Die 7 Todsünden der Unbildung

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann formuliert für News sieben Todsünden

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann ist ein Star, der sein Fach mit Besteller-Effekt ins öffentliche Bewusstsein rückt. Sein neues Buch trägt die Erregung im Titel: "Bildung als Provokation"

von KULTUR - Die 7 Todsünden der Unbildung © Bild: News Vukovits Martin

Wenn Konrad Paul Liessmann philosophiert, wird die Philosophie wieder zur Weltsprache, die sie einmal war. Dem in Kärnten geborenen Professor an der Wiener Universität ist gelungen, was seine Kollegen Richard David Precht in Deutschland und Jostein Gaarder in Norwegen erreicht haben: Seine Bücher erreichen Bestsellerrang, etwa wenn er - wie zuletzt -mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier Märchen und Mythen auf die Fragen der Menschheit hochrechnet.

Sein Kernanliegen aber ist die Bildung, und er beschränkt sich dabei nicht auf das Schulsystem, das die Literatur zugunsten angeblich nützlicherer Materien -etwa das Verfassen von Leserbriefen -zurückfährt: Sein neues Buch identifiziert Bildung als Provokation, weil sie dem Ziel des marktkonformen Menschen entgegenwirkt. Für und mit News formulierte Liessmann die sieben Hauptvergehen.

1. Kompetenz statt Bildung

Kompetenzorientierung, dieses moderne Schlagwort ist nicht Bildung, wie manche glauben. Sie verdrängt die Bildung, denn das Verhältnis zwischen Bildungsanspruch und Kompetenz wurde sinnwidrig umgedreht: Die formalen Fähigkeiten wurden zu den eigentlichen Zielen erklärt. Und das, wofür man diese Fähigkeiten eigentlich erwerben soll - wichtige Bücher lesen, große Kunstwerke verstehen, grundlegende wissenschaftliche Theorien nachvollziehen, umstrittene Statistiken entschlüsseln zu können -, wird zurückgedrängt.

Wenn man Debatten wie kürzlich die zwischen Kern, Kurz und Strache verfolgt, wird Bildung nur unter einem Aspekt gesehen: Fitmachen für die Arbeitsplätze. Das ist selbstverständlich notwendig: Wenn Menschen mit 15 oder 18 Jahren das Bildungssystem verlassen, sollen sie auch in der Arbeitswelt überleben können. Aber Bildung darauf zu reduzieren, macht sie zu einem Anhängsel höchst unsicherer ökonomischer Erfordernisse, statt dass wir überlegen, welche Persönlichkeiten wir brauchen, mit welchen Grundhaltungen sie die Schule verlassen und wie sie auf unterschiedliche Situationen angemessen reagieren können. Wilhelm von Humboldt hat zwei Konstanten der Bildung formuliert: einmal die Freiheit -aber im Zuge unserer Kompetenzorientierung wird jeder Schritt normiert und vorgegeben, sogar die Wortanzahl in Deutschaufsätzen. Und dann: die Mannigfaltigkeit der Situationen. Daher ist jede Form der Eindimensionalität von Übel.

2. Effizienz statt Bildung

Gegen Effizienz als Prinzip ist wenig zu sagen. Wenn Dinge erledigt werden müssen, soll das effizient geschehen. Aber Bildung hat mit dieser Idee nur am Rande zu tun, weil zur Bildung wesentlich die Persönlichkeits-und Charakterbildung gehört.

Dazu braucht es ein Wissen, das nicht genau darauf abgestimmt ist, wozu es einsetzbar ist. Keiner derjenigen, die jetzt an den Schalthebeln der Digitalisierung sitzen, wurde in seiner Jugend für diese Welt und für seine heutige Tätigkeit ausgebildet. Keiner von uns ist mit dem Computer aufgewachsen, aber jeder von uns beherrscht den Computer. Aber der kommenden Generation trauen wir nichts dergleichen zu? Wir meinen, sie dafür ausbilden zu müssen, was in 20 Jahren sein wird - aber niemand weiß, was in 20 Jahren sein wird. Man zieht aus der richtigen Beobachtung, dass sich die Arbeitswelt ändert und die Digitalisierung fortschreitet, die denkbar falschen Schlüsse: Es ist ein Verbrechen, junge Leute auf eine Schiene zu setzen, die in fünf oder zehn Jahren obsolet geworden ist, weil ein Heer von Programmierern durch künstliche Intelligenz ersetzt sein wird. Und ihnen dafür das wegzunehmen, was in fünf oder zehn Jahren immer noch bestehen wird: nämlich die Fundamente unserer Kultur, unserer Wissenschaft, unserer Ethik und unseres Weltverständnisses.

