Literaturstar Gerhard Roth
und seine Liebe zum Fußball

Fußball - völlig quergedacht: Schriftsteller Gerhard Roth geht ins Stadion, weil er es als Bühne des Allzumenschlichen und der Abgründe betrachtet. Spiele sieht er oft zweimal, um sie richtig zu lesen. Seinem Klub Sturm Graz hält er seit sieben Jahrzehnten die Treue. Ja sogar in Arnautović entdeckt er literarische Schönheit!

von Euro Spezial - Literaturstar Gerhard Roth
und seine Liebe zum Fußball © Bild: News/Ricardo Herrgott

Nach dem Testspiel gegen die Slowakei, das null zu null endete, haben die Medien in Hinblick auf die Europameisterschaft ja bereits den nationalen Notstand ausgerufen. Herr Roth, wie schlimm ist die Lage denn wirklich?
Also, dieses Foda-Bashing lehne ich vollkommen ab. Ein Testspiel ist ein Experiment, wo die aktuelle Form einzelner Spieler knapp vor dem Turnier noch einmal überprüft werden kann. Ich habe Foda als exzellenten Fußballer kennengelernt, als er bei Sturm Graz Innenverteidiger spielte, dann sah ich ihn dort als Trainer heranwachsen: Er ist äußerst gewissenhaft und sehr genau. Und eines muss man doch auch einmal sagen: Foda ist ein ausgezeichneter Trainer. Er hat es aus eigener Kraft geschafft, sich mit dem Nationalteam für die EM zu qualifizieren, das ist zuvor nur Koller gelungen.

Was ist der Teamchef denn für ein Typ?
Ich bin nicht mit ihm befreundet, aber ich kenne ihn doch ein bisschen. Ich glaube, er ist viel verletzlicher und sensibler, als er das bei seinen öffentlichen Auftritten zeigt. Diese Sensibilität ermöglicht es ihm aber, sich in die Spieler einzufühlen. Weil ich schon über 70 Jahre zu den Matches gehe, habe ich einen Platz am Präsidententisch von Sturm, da sitzen dann Spieler, Trainer, manchmal sogar Schiedsrichter -nur den Foda, den habe ich dort noch nie gesehen, dafür ist er zu zurückhaltend.

Die österreichische Journaille schenkt dem Piefke ein, das ist doch ein klassischer Reflex, oder?
Wenn wir die Haltung der heimischen Sportjournalisten zu den Teamchefs betrachten, so hat es zum Ende hin immer übel ausgeschaut: Von Leopold Šťastný abgesehen, war sich die Presse in der Schlussphase bei so ziemlich allen einig, dass sie "Deppen" sind. Dieses Spiel mit den Erwartungen ist völlig unsachlich, die Sportpresse tut manchmal so, als hätte sie es mit einem lethargischen, entmündigten Publikum zu tun, das von den Journalisten aufgeputscht werden muss. Die Lieblingsfigur der Schlechtmacher ist Alaba -der gegen die Slowakei übrigens hervorragend spielte, seine Passes kamen an, seine Dribblings waren gut. Er ist ein Mann, der das Spiel perfekt lesen kann. Aber was habe ich über den nicht schon Negatives gelesen!

Ein Spiel lesen - wenn das ein Literat nicht kann, wer dann?
Ich versuche es zumindest. Manchmal auch, indem ich mir ein Spiel zum zweiten Mal ansehe. Ich merke: Wenn ich ein Spiel live verfolge, bin ich viel kritischer. Beim zweiten Mal verfällt man dann in eine andere Art des Schauens, weil einem die ersten Emotionen nicht mehr den Blick verstellen, es verschieben sich dann die Wertungen und Beurteilungen.

Gibt es denn im österreichischen Fußball Figuren mit literarischem Potential?
Oh ja, Arnautović etwa hat ja bereits eine lange Karriere hinter sich, er war am Anfang eher ein Ungustl, der dann aber enorm gewachsen ist. Jetzt hat er eine Familie, und das scheint ihn in eine andere Dimension gehievt zu haben: Heute ist er ein Zauberer, der am Platz viel Energie verströmt und das auch sichtbar macht. Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum Foda ihn im Test gegen die Slowaken nicht zumindest für 15 Minuten gemeinsam mit Kalajdzic im Sturm ausprobierte -aber vielleicht will sich Foda nicht in die Karten schauen lassen.

