Der Märchenerzähler

Interview: Nahostkorrespondent über sein neues Buch, Schusswesten und das Schicksal

Seine Berichte aus Tunesien, Ägypten und Libyen haben ihn in Österreich zum journalistischen Star gemacht - in seinem persönlichen "Tagebuch der arabischen Revolution" lässt Karim El-Gawhary den arabischen Frühling nun noch einmal eindrucksvoll Revue passieren. Im Interview mit NEWS.AT erklärt der Nahostkorrespondent die Hintergründe zu seinem neuen Buch, warum die Revolution noch lange nicht vorbei ist und warum er keinen "Scheiß" machen soll.

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    Karim El-Gawhary im Interview mit NEWS.AT-Redakteur Jörg Tschürtz.

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    Buchcover

NEWS.AT: Herr El-Gawhary, was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht gerade im Nahen Osten oder auf Lesereise unterwegs sind?
Karim El-Gawhary: In der Regel schlafen (lacht) . Nein, jede Minute, in der ich nicht arbeite, versuche ich natürlich was mit meinen drei Kindern zu machen.

NEWS.AT: Haben Sie nun wieder mehr Zeit für Ihre Familie?
El-Gawhary: Das ist leider eine Illusion. Nachdem ich das "Tagebuch" fertiggestellt hatte, bin ich auf Sommerurlaub nach Portugal gefahren und dachte, mal entspannen zu können. Und plötzlich wird Gaddafi in Libyen abgesägt. Für mich war das eine persönliche Genugtuung, sodass ich gleich nach Tripolis aufgebrochen bin.

NEWS.AT: In den vergangenen Tagen waren Sie auf Lesetour durch Österreich. War das eine Erholung für Sie, im Vergleich zu Tripolis und Ihrem Wohn- und Arbeitsort Kairo?
El-Gawhary: Das Kontrastprogramm ist sicherlich keine Erholung, sondern eher das Gegenteil. Du fragst dich, wie so etwas auf einem einzigen Planeten stattfinden kann – dreieinhalb Flugstunden voneinander entfernt. Einen Tag bist du in Tripolis, den anderen joggst du durch den Belvedere-Garten in Wien. Das ist eigentlich mehr als das menschliche Gehirn verarbeiten kann (lacht) .

NEWS.AT: In Österreich gelten Sie seit Ihrer Berichterstattung von der Revolution als journalistischer Popstar. Wie gehen Sie mit dieser Bekanntheit um? Werden Sie oft auf der Straße angesprochen?
El-Gawhary: Ja, ständig. Und natürlich frage ich mich dann, woher dieser kleine Hype um meine Person kommt. Als ich das mit dem Popstar gelesen habe, bin ich natürlich einmal zusammengezuckt. Aber ich denke, dass die Leute irrsinnig viel in diese arabische Revolution hineinreflektiert haben. Das hatte was von einem modernen Polit-Märchen - mit Happy End, wie in Ägypten, als der Diktator dann weg war. Und ich war sozusagen der Erzähler dieses Märchens.

NEWS.AT: Ist Ihnen der Hype manchmal auch unangenehm?
El-Gawhary: Unheimlich trifft's wohl eher. Natürlich pinselt es die Eitelkeit, wenn einem die Leute auf der Straße zur tollen Arbeit gratulieren. Und es freut mich natürlich auch. Aber ich bin ja Journalist. Für mich sind primär die Inhalte wichtig.

NEWS.AT: Bekommen Sie auch Kritik zu hören?
El-Gawhary: Ich versuche ja, über meinen Blog oder meine Facebook-Seite nicht nur meine Inhalte zu präsentieren, sondern die Leute auch in Diskussionen zu verwickeln oder sie nach ihrer Meinung zu fragen. Diesen Austausch finde ich sehr spannend. Aber Kritik gibt's eigentlich wenig.

NEWS.AT: Stünden Sie heute am Tahrir-Platz in Kairo - was würden Sie berichten?
El-Gawhary: Dass die Revolution nach wie vor in Gang, sozusagen alles im Fluss ist. Daher kann man noch kein Fazit ziehen. Diktator Mubarak ist man losgeworden – fein. Jetzt steht er vor Gericht – auch fein. Aber dieser Kampf zwischen denjenigen, die noch möglichst viel aus der alten Zeit herüberretten wollen und den anderen, die einen kompletten Bruch wollen, ist noch nicht beendet. Wir haben ein riesiges politisches Vakuum und keiner weiß noch, wie es gefüllt werden soll.

