Nichtwähler: Die stumme Fraktion

Warum immer weniger Österreicher ihre Stimme abgeben

Immer weniger Österreicher geben bei Nationalratswahlen ihre Stimme ab. Das Bild vom desinteressierten Nichtwähler stimmt aber nur zum Teil. Der Großteil ist enttäuscht von der heimischen Politik

von Politik - Nichtwähler: Die stumme Fraktion © Bild: dpa/Julian Stratenschulte

Drei Mal hat Stefan Broniowski in seinem Leben gewählt. Das erste Mal 1986, um Kurt Waldheim als Bundespräsidenten zu verhindern. Das zweite Mal 2004, um gegen Benita Ferrero-Waldner zu stimmen. Und zuletzt 2016, um - wie er sagt -den "kornblumenblauen" Norbert Hofer abzuwenden. Bei Nationalratswahlen gab Broniowski noch nie seine Stimme ab. "Wahlen, bei denen Person gegen Person steht, leuchten mir noch ein, Parteiwahlen nicht", sagt der 51-jährige Niederösterreicher. Doch warum? Was sind die Motive von Nichtwählern wie Stefan Broniowski? Protestieren sie so gegen das System oder interessiert sie das alles einfach nicht? Und was sagt es über die heimische Politik aus, dass dieser Teil der Gesellschaft immer größer wird?

»Es gibt einen eindeutigen Trend. Seit der Abschaffung der Wahlpflicht ist die Wahlbeteiligung immer weiter gesunken«

Gingen bei den Nationalratswahlen 1994 noch 86,1 Prozent zur Wahlurne, waren es 2013 nur noch 74,9 Prozent. Ein Viertel der Wahlberechtigten -also rund 1,6 Millionen Österreicher -blieb der Wahlkabine fern. "Es gibt einen eindeutigen Trend. Seit der Abschaffung der Wahlpflicht ist die Wahlbeteiligung immer weiter gesunken", erklärt Paul Eiselsberg vom Linzer Meinungsforschungsinstitut IMAS. Bis 1992 herrschte in den Bundesländern Tirol, Vorarlberg, Steiermark und Kärnten Wahlpflicht bei Nationalratswahlen.

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Von der Politik enttäuscht

Die Gruppe der Nichtwähler ist jedoch keineswegs homogen. Ihre Gründe sind vielfältig. "Es gibt die Politikverdrossenen und jene, die vom System nichts halten. Aber auch welche, die sich die Zeit nicht nehmen wollen oder denen es einfach egal ist", sagt Meinungsforscher Peter Hajek. Laut einer IMAS-Studie vom Juni 2017 ist die Gruppe jener, denen die Politik gleichgültig ist, die kleinste unter den Nichtwählern. Die stärkste Fraktion ist mit 22 Prozent jene der Politikverdrossenen. Also Menschen, die von den Parteien enttäuscht sind und deshalb nicht mehr wählen gehen.

»Als anonymes Stimmvieh bin ich mir zu schade«

Für Stefan Broniowski ist es die Überzeugung, dass Wahlen nichts verändern. Dem Staat gehe es vor allem darum, die Reichen reicher zu machen und den Rest in Schach zu halten. Zudem stelle man als Wähler den Parteien einen Blankoscheck für die nächsten fünf Jahre aus. "Nicht mit mir! Wenn Politiker meine Meinung wissen wollen, dürfen sie mich gerne fragen. Aber als anonymes Stimmvieh bin ich mir zu schade", sagt er. Meinungsforscher Eiselsberg kennt dieses Argument und kann es entkräften. "Das ist nun einmal das Prinzip der Demokratie. Die Summe entscheidet eine Wahl, nicht der Einzelne."

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Gefühl der Ohnmacht

Bei der Wienerin Agnes S. spielt das Gefühl der Ohnmacht ebenfalls eine Rolle. "Ich habe den Eindruck, dass es egal ist, wen ich wähle. Letztendlich geht es in der Politik um wirtschaftliche Interessen. Politiker können gar nicht autonom entscheiden", so die 31-Jährige. Sie geht im Schnitt zu jeder zweiten Wahl. Das letzte Mal gab sie bei der zweiten Stichwahl zum Bundespräsidenten ihre Stimme ab. "Es war eine Rechts-links-Entscheidung und ich hatte großen Druck aus meinem Umfeld, hinzugehen", sagt die Selbstständige. Für Agnes S. ist es auch der Frust über die leeren Versprechungen der Politiker. "Ich bin selbstständig und eine Frau. Ich kann also weder in Karenz gehen noch habe ich jemals Aussicht auf eine ausreichende Pension. Zwar unterstütze ich den Staat mit meinen Steuern, an Lösungen für diese Probleme wird aber nicht gearbeitet."

