100 Jahre "Ulysses"

Geburtstag des Meisterwerks von James Joyce

von James Joyce Statue in Triest © Bild: imago images/CSP_Bepsimage

Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen." Mit diesem Satz beginnt der Roman "Ulysses" des irischen Schriftstellers James Joyce. Es ist acht Uhr morgens. Stephen Dedalus, der sein Medizinstudium in Paris abgebrochen hat, der Medizinstudent Buck Mulligan und der Student Haines aus Oxford frühstücken in ihrer gemeinsamen Wohnung. Nach 1.000 Seiten endet das Buch. Es ist zwei Uhr nachts, 18 Stunden später. Erschöpft schläft Leopold Bloom neben seiner Ehefrau Molly. Sie spielt in Gedanken ihren Tag noch einmal durch, denkt an Boylan, ihren Geliebten, und an Bloom. Ihr Monolog endet mit der Erinnerung an Blooms Heiratsantrag und ihre Antwort ist: "Ja, ich will, ja."

40. Geburtstag

Am 2. Februar 1922, am 40. Geburtstag des Autors, erschien die Erstausgabe in einer Auflage von 1.000 nummerierten Exemplaren. Verlegerin war Sylvia Beach, die Besitzerin der Buchhandlung Shakespeare and Company in Paris, nachdem alle Verlage das Manuskript abgelehnt hatten.

Die Handlung des Romans spielt an einem einzigen Tag, am 16. Juni 1904. Der Held, der Anzeigenverkäufer Leopold Bloom, geht wie Odysseus auf eine Reise, die an diesem Tag um acht Uhr früh beginnt und um zwei Uhr nachts endet, und ihn durch den Alltag in Dublin führt. Er wollte, schrieb Joyce: "ein so vollständiges Bild von Dublin vermitteln, dass die Stadt, wenn sie eines Tages plötzlich vom Erdboden verschwände, nach meinem Buch wieder aufgebaut werden könnte." Joyce wählte den Tag in Erinnerung an sein erstes Treffen mit seiner späteren Lebensgefährtin Nora Barnacle, einem damals 20-jährigen Zimmermädchen im Dubliner Finn' s Hotel. Am Abend d e s 16. Juni 1904 spazierten die beiden durch Dublin. Ein paar Jahre später erinnert er mit einer detaillierten Schilderung des sexuellen Abenteuers dieses Abends und schockt damit Rezensenten und Literaturfachleute seiner Zeit. Heute noch feiern Joyce-Fans jedes Jahr den 16. Juni als "Bloomsday" nach der Hauptfigur des Romans.

18 Kapitel

Das Buch hat drei Teile und 18 Kapitel. In den 18 Kapiteln begleitet Joyce mit Gleichnissen und Anspielungen auf das antike Vorbild "Odyssee" von Homer seinen Helden wie mit einer Filmkamera 18 Stunden lang durch Dublin. Das Werk widerspricht allen traditionellen Romanvorbildern. Blooms Tag ist voller humorvoller, trauriger und lustvoller Alltags-Erlebnisse. Er geht durch Zeitungsredaktionen, beobachtet eine Beerdigung, kauft Zitronenseife, besucht eine Bekannte, die gerade ein Kind zur Welt bringt und vergnügt sich mit erotischen Abenteuern am Strand. Banale Begegnungen des Alltags werden in einem revolutionären Stil verarbeitet, der allen literarischen Traditionen widerspricht.

Joyce Schreibstil ist photographisch, aggressiv und schonungslos, er verwirrt und erschreckt den Leser. Alle Einzelheiten dokumentiert er wie mit einer Filmkamera und der Roman macht Leopold Bloom zu einem der am detailliertest beschriebenen Charakter der Weltliteratur. Aufgrund der authentisch beschriebenen erotischen Episoden wird das Buch wegen "Pornografie" in den USA, Irland und England verboten, der Vorabdruck in einer amerikanischen Zeitschrift nach ein paar Folgen abgesetzt. Jahrelang kursieren in den USA geschmuggelte Exemplare und Raubdrucke, bis 1934 das Verbot aufgehoben wird.

Die Literaturwissenschaft definiert drei Gründe, warum der Roman so einmalig ist:

  1. Eine von Kapitel zu Kapitel sich ändernde Erzähltechnik bis zu einem 40-seitigen Monolog der Ehefrau Molly Bloom im letzten Kapitel, ohne Absätze, Zwischentitel und Satzzeichen.
  2. Eine in bisherigen Romanen unerreichte Präzision und Kaltblütigkeit in der Darstellung realer Situationen, psychischen Reaktionen, Fantasien und Wünschen.
  3. Die kunstvolle Vernetzung mit Homers "Odyssee" bietet einen mythisch-poetischen Rahmen, mit fast musikalischem Rhythmus voller Gleichnisse und Symbolik.