NEWS.AT: Welche Errungenschaften haben die Demonstranten zwischen Tunesien und Ägypten bereits vorzuweisen?
El-Gawhary: Die neue arabische Welt basiert auf vier Prämissen, die ich auch in meinem Buch erläutere. Erstens: Der begonnene Prozess ist unumkehrbar, aber es ist völlig offen, was an seinem Ende steht. Zweitens: Die Zeit der politischen Monopole ist vorbei. Das geht einher mit dem dritten Prinzip: Dem der politischen Rechenschaft. Wer immer diese Leute einmal führen wird, ist ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig. Dazu kommt der Faktor öffentliche Meinung - bisher hat sie in Tunesien, Ägypten oder Libyen überhaupt keine Rolle gespielt.

NEWS.AT: Wie wird eigentlich die Rolle des Westens im Zuge der Aufstände in der arabischen Welt bewertet?
El-Gawhary: Die Leute sind vorrangig sehr stolz darauf, dass sie diesen Umsturz ganz allein auf die Reihe bekommen haben. Und das war auch gut so: Das gibt dem Prozess eine Glaubwürdigkeit, die etwa während des US-Einsatzes im Irak gefehlt hat. Libyen ist natürlich ein Sonderfall. In Tunesien und Ägypten geht es darum, ein Regime und einen Staat voneinander zu trennen. In Libyen geht es darum, einen Staat überhaupt erst aufzubauen. Wenn man jetzt in London oder Paris meint, hier die Beute einfahren und sich ein politisch maßgeschneidertes Libyen zurechtlegen zu können , ist man vollkommen falsch gewickelt. Libyen ist kein Bittsteller, das Land braucht nichts vom Westen. Es ist eher umgekehrt, wenn man etwa an den gigantischen Erdölvorrat Libyens denkt.

NEWS.AT: Der Nationale Übergangsrat in Libyen möchte einen Rechtsstaat auf Basis des islamischen Rechts der Scharia installieren. In Tunesien und Ägypten drängen Islamisten an die Macht. Ein Grund zur Sorge?
El-Gawhary: Hier zeigt sich die Unkenntnis mancher Leute im Westen in Bezug auf die arabische Welt. Sie sehen das Wort „Scharia“ und sehen sofort Rot. Die Scharia steht in jeder arabischen Verfassung. Sie ist ein „Gummi-Ding“, jeder kann sie für sich in die eine oder andere Richtung interpretieren. Bedeutend ist, wie die Trennung zwischen Staat und Religion dann tatsächlich umgesetzt wird.

NEWS.AT: Müssen wir uns also nicht auf neue Gottesstaaten einrichten?
El-Gawhary: Ich denke, dass die alten Kategorien einfach nicht mehr greifen. Das „Marketing-Konzept“ von Diktatoren wie Mubarak oder Gaddafi war ja ganz simpel: Entweder ich – oder die Muslimbrüder. Entweder ich – oder Al-Kaida. Und auf einmal sind diese Diktatoren weg. Plötzlich geht der Deckel hoch und es zeigt sich, dass die Wirklichkeit viel komplizierter und pluralistischer ist. Es mag ja sein, dass die Islamisten momentan die „Marktführerschaft“ innehaben, aber sie sind auch kein homogener Haufen und müssen sich künftig genauso vor dem Volk rechtfertigen. Vor wenigen Tagen hat der türkische Premier Erdogan in Ägypten für das türkische Konzept eines säkularen Staates geworben. Wenn sich die ägyptischen Islamisten an Erdogan orientieren, ist es das Beste, was dort passieren kann. Denn die Türkei ist alles andere als ein Gottesstaat.

NEWS.AT: In Ihren Berichten über die arabische Revolution schwingt stets ein optimistischer Grundton mit. Was macht sie so zuversichtlich?
El-Gawhary: Ich finde, guter Journalismus sollte immer nah dran am Geschehen sein. Man hat ja mit den Leuten mitgelitten. Die Beiträge in meinem Buch sind aus dem Moment heraus geschriebene Beiträge, wo du selber mittendrin warst und gar nicht wusstest, wie es weitergeht. Guter Journalismus ist für mich auch, dass ich Leute dazu bringe, über ganz existenzielle Dinge nachzudenken.