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Wiedereinführung der Wahlpflicht?

Experten zufolge liegt die sinkende Wahlbeteiligung durchaus auch daran, wie in Österreich Politik gemacht wird. "Das politische Hickhack und die Korruption der letzten Jahre sind sicher dafür mitverantwortlich", erklärt Meinungsforscher Paul Eiselsberg. Hinzu kommt laut Peter Hajek der Generationenwechsel. "Für Leute, die eine Diktatur oder Besatzungszeit erlebt haben, ist Wählen nicht selbstverständlich. Junge hingegen sind schon eher der Meinung, dass man eine Wahl auslassen kann." Etwas dagegen tun könne man seiner Ansicht nach nicht. Die Wiedereinführung der Wahlpflicht, die immer wieder von Politikern ins Spiel gebracht wird, wäre der falsche Weg. "Die Menschen sollten mündig genug sein, um ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Außerdem hätten wir dann das Problem, wie man das Fernbleiben sanktioniert." Das Einzige, was Menschen zum Urnengang bewegen könne, sei eine Richtungsentscheidung wie bei der vergangenen Bundespräsidentenwahl. Mit 74,2 Prozent lag die Wahlbeteiligung um 20,6 Prozentpunkte höher als der Bundespräsidentenwahl 2010.

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Beteiligung könnte steigen

Sein Kollege Paul Eiselsberg hält auch andere Schritte für sinnvoll. "Zum einen helfen vertrauensbindende Maßnahmen wie Bürgernähe, zum anderen politische Bildung an den Schulen. Und drittens kann die Personalisierung der Politik die Wahlbeteiligung heben." So wie im derzeitigen Wahlkampf, in dem sich alles um die Spitzenkandidaten der Parteien dreht. "In Verbindung mit der starken Berichterstattung und der Situation, dass drei Kandidaten Kanzler werden könnten, wäre eine höhere Wahlbeteiligung denkbar -obwohl Prognosen derzeit noch schwierig sind."

»Wir sollten das Recht haben, wichtige Dinge mitzuentscheiden«

Agnes S. überlegt noch, ob sie am Wahltag ihr Kreuzerl machen wird. Denn auch sie hat das Gefühl, alle fünf Jahre die Verantwortung abzugeben. "Für die nächste Legislaturperiode bin ich dann nicht mehr am politischen Spielbrett beteiligt." Deshalb fordert sie mehr Mitspracherecht in der Politik, am liebsten in Form einer direkten Demokratie. "Wir sollten das Recht haben, wichtige Dinge mitzuentscheiden. Die Menschen sind mündig genug und nicht zu ungebildet, wie oft dargestellt."

Relativ hohe Wahlbeteiligung in Österreich

Sie wünscht sich zudem, dass Wahlen mit einer besonders niedrigen Beteiligung nicht gelten, "so hätten Nichtwähler mehr Gewicht". Was auf den ersten Blick logisch klingt, birgt aber Probleme. "Diese Rufe gibt es immer wieder. Aber es würde das System komplett lähmen, weil es zu keinem Wechsel käme", meint Peter Hajek. Mit durchschnittlich 75 Prozent sei die Wahlbeteiligung in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern außerdem noch relativ hoch. "In den USA gehen nur 50 Prozent wählen. Wenn das auch hier so wäre, dann müssten wir uns Gedanken machen."

Stumme Stimme

Definitiv nicht dabei sein wird am 15. Oktober Stefan Broniowski. Er will auch bei der kommenden Wahl keine Stimme abgeben. "Ich wüsste nicht, für wen." Denn er wünscht sich eine grundlegende Veränderung des politischen Systems. Etwa in eine Art Basisdemokratie mit Konsensprinzip. "Jeder entscheidet bei gemeinsamen Angelegenheiten mit. Er muss zustimmen oder wenigstens nicht dagegen sein", so der Schriftsteller und Blogger. "Zugegeben, das würde nur in kleinen Einheiten und mit langen Diskussionen funktionieren. Aber nur so wird jeder als Mitbürger respektiert." Solange dies in Österreich nicht der Fall ist, bleibt seine Stimme also stumm.