Volksdroge Zucker

Süße Gefahr: Vom Joghurt bis zur Fertigpizza. Zucker beherrscht unseren Speiseplan.

Fast wäre sie gesprungen. Michelle schleppt sich nach der Schule auf die Brücke in Mautern. Gehsteigpanzer, hatte einer in der Pause gerufen – der neueste Schmäh. Die anderen stimmten ein. Das ging ab der ersten Klasse so. Michelle lehnt sich an das Geländer. Jetzt setzt sie dem Ganzen ein Ende. Niemand hatte ihre Hilferufe hören wollen.

von Adipositas - Volksdroge Zucker © Bild: Corbis

Michelle ritzte sich mit Rasierklingen, um wieder etwas zu spüren. Ihr Arm ist voller Narben. Der Wind bläst ihr die Kühle der Donau entgegen. Das alles ist drei Jahre her. Michelle futterte damals pro Tag drei Packungen Haribo, einige Tüten Chips, langte bei Mehlspeisen kräftig zu und spülte mit Cola nach. Abends beugte sie sich über die Kloschüssel und erbrach. "Ich war süchtig nach dem Zucker", sagt sie heute über die schwerste Zeit ihres Lebens. Sie wog bei einer Größe von 1,56 über 100 Kilo. Sie schämte sich für ihren Körper, ihre Sucht nach dem süßen Kick – und konnte doch nicht damit aufhören.

"Rein, weiß und tödlich"
Der britische Ernährungswissenschaftler John Yukin beschreibt Zucker als "rein, weiß und tödlich". Das angesehene "British Medical Journal" konstatiert gar, er sei "so gefährlich wie Tabak" und "als harte Droge einzustufen". Harte, vielleicht überspitzte Formulierungen. Aber die Folgen übermäßigen Konsums machen sich im wahrsten Sinn in der Gesellschaft breit: Michelle ist eine von 860.000 krankhaft übergewichtigen Menschen in Österreich. Jeder Zweite hat einige Kilo zu viel auf den Hüften. Rund 20 Prozent der Teenager haben Übergewicht. Die Gründe für die krankhafte höchste Stufe, die Adipositas, sind vielschichtig: Genetische Veranlagungen spielen ebenso eine Rolle wie psychische Zustände in den Familien und materielle Umstände: Die Ärmeren sind heute nicht mehr automatisch hungrig – im Gegenteil. Wohlhabendere, gebildetere Menschen ernähren sich meist gesünder.

"Zucker kann man nicht verbieten"
Philipp, ein 32-jähriger Kufsteiner, glitt durch sein Übergewicht und das Gefühl, nirgends akzeptiert zu sein, in eine Depression. "Ich war ein sportlicher Jugendlicher, ging schwimmen und kicken. Dann wollte man mich nicht mehr dabeihaben." Seine Eltern ließen sich scheiden, missbrauchten Philipp als Boten für ihre Gehässigkeiten, und er begann zu essen: eine Familienpizza, ein Kebab – als Alibi einen Salat dazu. Süßgetränke durften nicht fehlen. Philipp trank zehn Jahre lang zwei Liter Spezi pro Tag. "Einem Alkoholiker kann man den Schnaps verbieten. Zucker kann man nicht verbieten. Jeder Weg wurde zu anstrengend für mich. Jede Stiege wurde eine Tortur. Nach wenigen Schritten lief mir der Schweiß in Strömen herunter." Zu seinen Spitzenzeiten wog er 140 Kilogramm.

Zucker und der Körper
Der Zucker gab seinem Körper die Befriedigung, die ihm im Alltag fehlte. Grundsätzlich ist der Körper faul. Er möchte in Ruhe gelassen werden und einen ausgeglichenen Blutzuckerspiegel. Kommt jedoch Nahrung in Form von Kohlenhydraten in den Verdauungstrakt, muss er arbeiten. Der Blutzuckerspiegel steigt. Der Körper zerlegt die Kohlenhydrate in Glukose, den Hauptlieferanten für Energie. Er schüttet Insulin aus, das die Glukose in die Zellen transportiert. Bei hochwertigen Kohlenhydraten wie in Vollkornbrot dauert der Verarbeitungsprozess. Das Sättigungsgefühl hält lange an. Der industriell erzeugte Zucker jedoch schießt sofort in die Blutbahn. Der Körper ist ob der enormen Energiemengen alarmiert, er schüttet massenhaft Insulin aus. Sehr viel Glukose wandert in die Zellen. Der Überschuss wird in Fett verwandelt. Der Blutzuckerspiegel sackt schnell wieder unter die Ideallinie.