NEWS.AT: Zum Beispiel?
El-Gawhary: Vor Kurzem war ich in einem Krankenhaus in Tripolis. Vor Ort sagte mir ein Arzt: „Wir haben da einen Scharfschützen von Gaddafi“. Voller journalistischer Neugier antworte ich: „Will ich sehen“. Der Scharfschütze wurde von den Rebellen bewacht, weil er sonst wohl gelyncht worden wäre. Und dann komme ich in dieses Zimmer hinein und sehe auf dem Krankenbett ein 19-jähriges Mädchen liegen. Da bin ich zum ersten Mal zusammengezuckt. Sie erzählt, wie sie im Gefecht aus dem zweiten Stock hinuntergesprungen ist und sich schwere Verletzungen zugezogen hat. Ich frage sie: „Wie fühlst du dich? Gaddafi ist weg, du hast für ihn gearbeitet, du liegst schwer verletzt im Krankenhaus, du bist erst 19 Jahre alt“. Und dann fängt dieses Mädchen zu weinen an und bringt kein Wort mehr heraus. Und plötzlich funktionieren all deine Kategorien nicht mehr. Ist sie Opfer? Ist sie Täterin? Da liegt dieses junge Mädchen, es ist schwer verletzt und kann möglicherweise nie wieder gehen, ihr Leben ist total versaut. Sie tut mir in dem Moment leid. Aber 30 Sekunden später denke ich mir: Wie viele Leute hat dieses Mädchen auf dem Gewissen? Das meine ich mit existenziellen Dingen. Wenn man das gut erzählt, denken die Leute auch hier in Europa über so etwas nach.

NEWS.AT: Welches Erlebnis war für Sie das Schönste während der Revolution?
El-Gawhary: Einer der schönsten Momente, den ich auch am Beginn meines Buches schildere, war jener am Tag nach dem Sturz von Mubarak. Die Leute in Kairo haben gerade angefangen, die Straßen aufzuräumen. Ich sah einen Mann in einem alten, klapprigen Rollstuhl, der gerade einen Randstein anmalte (siehe Video, Anm. d. Red.). Ein Mensch, der ein paar Wochen vorher wohl noch an der Straßenkreuzung gebettelt hat, wollte plötzlich seinen persönlichen Beitrag zur ägyptischen Revolution leisten. Für mich hat der Mann in diesem Moment seine Würde wiederbekommen. Es war ein Symbol dafür, wie ein ganzes Land seine Würde wiederbekommt.

NEWS.AT: Während Ihrer Berichterstattung sind Sie oft auch in lebensgefährliche Situationen geraten. Suchen Sie sich diese Situationen bewusst?
El-Gawhary: Nein. Natürlich ist es wichtig, ganz nah dran zu sein. Aber ich bin nicht der ORF-Cowboy. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, auch wenn es nicht immer so rüberkommt. Mit schusssicherer Weste an der Front zu stehen und auf eine Rauchsäule zu deuten, halte ich für journalistischen Schwachsinn. Darüber zu berichten, wie die Menschen einen Krieg oder einen Konflikt erleben und managen, ist 1000-mal wichtiger.

NEWS.AT: Dennoch: Ein Restrisiko bleibt. Warum nehmen Sie es in Kauf?
El-Gawhary: Die Tatsache, dass ich eine Familie mit drei Kindern habe, ist einer der Gründe, warum ich so vorsichtig bin. Wenn ich von zuhause wegfahre, sagt meine Frau oft: „Mach bitte keinen Scheiߓ. Das habe ich natürlich im Kopf, wenn ich unterwegs bin. Und ich habe schon oft abgedreht oder noch einen Tag länger gewartet. Schließlich trage ich auch die Verantwortung für mein Team. Es gibt keine Geschichte, die es wert ist, nicht wieder unversehrt aus ihr herauszukommen.