Weltmeisterschaften und Europameisterschaften sind traditionell eine Hochzeit für Chauvinismen aller Art. Wie kann man sich das bei Ihnen vorstellen: Beine hoch, und die Gattin serviert Chips und Bier?
Also mit dem Trinken musste ich leider aufhören -früher habe ich Wein getrunken, Mischungen. Und die musste mir nicht meine Frau bringen, die habe ich mir selber vorbereitet, bevor das Spiel begonnen hat. Meistens sitze ich aber konzentriert da, sehe mir das ganze Spiel an und kommentiere es für mich selbst mit lauten Zwischenrufen: "Abgeben!" oder "Schneller!" Was mich ärgert, ist dieses Ballschupfen hinten in der Verteidigung, das halte ich für völlig überflüssig. Barcelona betreibt das in Kombination mit einem plötzlichen, schnellen Pass in die Tiefe, aber bei uns ist das wie Fleckerlteppich, der ein Stückerl ums andere erweitert wird, um dann irgendwo abzureißen.

Sie wurden fußballerisch sehr früh sozialisiert, gehen bereits seit gut sieben Jahrzehnten ins Stadion. Wie kann einer, der Rot sogar im Namen trägt, nur ein Schwarz-weißer werden?
Mein Bruder war GAK-Fan, und ich habe ihn gut und gerne 50 Mal auf den Platz in der Korösistraße begleitet. Aber solche Begeisterungsstürme wie beim Arbeiterverein Sturm habe ich dort nie erlebt. Da waren eher Hofräte mit ihren Fellapplikationen an den Mantelkrägen, die saßen dort mit Hüten und riefen ab und zu auf Hochdeutsch etwas hinein wie: "Schleiche dich." Das war das Höchste der Gefühle. Da dachte ich mir, ich bin im falschen Film. Aber dennoch ist ein GAK-Anhänger nie mein Feind, im Grunde teilen wir dieselbe Krankheit, nur hat der Ausschlag jeweils eine andere Farbe. Ich war acht Jahre alt, als ich mit meinem Vater und meinem Großvater zum ersten Mal zu Sturm gegangen bin: Damals haben wir gegen Wiener Neustadt neun zu null gewonnen, und der Mittelstürmer Denk - was für ein wunderbarer Name -hat fünf Tore geschossen. Da war meine Entscheidung dann logisch.

Im Jahr 2016 wurden Ihnen zwei große Preise zuteil, einerseits wurden Sie mit dem "Großen Österreichische Staatspreis" ausgezeichnet, andererseits zum "Ehrenbotschafter" des SK Sturm Graz ernannt. Welcher war denn bedeutender?
Das lässt sich schwer miteinander vergleichen, denn der eine betrifft meine berufliche Existenz, und da war der Staatspreis schon sehr erfreulich. Aber der andere, der andere, der trifft das Kind in mir! Und als Kinder hatten wir ja kaum Spielzeug, da blieb uns eigentlich nur noch der Sport übrig. Wir hatten ja noch nicht einmal richtiges Gewand: Meine Mutter hat mir ihre Pyjama- Jacke gegeben, sie hatte einen Gelbton und war mit schwarzen Kirschen bedruckt -das war meine Fußballkleidung. Zwei Häuser weiter gab es in einer Industriebaracke eine Art Hemdenfabrik, dort hat man uns aus den Stoffresten Fußbälle gemacht: ein Fetzenlaberl, vier Stöcke in der Erde als Torstangen -und fertig.

Fußball, das ist für Sie glückhafte Kindheitserinnerung?
Nicht nur glückhaft -es gab auch heftige Streitereien, und es gab, da meine beiden Brüder und ich perfekt aufeinander eingespielt waren, "große" Siege gegen gefürchtete Kinder aus der Gegend. Eines von ihnen war ein richtiger Schläger, der dann als Erwachsener zwei Frauenmorde beging, Stürzl hat der geheißen. Der hat mich einmal in ein Maisfeld gezerrt und hat mich dort doch tatsächlich gewürgt. Doch ich brachte ihn dazu, davonzulaufen, indem ich blind auf ihn eingeschlagen habe.

Später starteten Sie ja eine richtige Vereinskarriere.
In der Sturm-Jugend II spielte ich genau ein Spiel als rechter Flügel und habe gegen die Austria Graz sogar ein Kopftor gemacht. Dann bin ich aber, als sich unser Tormann verletzte, in den "Kasten". Und da ich auch in der Handball-Schulauswahl im Tor stand, hieß es: "Du bleibst drinnen!" Bald darauf musste ich aber zum Grazer Sportklub wechseln, weil mir in der Sturm-Umkleidekabine das Geld für den Latein-Nachhilfelehrer gestohlen worden war. Da ließ mich mein Vater nicht mehr hingehen - auch wenn wir als Zuschauer auch weiterhin den Sturm-Platz besucht haben.

