Warum trauern sie nach einer Abtreibung?

Jochen und Marion sind Mitte zwanzig und wollen Kinder. Aber noch nicht gleich. In ihrem Lebensplan ist das erst später geplant. Marion wird schwanger und muss abtreiben. Muss sie?

von Liebes Leben - Warum trauern sie nach einer Abtreibung? © Bild: Nathan Murrell

In meine Praxis kommt ein Paar vollkommen ratlos und niedergeschlagen einige Wochen nach einer Abtreibung. "Sie dreht mir seitdem das Wort im Mund um", klagt Jochen. "Er ist gereizt und impulsiv", kontert Marion. Die Beziehung wird jetzt hart auf die Probe gestellt. Einvernehmlich hatten sie nach langem Hin und Her eine Abtreibung beschlossen, als Marion überraschend ungewollt schwanger geworden war. Das sei eine Vernunftentscheidung gewesen, erklären die beiden. Sie fragen: "Warum sind wir traurig statt erleichtert, wo es doch für uns am besten war?"

Und jetzt? In der Bioethik wird das Potentialitätsargument dem Utilitarismus des australischen Philosophen Peter Singers gegenübergestellt. Während Singer in seinem ebenso berühmten wie berüchtigten Werk "Praktische Ethik" eher großen Menschenaffen und Delfinen Personenrechte einräumt als Säuglingen der Spezies Mensch, ziehen Anhänger des Potentialitätsarguments mit praktischen Argumenten gegen die Abtreibung zu Felde: Bereits in der Zygote seien alle Anlagen der späteren Person angelegt. Niemand habe das Recht, die Entwicklung zum neugeborenen Baby und zur späteren Person aufzuhalten. Singer machte Rechte wie das auf Respekt vor der Autonomie nicht an der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch sondern an Fähigkeiten fest wie der, Pläne zu schmieden.

Und nun? Nun geht es Marion und Jochen trotz ihrer autonomen Entscheidung so richtig schlecht. Während Marion sich mit einem im Internet bestellten Stillkissen immer mehr in die Trauer zurückzieht, hadert Jochen damit, auf ihr früher lebendiges Sexleben verzichten zu müssen. Einzig der Hund der beiden schafft noch ein bisschen Leichtigkeit.

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Bei ihrer gemeinsamen Kopfentscheidung haben die beiden etwas übersehen: dass man Gefühle nicht einfach übergehen kann. Empfindungen, Gefühle, Emotionen sind da, auch wenn man sie verdrängt. Marion hatte durch die hormonelle Umstellung längst einen natürlichen Beschützerinstinkt gegenüber dem Ungeborenen entwickelt, was ihr nachträglich schmerzlich bewusst wird. Jochen fühlt sich demgegenüber hilflos und ohnmächtig. Beide trauern neben dem verlorenen Kind um das, was sie vorher hatten: ihr unbeschwertes Liebesleben. Nun braucht es Zeit und Geduld, die heranrollende Gefühlslawine zu überstehen und nicht verschüttet zu werden.

Das Fazit: Es lässt sich schwer in Worte fassen, worum Menschen trauern, die bewusst und aus freien Stücken zur Abtreibung gehen. Aber mir hat bis jetzt jede, wirklich jede betroffene Frau von einem Empfinden tiefer Verletztheit, innerer Leere und Zerrissenheit berichtet, auch wenn sie es für noch so vernünftig hielt, momentan kein Kind zur Welt zu bringen Und wenn das nicht, so doch ein Gefühl hoher Ambivalenz. Marions Körper, ihre Psyche und auch ihre Partnerschaft brauchen Zeit, um den Eingriff in den natürlichen Prozess einer Schwangerschaft zu verkraften.

Und jetzt? Atmen wir nach diesem tiefgehenden und polarisierenden Thema bitte tief durch und machen uns bewusst, dass dies keine reine Kopfsache, sondern immer eine Bauchentscheidung ist. Und das im buchstäblichen Sinn des Wortes.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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