Drei Personen

Es geht um die Erlebnisse von drei Personen, Leopold und Molly Bloom und Stephen Dedalus. Auf seiner Reise durch Dublin trifft Bloom den jungen Lehrer und Schriftsteller Dedalus, mit dem er am Abend in der Küche philosophiert, unter der Wäscheleine mit Mollys Schlüpfern. Molly ist Blooms Ehefrau, die ihm nicht immer treu ist. Sie kommt im Schlusskapitel zu Wort. Hier läßt Joyce sie ohne Punkt und Komma, ohne Absätze und Zwischentitel wie in einem Fluss ihres Bewusstseins dahingleiten und setzt damit in der Erzähltradition des 20. Jahrhunderts völlig neue Maßstäbe.

Kein Kapitel entspricht den Erwartungen des traditionellen Lesepublikums. Als ob Joyce sich über seine Leser lustig machen würde, arbeitet er mit komplizierter Sprache aus unterschiedlichen Epochen in oft banalen Situationen. Im Kapitel 14, in einer Geburtsklinik, durchwandert der beschreibende Text die historische und embryonale Entwicklung der englischen Sprache. In der deutschen Übersetzung kommt es zu einer Anlehnung an Mittelhochdeutsch, dann die Sprache zur Zeit Luthers, des Barocks, der Romantik, des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

20 Jahre Paris

Es existieren Hunderte Interpretationen. Literaturfachleute und Schriftsteller lieben oder hassen das Buch, es läßt kaum jemanden gleichgültig. Kurt Tucholsky, der in der Weltbühne die erste deutsche Übersetzung zu rezensieren hatte, verglich den Roman mit Fleischextrakt: "Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden." Virginia Woolf beschrieb den Roman voller Verachtung als "die Arbeit eines überempfindlichen Studenten, der sich seine Pickel kratzt".

James Joyce wurde 1882 in Dublin geboren. Sein Vater, ein schwerer Trinker, arbeitete als Steuereintreiber, seine Mutter kam aus einer wohlhabenden Familie. Als Neunjähriger schrieb er seine ersten Gedichte. Er wurde in das von Jesuiten betreute Belvedere College in Dublin aufgenommen, wo man erwartete, dass er sich dem Orden anschließen würde, studierte jedoch später Sprachen an der University College Dublin und veröffentlichte Theaterkritiken. Henrik Ibsen schickte ihm ein Dankschreiben für einen seiner Beiträge. Nach dem Studium verließen Joyce und seine Begleiterin Barnacle Dublin, versuchten es in Zürich, dann in Triest, wo Joyce Englisch unterrichtete. 1920 zog er auf Einladung von Ezra Pound nach Paris, wo er die nächsten 20 Jahre lebte und seine wichtigsten Werke veröffentlichte.

Nach der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht versuchte er, in die Schweiz zu ziehen. Erst nach monatelangen Verhandlungen mit der Fremdenpolizei und Interventionen zahlreicher Kunstschaffenden konnte er 1940 im letzten Moment nach Zürich fliehen, wo er 1941 starb.

Sieben Jahre Arbeit

An dem Roman "Ulysses" schrieb Joyce sieben Jahre lang. Die Arbeit, erzählte er nach dem Erscheinen, habe ihn derart erschöpft, dass er ein Jahr lang keine Zeile schreiben konnte. Sein letztes Werk "Finnegan Wake" erschien erst 1939. Von vielen Literaturkritikern als noch komplexer, komplizierter und unverständlicher als "Ulysses" beschrieben. Joyce bildet eine eigene Sprache, fügt englische Wörter neu zusammen, trennt sie, oder kombiniert sie mit Wörtern aus anderen Sprachen. Es gilt bis heute als unübersetzbar, wenn auch zahlreiche Ausgaben in anderen Sprachen erschienen sind. Als sein Freund, der Schriftsteller Max Eastman, ihn fragte, warum er "Finnegan Wake" so kompliziert geschrieben hatte, antwortete Joyce: "Damit die Kritiker für 300 Jahre Arbeit haben."

Heute schmückt sich Dublin mit dem einst verbotenen Schriftsteller. Wandertouren können gebucht werden mit Orten, die in "Ulysses" vorkommen, die Sven's Pharmacy verkauft immer noch Zitronenseife, und im James Joyce Centre gibt es Stadtpläne mit Hinweisen auf die Schauplätze des Romans. Zum Bloomsday Festival kommen Künstler und Literaturfachleute nach Dublin. Der James Joyce Tower - der Ort des ersten Kapitels - ist für Besucher geöffnet, und das Bloomsday Breakfast wird mit den im Roman beschriebenen streng riechenden Nieren serviert.