Und Ihre Karriere als Aktiver?
Bei einem Spiel der steirischen Jugendauswahl, für die ich nominiert wurde, gegen die Erwachsenenmannschaft von Waltendorf wurde ich bei einem Corner massiv bedrängt, ein Gegenspieler hat mir mit dem Knie in die rechte Niere getreten, sodass ich keine Luft mehr bekam und mich neben dem Tor übergeben musste. Dann fuhr ich noch im Regen mit dem Fahrrad nach Hause. Tags darauf hat mich mein Vater, ein Arzt, untersucht -und führte mich umgehend ins Spital, wo ich einen Monat lang blieb: Die Niere war entzündet und vier Finger breit heruntergerissen, noch heute liegt sie tiefer als die andere. Daraufhin habe ich mit dem aktiven Fußball aufgehört.

Und Ihnen blieb nur noch die Zuschauerrolle. Was empfinden Sie in diesen zwei Stunden eines Spiels?
Es ist für mich eine völlig andere Welt der Leidenschaften. Ich kann ein ganzes Match hindurch schimpfen oder bester Laune sein -Fußball löst in mir stets eine unvorhersehbare Grundstimmung aus, die vom Alltag völlig abgekoppelt ist.

Fußball - ist das für Sie pures Glück?
Eigentlich Ja. Aber auch ein Zustand absoluter Faszination, zumal ich im Stadion auch Vieles über die menschliche Seele kennenlernte: Ich sah dort zum ersten Mal Schlägereien unter Erwachsenen, ich sah Betrunkene, Schreiende, Glucksende, Jubelnde. Dort, wo wir am alten Sturm-Platz, in der "Gruabn" zuschauten, auf der Stehplatztribüne Nord, war immer auch ein alter Mann auf zwei Krücken, der sich bei Fehlentscheidungen des Schiedsrichters oder außerordentlich gelungenen Aktionen regelmäßig anpisste. Die Leute, die um ihn herum standen, sagten dann nur: "Oioda, host scho wida g'schifft?!" Aber man ist dennoch gut mit ihm umgegangen, machte um ihn herum ein bisserl Platz und raunte einfach nur: "Ojeeeee!". Und er: "I hob jo nix g'mocht." Grundsätzlich war es früher aber schon rauer, heute geht es ja vergleichsweise wie im Kindergarten zu. Seit die Stadien ausschließlich Sitzplätze haben, hat sich das alles beruhigt.

Und dennoch: Rauch-und Alkoholschwaden, enthemmtes Gebrüll, in weiterer Folge Hooliganismus und ritualisierte Gewalt, Stadionmilieus sind doch unheimlich primitiv. Warum gefällt das einem Feingeist wie Ihnen?
Also ich habe mich dort immer wohl gefühlt - dafür bin ich nie Tanzen gegangen. Ich habe immer den Menschen in seiner Unmittelbarkeit gesucht, und bitte sehr, Shakespeare war ja auch kein Feingeist, der hat schon auch ausgeteilt. Wenn die Menschen im Stadion ihre Seele gezeigt haben und ihre Abgründe, das war für mich als junger Mensch genauso faszinierend wie das Spiel selbst. Auf einmal habe ich gesehen: Das ist die Welt der Erwachsenen. Zuerst war das mit Schrecken verbunden, wer sieht schon gerne einen sich übergebenden Menschen oder zwei, die wütend aufeinander einschlagen?

Vermag Fußball trotz allem, den ganz alltäglichen Lebensschmerz zu lindern?
Gegenfrage: Versteht jemand, der nicht trinkt, jemanden, der trinkt? Eher nicht, denn er hat noch nicht erfahren, wie das ist, wenn die plötzliche Euphorie kommt, wenn man klassenlos mit anderen Menschen an einem Tisch beisammen sitzt. Mit Bauern, Arbeitern, Akademikern, egal. Diesen Zustand habe ich stets als beglückend empfunden, weil ich das Trinken später besser beherrschen konnte. Im Großen und Ganzen war das für mich noch immer eine positive Lebenserfahrung. Beim Fußball erlebe ich Ähnliches, und ich merke, dass mir dieses Abschalten gut tut.

