zivilgesellschaft und Medienlandschaft entwickeln konnte. Diese können die Taliban nicht so einfach auslöschen. Darauf, ob jemand die militärische Ausbildung annimmt, sie nutzt wie vorgesehen oder sich unmittelbar danach dem Widerstand anschließt, hat man wenig Einfluss.

Wer wird die USA und den Westen nun in Afghanistan ablösen?
Alle, die derzeit noch Botschaften in Betrieb haben: China, Russland, Pakistan, Saudi-Arabien, die Emirate, Iran und die Türkei. All diese Länder werden ihre Unterstützung an Bedingungen knüpfen. Und auch der Einfluss der UNO wird wohl wachsen.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 34/21