»Volksschüler mit Tablets zu behelligen, ist sinnlos«

Ich weiß nicht, ob es in 20 Jahren noch ein Tablet-ähnliches Gerät geben wird. Deshalb halte ich es für sinnlos von der Bildungsministerin, Volksschüler damit zu behelligen. Aber ich weiß mit ziemlicher Sicherheit, dass man sich in 20 Jahren noch über Shakespeare -dessen Namen ein heutiger Englisch-Maturant kein einziges Mal gehört zu haben braucht -den Kopf zerbrechen wird.

3. Korrektheit statt Erziehung

Wesentlicher Bestandteil der Bildung war früher ein solides Wissen. Dass man niemanden beleidigen soll und auch konträre Positionen in einem zivilisierten Tonfall formulieren kann, hat man früher gute Erziehung genannt. Die gute Erziehung wurde abgeschafft und durch die politische Korrektheit ersetzt. Darüberhinausgehend ist politische Korrektheit nichts anderes als der Ausdruck fundamentaler Unbildung. Wenn ich nichts weiß, bin ich froh über jede klare Regel, die mir sagt, was ich sagen und nicht sagen, denken und nicht denken darf.

»Politische Korrektheit ist Ausdruck der Unbildung«

In den aktuellen Sprachvorschriften ist die Unbildung schon eingenistet. Zu meiner Gymnasialzeit haben wir uns im Geschichtsunterricht ein halbes Jahr lang mit dem Islam beschäftigt. Wenn man über diese Religion eine fundierte Bildung hat, wird man in viele der Debatten, wie sie heute geführt werden, gar nicht erst einsteigen. Aber man kann nicht einerseits darüber frohlocken, dass sich die Welt ändert und die Migration wunderbar ist - aber andererseits agieren, als änderte sich nichts. Menschen, die aus guten Gründen für eine offene Migrationsgesellschaft plädieren, sind nicht zur Diskussion darüber bereit, wohin sich die Migrantenkulturen entwickeln sollen: z.B. zu einem westlichen Islam, der sich bruchlos in unser Rechts-und Gesellschaftssystem einfügt - oder in Parallelgesellschaften, die keineswegs Schreckgespenster sein müssen. Dass man darüber keine offene Debatte führen darf, dass sofort überlegt wird, in welches Eck man zu stellen ist, wenn man eine Frage stellt: Das ist das Übel. Wer ein bisschen mit der Schulrealität zu tun hat, weiß, dass jedem Sechzehnjährigen klar ist, was in ideologischer Hinsicht von ihm erwartet wird. Damit entsteht eine Gesinnungskonformität, wie sie in den Fünfzigerjahren nicht schlimmer war.

4. Alle sind gleich

Unser Bildungssystem möchte seine Absolventen am liebsten vom Kommunismus in die Marktwirtschaft schicken. Aber es ist nicht sinnvoll, alle gleich zu machen! Wenn die Grünen sagen: "Jedes Kind ist sehr gut", so ist das schlicht falsch. Es suggeriert: Böse Mächte verhindern, dass jedes Kind sehr gut sein kann. Ebenso könnte man plakatieren: "Jeder Österreicher ist Milliardär." Bildung soll Grundkenntnisse und Grundfähigkeiten vermitteln. Wir aber befinden uns in dem Irrtum, Bildung mit Akademisierung zu verwechseln. Obwohl doch auch alle anderen Berufe von sehr gebildeten Menschen ausgeübt werden können. Warum soll es keinen Installateur geben, der sich für klassische Musik interessiert? Mit welcher dummen Arroganz unterstellen wir dem Installateur, dass er nur den letzten Trash hört?

5. Bewegungen statt Parteien

Mit Unbehagen beobachte ich die Desavouierung des Parteibegriffs. Natürlich haben Parteien ihre Vor-und Nachteile wie alles auf der Welt. Aber im Wort "Partei" steckt lateinisch "pars -der Teil". Jede Partei repräsentiert also einen Teil der Bevölkerung, der politischen Positionen und möglichen Lösungsvorschläge: Der Staat ist das Ganze, aber Teilorganisationen übernehmen die Durchführung.