Flüssige Dickmacher
Flüssige Fruktose, wie in Softdrinks vorhanden, umgeht sogar die natürlichen Reflexe im Körper, die uns sagen, dass wir satt sind. Ludwig Kramer, Facharzt für Innere Medizin und Leberspezialist, untersucht die Wirkung der klebrigen Getränke auf die Leber: "In den letzten Jahrzehnten ist der Konsum von Kohlenhydraten um 150 bis 300 Kilokalorien pro Tag angestiegen. Und mehr als 50 Prozent davon sind auf Softdrinks zurückzuführen." Die flüssigen Kohlenhydrate rasen durch den Magen und werden im Dünndarm aufgenommen. Die natürlichen Sättigungsreflexe werden umgangen, die Leber speichert die Energie als Fett. Blutfette und Harnsäure steigen an. Zudem wird weniger Insulin ausgeschüttet – es stellt sich keine Sättigung ein. Aber das Gehirn schüttet den Glücklichmacher Serotonin aus. Das Belohnungszentrum wird aktiviert wie beim Nikotinkonsum. Wir sind happy. Kurzfristig.

Sind wir süchtig?
Gesundheitlich verträglich wären laut Weltgesundheitsorganisation maximal 60 Gramm Zucker pro Tag – drei bis vier Esslöffel. Tatsächlich verdrücken wir knapp 100 Gramm oder sechs Esslöffel. Der Verbrauch hat sich in den letzten hundert Jahren versechsfacht. Dabei kann der Körper aus Brot, Nudeln, Kartoffeln und anderen Stärketrägern ausreichend Glukose beziehen. Eine zusätzliche Zufuhr ist gar nicht nötig. Sind wir süchtig? Bart Hoebel, Psychologieprofessor an der amerikanischen Princeton-Universität, stellte sich der Frage und startete einen Versuch. Er verabreichte Ratten Zucker und vergrößerte die Portionen jeden Tag. Nach drei Wochen hatten sich die Rezeptoren für Opiate im Gehirn der Tiere deutlich vermehrt. Als Hoebel den Ratten Opiat-Blocker injizierte, traten Entzugserscheinungen auf: Unruhe, Zähneklappern, Zittern. Die Ratten wurden süchtig nach den Morphinen, die ihr eigener Körper produzierte. Nach zehn Tagen herkömmlicher Nahrung fraßen die Ratten plötzlich mehr.

Die Droge Zucker
Viele Ernährungswissenschaftler sträuben sich gegen Begriffe wie "Droge" in Verbindung mit Zucker. Doch der Zucker beherrscht unseren Speiseplan. Vom Ketchup bis zur Fertigpizza, vom Fruchtjoghurt bis zu Chips sind Produkte mit industriell gefertigtem Zucker versetzt – freilich mit höchst unterschiedlichem Gehalt. Mark S. Gold, Psychologieprofessor an der Universität von Florida, formuliert schwere Vorwürfe: "Das steigende Übergewicht resultiert nicht aus der Willen- und Disziplinlosigkeit der Betroffenen, sondern aus immer neu de signten Nahrungsmitteln. Wir bekommen Nahrung zu kaufen, die entwickelt wurde, um drogenartige Wirkung zu erzeugen."

Zucker und die Werbung
An diese Wirkung sollen sich am besten schon die Kleinsten gewöhnen. Im Früchtetee-Granulat der Firma Hipp, empfohlen für Babys ab dem 8. Monat, kommen 94 Gramm Zucker auf 100 Gramm Granulat. Auf der Packung steht zudem ein Warnhinweis: "Dieses Getränk enthält Kohlenhydrate, die durch häufiges oder dauerndes Nuckeln aus der Flasche schwere Zahnschäden (Karies) verursachen können." Zahnarztverbände stufen Zucker gerade für Kinder als hochgradig kariogen (Karies erzeugend) ein. Zucker ist ideale Nahrung für Bakterien im Zahnbelag, die den Zahnschmelz angreifen und für Kinderzähne verantwortlich sind, die braunen Stümpfen gleichen. Eine Studie der deutschen NGO "Foodwatch" prüfte 1.500 Kinderprodukte: 79 Prozent der Waren sollten gar nicht oder nur selten konsumiert werden, so die Empfehlung der Konsumentenschützer.

Zucker und der Supermarkt
Elisabeth Jäger, Präsidentin des Vereins "Adipositas Selbsthilfegruppen", betreut landesweit 1.500 Übergewichtige und kennt die Tricks der Industrie. Die wahren Mengen Zucker, die sich in Waren befinden, sind in der Hektik des alltäglichen Einkaufs nicht herauszufinden. Um die versteckten Zuckerbomben zu erkennen, muss man den Taschenrechner in den Supermarkt mitnehmen. Denn wer versteht auf Anhieb, dass sich auch hinter Produkten, die mit "fettarm" beworben werden, Kalorienbomben verstecken können? Entzieht man dem Erzeugnis das Fett, fehlt ein wichtiger Geschmacksträger. Dazu eignet sich kaum etwas so gut wie die Kombination von Zucker und Salz. Was die Kalorien angeht, haben diese Produkte meist nicht weniger als die "fetten" Versionen.

Kaum jemand würde zu Ferreros Milchschnitte greifen, wenn auf der Verpackung stehen würde, dass sich pro Riegel 29 Prozent Zucker in der Schokomasse tummeln. 2011 wurde das Produkt mit dem "Goldenen Windbeutel" für die dreisteste Werbelüge des Jahres ausgezeichnet. "Für den unverantwortlichen Versuch, die fett- und zuckerreiche Milchschnitte als 'leichte' Zwischenmahlzeit zu verkaufen", schreibt Foodwatch auf die Siegerurkunde.