Wir alle brechen im Laufe des Lebens mit Menschen und Institutionen, lassen uns scheiden, wechseln den Job, treten aus der Kirche aus. Nur im Fußball gibt es eine devote, bedingungslose Vereinstreue. Absurd, oder?
Wäre es - wenn es stimmen würde. Mein Freund Wolfgang Bauer war etwa ursprünglich GAK-Anhänger und wurde dann, unter der Ära von Ivica Osim, zum glühenden Sturm-Anhänger, weil ihm die Art, wie Osim spielen ließ, so gut gefallen hat. Sie haben ihm sogar für zwei Jahre eine Freikarte geschenkt. Da sind wir am Fußballplatz nebeneinander gesessen, das war eine wirklich schöne Zeit. Der Wolfgang Bauer war eben ein Bekehrter. Und Bekehrte können manchmal sogar noch radikaler werden als Mitglieder - oder zumindest emotional eingestimmter.

Die einzige Liebe, die praktisch Ihr gesamtes Leben hindurch hielt und hält, ist jene zum Fußball und zu Sturm Graz.
Und jene zum Schreiben und jene zur Familie.

Aber gibt es beim Fan Gerhard Roth denn niemals diese Momente, in denen man sich selbst von außen betrachtet und ernstlich fragt, was man da am Fußballplatz bei diesem oder jenem Mostkick eigentlich tut?
Einmal, nur ein einziges Mal passierte mir das: Es war noch im alten Liebenauer Stadion, wir spielten gegen den Wiener Sportklub, die Gäste führten bereits zur Pause mit zwei zu null, und wir gingen zur Getränkehütte und sind dort geblieben, um das Spiel nicht mehr weiter anzuschauen zu müssen, sondern haben stattdessen begonnen, massiv Bier zu trinken. Am Ende hatten wir drei zu zwei gewonnen, ich bin angetrunken nach Hause gekommen und habe mir gedacht: Wenn ich von jetzt an regelmäßig vor der Bierhütte stehe und mich beim Match betrinke, gewinnen wir. Konsequent zu Ende gebracht habe ich das dann aber nicht.

Erklären Sie mir bitte das Phänomen Cordoba - da ist Österreich schon fix aus dem Turnier raus, und die einzige Freude besteht darin, dass die Deutschen nach dem Match auch draußen sind. Können Sie das nachvollziehen?
Ja, natürlich. Die Deutschen hatten einen grottenschlechten Tag erwischt und wir einen Bombentag - die Freude besteht für mich darin, dass wir verdient gewonnen haben. Ich hatte damals einen deutschen Schriftstellerkollegen und dessen Freund zu Gast, und die haben sich so geschämt, dass es schon wieder ein Genuss war. Das ist ähnlich wie beim Salzburger Vorortklub Grödig gewesen, der plötzlich in der ersten Liga war und gegen die Millionenstadt Wien spielte. Meist sieht man ja relativ rasch, dass der Kleine keine Chance hat, deswegen ist das eine oder andere Wunder dann umso bedeutender. Wobei: Ich hasse es, wenn im Stadion etwa "Wie-ner Schwei-ne!" skandiert wird und sich Suff und Fanatik gegen den vermeintlich übermächtigen Gegner richten.

Kippt Ihre Fußballbegeisterung manchmal nicht bereits ein wenig ins Religiöse?
Nein, definitiv nicht. Auch wenn Erzbischof Lackner - vormals in Graz, jetzt in Salzburg -am Fußballplatz sogar mein Freund geworden ist. Bei einem Spiel saß er zufällig neben mir, als plötzlich das Flutlicht ausfiel. Da kamen wir ins Reden, und da ich gerade an dem Romam "Grundriss eines Rätsels" schrieb, in dem ein Pfarrer seinen Glauben verliert, fragte ich ihn: "Warum hat Gott den Satan erschaffen, wenn ihm als Allwissenden doch klar gewesen sein musste, welche Folgen das für die Menschen haben werde?" Er sagte: "Das müssen wir einmal in Ruhe besprechen." Dann trafen wir uns hier in unserem Garten, er kam gemeinsam mit einem Freund, der Theologe ist, und wir sprachen drei Stunden über das Thema. Dann stand er auf und sagte: "Auf diese Frage gibt es keine Antwort." Dann haben wir gemeinsam ordentlich gegessen und sind seither Freunde geblieben.

Gott hin, Teufel her, und wer wird Europameister?
Dänemark ist für mich ein Geheimfavorit. Dann kommt noch die Mittelmeerseite mit Spanien, Portugal Frankreich und Italien in Frage - und natürlich auch Deutschland.

Kommt Österreich über die Vorrunde hinaus?
Warum denn nicht? Es steigen ja auch einige Drittplatzierte auf.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (23/2021) erschienen.