NEWS.AT: Wann war so eine richtig brenzlige Situation?
El-Gawhary: Wir fuhren einmal für eine Reportage in den Südlibanon, vor etwa fünf Jahren. Davor hatte mir meine Frau wieder den erwähnten Satz mit auf den Weg gegeben. Wir fuhren eine Straße entlang, links und rechts sahen wir schon die Bombenkrater. Und ich hörte die israelischen Drohnen herumfliegen. Kurz darauf habe ich zu meinem Team gesagt: Wir drehen um, wir fahren hier nicht weiter. Eine halbe Stunde später haben wir erfahren, dass eine Journalistin auf der selben Strecke im Auto von einer israelischen Rakete getroffen und getötet wurde. In solchen Momenten fängt man an, an das Schicksal zu glauben.

NEWS.AT: Haben Sie schon viele Telefonate mit dem Satz „Hi, ich lebe noch“ begonnen?
El-Gawhary: Ich glaube noch kein einziges. Davon abgesehen habe ich einen sehr guten Schlaf. Da kann um mich herum eine Party stattfinden – ich schlafe weiter. Vor einigen Jahren im Irak bekam ich eines Morgens einen völlig aufgeregten Anruf vom ORF, wie es mir geht und was denn los sei. Ich sage: „Mir geht’s blendend. Wieso, was ist passiert?“ Dann sagt der Kollege: „Das Hotel neben dir ist mit Raketenwerfern beschossen worden.“ Ich habe einfach durchgeschlafen und nichts mitbekommen (lacht) .

NEWS.AT: Tragen Sie oft eine schusssichere Weste?
El-Gawhary: Das kommt auf die jeweilige Situation an. Aber ich versuche, sie so selten wie möglich zu tragen. Sie ist ja mit 12 Kilogramm nicht unbedingt leicht. Zuletzt in Tripolis habe ich sie zum Beispiel nicht getragen.

NEWS.AT: Am Ende Ihres Buchs werfen Sie einen Blick in die „arabische Kristallkugel“. Ben Ali, Mubarak, zuletzt Gaddafi - welcher arabische Diktator ist als Nächster dran?
El-Gawhary: Jemen ist ja schon so halb durch, man weiß nicht ob Präsident Saleh noch einmal zurückkommt. In Bahrain hat man den Deckel draufgesetzt, die sind nicht zu beneiden, die kämpfen nicht gegen ein Regime, sondern in Wahrheit gegen die Saudis. Und der Westen hat hier natürlich ein besonderes Stabilitätsinteresse in Bahrain, weil die größte Flottenstützpunkt der USA der Region dort liegt. Aber vielleicht geht’s auch in Algerien los. Dort ist es natürlich noch schwieriger, weil man gegen eine Militärregierung vorgehen müsste. In Syrien wiederum gibt es eigentlich nur zwei Optionen: Einen Militärputsch oder eine Auflösung des Militärs. Noch halten sich die Fahnenflüchtigen in Grenzen, aber irgendwann wird der Punkt kommen, an dem alles kippt.

NEWS.AT: Ein libysches Szenario in Syrien schließen Sie aus?
El-Gawhary: Syrien ist ein strategisches Minenfeld. Daher zögert der Westen, sich hier mehr einzubringen. Was man nicht vergessen darf: Das syrische Regime ist der Garant für die Sicherheit Israels. An der syrisch-israelischen Grenze ist seit 30 Jahren kein Schuss mehr gefallen.

NEWS.AT: Wo führt Sie Ihre nächste Reise hin?
El-Gawhary: Erstmal wieder nach Hause nach Kairo. Dort tut sich auch jetzt unheimlich viel. Danach sehen wir weiter.

Zur Person:
Der deutsch-ägyptische Journalist Karim El-Gawhary ist seit 20 Jahren Nahost-Korrespondent. Er arbeitet für den ORF und zahlreiche deutschsprachige Zeitungen (u.a. die tageszeitung, Berlin, Die Presse, Wien) in Kairo. Anfang September ist sein "Tagebuch der arabischen Revolution" im Wiener Verlag Kremayr & Scheriau erschienen (Preis: 22 Euro).

Weiterführende Links:
Facebook-Auftritt von Karim El-Gawhary
Wie man den Namen El-Gawhary richtig ausspricht

Kommentare

Berichterstatter Karim El Gawhary gefällt mir, mit seinen Statements, sehr gut...; Ein angenehmes "Anders-sein" der sonstigen "Regionalschreiber" die sich mit "unlauterem" Wichtig tun als Journalisten profilieren möchten..;

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