Bewegungen hingegen erheben den beunruhigenden Anspruch, ein Interesse zu universalisieren. Das wirft man ja dem Rechtspopulismus vor: dass sich jemand zum Repräsentanten des ganzen Volks und der Nation aufwirft. Bewegungen irritieren mich, und ich nehme diejenige, der ich selber entstamme, nicht aus. Ich meine die Achtundsechziger. Wir haben uns als außerparlamentarisch und unkontrollierbar verstanden und diesen unangenehmen Alleinvertretungsanspruch gestellt. Wir haben geglaubt, die gesamte Arbeiterklasse zu repräsentieren. Aber die Arbeiterklasse hat uns etwas gepfiffen.

6. Die Macht den Maschinen

Schon in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wurde von dem in Wien lebenden großen Philosophen Günther Anders davor gewarnt, dass uns technische Geräte überflügeln und zu überflüssigen Anhängseln degradieren werden. Damals hat man ihn ausgelacht, heute lacht niemand mehr: Offenkundig werden immer mehr Tätigkeiten von Maschinen erledigt, und zwar schneller und präziser als von Menschen.

»Es wäre fatal, würden wir uns auf einen Wettlauf mit den Maschinen einlassen«

Es wäre aber fatal, würden wir uns auf einen Wettlauf mit den Maschinen einlassen. Das ist der falsche Ansatz. Richtig wäre, sich zu überlegen, was uns für ein einigermaßen sinnvolles menschliches Leben so wichtig ist, dass wir es uns von Maschinen nicht abnehmen lassen wollen. Jeder Kundige weiß, dass er sich jederzeit eine App herunterladen kann, die wesentlich besser Schach spielt, als er es je wird erreichen können. Die Frage ist allerdings, ob er sich deshalb die Lust am Schachspielen verderben lässt. Wo wollen wir überhaupt der Maschine die Macht einräumen? Im militärischen Bereich? In den Labors gibt es schon autonome Kampfroboter, die selbst militärische Entscheidungen treffen. Wollen wir die? Darüber ist der Diskurs zu führen: nicht, was die Maschine kann, sondern was der Mensch mit seinem Willen zulassen möchte. Das wäre Politik.

7. Der Fall der Grenzen

Die Emphase, Grenzen in beiderlei Bedeutung des Wortes abzubauen, ist allgemein verbreitet. Grenzen haben eine schlechte Presse, und ja: In der Grenzüberschreitung liegt viel Schönes. Das Verlockende einer Grenze liegt ja im Wissen, dass es dahinter noch etwas gibt. Es gibt allerdings auch aggressive Formen der Grenzüberschreitung. Der Aggressor ist ja der klassische Grenzüberschreiter, und zum Schutz des Menschen - vor allem des schwachen -ist die Grenze erfunden worden. Jede moralische Norm, jede Rechtsvorschrift ist eine Grenze: Was darf man tun und was geht nicht?

Manche Grenzen sind ohnehin unüberschreitbar: In ein von privaten Sicherheitsdiensten bewachtes Milliardärsviertel kommt man trotz aller Anstrengungen nicht hinein. Aber es gibt auch Grenzen, die Menschen ein Minimum an sozialer Sicherheit geben. Aktuellstes Beispiel: Die über Jahrhunderte hindurch verfolgten Kurden fordern ihren eigenen Staat, um sich durch Grenzen vor Verfolgung endlich schützen zu können.

»Wir sollten den schlechten Ruf der Grenze rasch korrigieren«

Und, welch ein Paradox: Die Millionen, die nach Europa emigrieren wollen, suchen hier das Leben innerhalb sicherer Grenzen, damit ihnen diejenigen, vor denen sie fliehen, nicht nachstellen können. Man fordert also offene Grenzen, um sich in starke Grenzen zurückziehen zu können. Wir sollten den schlechten Ruf der Grenze rasch korrigieren.

Auch der territorialen: Solange wir keine Weltgesellschaft haben -und von der sind wir weit entfernt -, müssen wir mit der Notwendigkeit von Grenzen rechnen und ihren Schutz sicherstellen.