Zucker und die Industrie
Anstatt der deutlichen Kennzeichnung findet sich in den Zutatenlisten oftmals nicht einmal die Bezeichnung "Zucker". Da ist die Rede von Mais- oder Glukosesirup, Dextrose, HFCS oder Fruktose. Foodwatch setzte sich 2010 für die Lebensmittelkennzeichnung mit der Ampel ein. Die Konsumentenschützer forderten, dass auf der Vorderseite der Verpackung die Gehalte an den wichtigsten Nährstoffen (Fett, gesättigte Fettsäuren, Zucker und Salz) in absoluten Grammzahlen angegeben werden. In den Signalfarben Rot (für einen hohen Gehalt), Gelb (mittel) und Grün (niedrig).

Zu viel macht krank

Die Industrie entwarf ein Gegenprojekt. Die GDA-Angaben (Guideline Daily Amounts), die die "Richtlinie für den täglichen Bedarf" darstellen, finden sich heute auf jeder Verpackung. Irritationen beugen sie allerdings nicht vor. Denn sie beziehen sich oft auf unverständliche Mengen. "Die Industrie verkauft das als den Stein der Weisen. Aber es ist schlimmer als bei jeder Diät, denn der Verbraucher muss rechnen, rechnen, rechnen", so Adipositas-Selbsthilfe-Präsidentin Jäger. Langzeitfolgen eines übermäßigen Konsums können aber "Wohlstandskrank heiten" sein: Diabetes, hoher Blutdruck, Erkrankungen des Herz- und Gefäßsystems, Atemfunktionsstörungen, Gelenksbeschwerden, Gallenerkrankungen. Die WHO geht davon aus, dass die Zahl der Todesfälle durch Diabetes sich bis 2030 gegenüber 2005 verdoppeln wird. Die Kosten für Diabetes-Patienten allein in Deutschland beliefen sich 2009 auf 48,2 Milliarden Euro.

Zucker und der Entzug
Die Mutter einer Freundin rettete Michelle und begleitete den todunglücklichen Teenager nachhause. Michelle wurde klar, dass sie ihr Leben ändern musste, wenn sie glücklich werden wollte. Sie begann eine Therapie, traf sich mit anderen Adipösen in einer Selbsthilfegruppe und stellte ihre Nahrung komplett um. Sie trinkt nur Mineralwasser, isst fast nur Vollkornbrot und Gemüse. Sie hat die 100 Kilo weit hinter sich gelassen und lebt ein neues Leben. Bald ist sie ausgebildete Köchin. Sie will noch eine Lehre anhängen und Behindertentherapeutin werden.

Philipp hat sich nach langen Therapiesitzungen für einen Magenbypass entschieden. "Es gibt Hilfe für Suchtkranke, wie ich einer war", sagt er. Philipp hat in wenigen Monaten 35 Kilo abgespeckt. Seine Krankenkasse hat der Eingriff 7.000 Euro gekostet. "Hätte ich weitergefressen, hätte man für mich das Zigfache für künstliche Gelenke aufwenden müssen." Spricht er und spaziert an der Flussmeile von Kufstein in Richtung Gemüsehändler davon.

Kommentare

Wir sind der Meinung, dass uns Naschen, ohne Karies zu verursachen, lieber ist. Ich glaub auch nicht, dass es Sinn macht, Zucker von heute auf morgen gegen den Süßsstoff der Steviapflanze zu ersetzen. Aber eine Mischung wäre schon mal gut... Der Steviasüßstoff schmeckt übrigens ein bisschen anders, aber man darf auch nicht vergessen, dass man viele Jahre Zuckersüße gewohnt ist und sich auch ein bisschen umgewöhnen darf.

Es gibt übrigens sogar schon Schokolade, die mit Steviasüßstoffen gesüßt ist. Sie schmeckt zwar nicht ganz so süß wie gewohnte Milka, aber das ist nicht unbedingt von Nachteil. Gibts zB. hier: http://www.steviaschoko.at

Diese Schokolade hat allerdings auch Kalorien und ist zum Abnehmen weniger geeignet. Allerdings sind es deutlich weniger. Immerhin...

LG aus Salzburg

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Ahoi Stevia Pflanze bietet die derzeit beste bekannte Alternative gegen Zucker, aber was sagen wohl die Zahnärzte und Pharmakonzerne zu dieser Alternative?

Stevia wurde letztes jahr offiziel, und is auch schon in wenigen Produkten vertreten, ein Problem
könnte allerdings bei Ausbau der Produktwahl mit Stevia, die wie schon im Zuckeranbau vorhandene Ausbeutung der Anbauer in den dritte Welt Staaten...

Trotzdem es gibt immer Alternativen und dieser Schritt , wäre ein weiterer Schritt in die richtige Richtung

Cheers Goldi

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Re: Ahoi Problem ist nur das Stevia ca. 300 mal süßer als Zucker ist und somit untrinkbar ... zumindest für mich

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