Ärztliches Versagen im Fall Lanzinger:
Deutscher Arzt nennt alle Operationsfehler

Mangelhafte medizinische Ausstattung in Lillehammer Eingriff durch österreichischen Chirurgen kam zu spät

Der im vergangenen März beim Super-G in Kvitfjell schwer gestürzte österreichische Skirennläufer Matthias Lanzinger ist nach seiner Überstellung in die Universitätsklinik Ulleval in Oslo nicht den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend versorgt worden. Zu diesem Schluss kommt Bernd Steckmeier, Leiter der Gefäßchirurgie am Klinikum München, in einem 54 Seiten starken fachärztlichen Gutachten.

Steckmeier zeigt darin Versäumnisse und Verwechslungen vor bzw. bei den ersten operativen Eingriffen in Norwegen auf. Sein Fazit: "Es liegt ein Behandlungsfehler vor." Aufseiten des Veranstalters sieht der Sachverständige ein "Organisationsverschulden": Es hätte nicht passieren dürfen, dass Lanzinger zuerst ins Spital nach Lillehammer gebracht wurde, wo keine Möglichkeit zu einer adäquaten gefäßchirurgischen Behandlung gegeben war.

Nach mehreren mehrstündigen Operationen war dem 27-jährigen Sportler, der bei seinem Sturz einen offenen Schien- und Wadenbeinbruch sowie Gefäßverletzungen erlitten hatte, am 4. März der linke Unterschenkel amputiert worden. Zur Frage, ob dies bei ordnungsgemäßer Behandlung vermeidbar gewesen wäre, räumt Steckmeier zwar ein, beim Patienten habe bereits ein fortgeschrittenes und ausgedehntes Unterschenkeltrauma mit Verletzung aller dreier Unterschenkelgefäße vorgelegen.

Mangelhafte medizinische Ausstattung
Matthias Lanzinger war nach seinem Sturz zunächst ins Krankenhaus Lillehammer gebracht worden, wo sich jedoch herausstellte, dass das erlittene Gefäßtrauma mangels medizinischer Ausstattung nicht versorgt werden konnte. Dabei war bei einem Meeting unmittelbar vor den Weltcup-Rennen in Kvitfjell dieses Spital als Krankenhaus der Versorgungsstufe 1 ausgewiesen worden, was gemäß den europäischen Standards die Möglichkeit einer gefäßchirurgischen Intervention miteinschließen hätte müssen.

An diesem Widerspruch und dem Umstand, dass Lanzinger per Hubschrauber weiter nach Oslo geflogen werden musste, wo die Erstoperation erst 4 Stunden und 16 Minuten nach dem Sturz beginnen konnte, übt Bernd Steckmeier in seinem Gutachten scharfe Kritik: "Bei einem derartigen Gefäßtrauma mit Verletzung aller drei Unterschenkelarterien muss eine möglichst umgehende Revaskularisierung (Wiederherstellung der Durchblutung, Anm.) erfolgen. Jede Zeitverzögerung verschlechtert die Prognose bezüglich des Erhalts der Extremität."

Der Sachverständige bezeichnet es als "nicht gerechtfertigt" und "schlechterdings unverständlich", dass Lanzinger zur Erstversorgung nicht sogleich in das besser ausgerüstete Spital nach Oslo gebracht wurde: "Der Veranstalter muss gefragt werden, wie es möglich war, einen Patienten mit dieser schweren Verletzung und dem ausgedehnten Gefäßtrauma in ein Krankenhaus verlegen zu lassen, in dem eine gefäßchirurgische Notfallversorgung nicht möglich ist." Durch "mangelhafte Organisation" wurde laut Gutachter "wertvolle Zeit bis zum ersten Gefäßeingriff vergeudet". Für ihn liegt daher ein "Organisationsverschulden" vor, wie es in der Expertise wörtlich heißt.

Eingriffe nicht fachgerecht
Die gefäßchirurgischen Eingriffe in Oslo beschreibt Steckmeier als nicht fachgerecht. Er bemängelt, dass vor der ersten Operation von einer Angiographie (Darstellung von Blutgefäßen, Anm.) Abstand genommen wurde, weshalb nicht erkannt worden sei, an welches Gefäß der Bypass überhaupt angelegt wurde. Während laut OP-Bericht der primäre Bypass im Bereich der hinteren Schienbeinschlagader gelegt worden sein soll, wurde dieser in Wahrheit an der Wadenbeinschlagader angebracht, wie sich im Nachhinein anhand eines makroskopischen Befunds des beschlagnahmten Unterschenkelamputats nachweisen ließ.

Für Steckmeier ist damit ein eindeutiger Fehler der norwegischen Ärzte evident, da die Wadenbeinschlagader weniger zur Blutversorgung des Fußes beitrage als jene am Schienbein und diese daher erst bei Ausschluss anderer Bypassmöglichkeiten herangezogen wird: "Schon aufgrund dessen muss festgehalten werden, dass der gefäßchirurgische Eingriff nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wurde."

Eingriff durch österreichischen Gefäßchirurgen kam zu spät
Die Ärzte sahen bei Lanzinger auch während der Operation keine Notwendigkeit einer Angiographie, obwohl eine solche laut Steckmeier heutzutage als "unverzichtbar" gilt, um die Blutversorgung des Unterschenkels und des Fußes laufend beobachten zu können.

Nach mehreren langwierigen Eingriffen, die allesamt keine Wiederherstellung der Durchblutung bewirkten, wurde schließlich der österreichische Gefäßchirurg Thomas Hölzenbein nach Norwegen geflogen, der 31 Stunden nach dem fatalen Sturz eine weitere Operation in die Wege leitete, wobei nun erstmals eine Angiographie zum Einsatz kam. Hölzenbein erkannte in weiterer Folge, dass die primäre Bypassanlage nicht wie im OP-Bericht seiner Kollegen angegeben vorgenommen worden war. Er legte daher in einem fast vierstündigen Eingriff einen sogenannten Non-reversed-Bypass an der Scheinbeinschlagader.

Der Maßnahme blieb der erwünschte Erfolg versagt, wie Hölzenbeins Münchner Kollege jetzt in seinem Gutachten skizziert. "Dieser Eingriff musste aufgrund des primär unnötigen Zeitverlusts (Umweg über Lillehammer nach Oslo) und der nach mehrfachen frustranen Gefäßrevisionen extrem prolongierten Ischämiezeit letztendlich zu spät kommen. Die Muskulatur war zu diesem Zeitpunkt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits irreversibel geschädigt, so dass die Anlage dieses lege artis angelegten Bypasses ebenfalls versagen musste", bemerkt Steckmeier.
(apa/red)