"Clown der Medienindustrie"

„Was gesagt werden musste“: Robert Menasse zum Fall Günter Grass

von Gedicht von Günter Grass - "Clown der Medienindustrie" © Bild: NEWS/Martin Vukovits

Das Gedicht von Günter Grass ist wirklich ein Skandal – zunächst deshalb, weil er es ein Gedicht nennt. Als „lyrisch“ könnte man es nur insofern bezeichnen, als es eine Befindlichkeit und Gestimmtheit ausdrückt, die ich literaturgeschichtlich nur von einigen weitgehend vergessenen Beispielen jener Rauschgedichte kenne, die entstanden, als Dichter beim Schreiben mit Drogen experimentierten. Aber auch das stimmt nicht ganz – denn der Anspruch war damals immerhin Bewusstseinserweiterung.

Jedenfalls: Jeder Redakteur jeder Literaturzeitschrift heute hätte dieses „Gedicht“ abgelehnt. Der eigentliche Skandal liegt darin, dass fünfzehn deutsche Zeitungen und fünfundzwanzig Blätter der Weltpresse diesen Text publizierten und ihn sofort mit aufgeregten Kommentaren umrankten. Das zeigte mit einer Deutlichkeit, die zwar wünschenswert, aber doch buchstäblich furchtbar ist, wie sehr solche Skandale heute Medienskandale sind: Die Medien produzieren selbst den Skandal, den sie dann berichten, kommentieren und diskutieren. Grass ist nicht erst mit diesem „Gedicht“ ein Clown der Medienindustrie geworden – die Medienmacher schauen ihm lachend und händereibend zu, wie er offene Türen dort einzurennen versucht, wo gar keine sind, sondern nur aufgemalte Scheunentore in der Kulissenlandschaft der Öffentlichkeit.

Traurig ist an dieser Geschichte, dass sie nun zum Anlass genommen wird, die Idee der engagierten Literatur und den Begriff des Intellektuellen grundsätzlich infrage zu stellen und der Lächerlichkeit preiszugeben. Grass war ja, das weiß man seit längster Zeit, nie ein Intellektueller im Sinn des Begriffs. Der Intellektuelle kritisiert Herrschaft, er engagiert sich nicht für Herrschaft. Er bekämpft Übel, er verwendet sich daher auch nicht für eine so trostlose Idee wie das „geringere Übel“.

Grass aber hat seit Jahrzehnten immer wieder dies gemacht: zur Wiederwahl regierender Kanzler aufgerufen, wenn sie nur Sozialdemokraten, also das „geringere Übel“ waren. Zola hat sich in der Dreyfuss-Affäre nicht gefragt, was das geringere Übel wäre, sondern er hat ein Übel benannt und es bekämpft. Mir ist keine Unterstützung Zolas für irgendeinen Regierenden oder Herrschenden bekannt. Das ist der Unterschied, und mir ist schleierhaft, wie Grass jemals mit einem „deutschen Intellektuellen“ verwechselt werden konnte. Er ist ein gefundenes Fressen für jene Medien, die zynisch oder womöglich ernsthaft glauben, dass ihr Dünnschiss, den sie nach dem Fressen haben, eine wichtige Nachricht in der Rubrik „Shit happens“ ist.