Der Ort am Ende der Welt: Eine Reportage
über das abgeschiedenste Tal Österreichs

NEWS: Lokalaugenschein im völlig isolierten Kaisertal Ort bei Ebbs nur zu Fuß über 282 Stufen erreichbar

Der Ort am Ende der Welt: Eine Reportage
über das abgeschiedenste Tal Österreichs © Bild: NEWS/Weissengruber

Bald ist nichts mehr zu sehen von der Stadt, nichts mehr zu hören von ihrem Lärm und nichts mehr zu spüren von dem, was modernes Leben ausmacht. Selbst das Handy, als ständiger Begleiter unverzichtbar geglaubt, wird wertlos, sobald das Kaisertal erreicht ist, da das Signal fast aller Betreiber allmählich erlischt. Dafür eröffnet sich ein beeindruckender Blick auf das sich weitende, lang gestreckte Tal, eingerahmt von den Gipfeln des Wilden und Zahmen Kaisers. Ein Paradies für Wanderer und Ausflügler, die das Tal an schönen Tagen zu Tausenden stürmen. An schlechteren Tagen bleiben seine Bewohner hingegen allein. Allein in der Abgeschiedenheit.

Internet, aber keine Straße
Seit Jahrhunderten leben Menschen auf den weit verstreut liegenden Höfen und Hütten, die nur durch Forstwege miteinander verbunden sind. Einst waren es mehr als 60 an der Zahl, 32 sind es heute. Sie alle haben zwar Strom, Wasser, Fernsehen, ja, manche von ihnen surfen dank Internet gar um die halbe Welt, bloß die Autos, die vor ihren Häusern parken, bringen sie nicht weit, denn es fehlt eine Straße nach unten und damit die Verbindung zur Außenwelt.

Draußen ist es längst dunkel, als Manuela die letzten leeren Biergläser von den Tischen abräumt. Wieder einmal ist es spät geworden für die zierliche Kellnerin, der noch ein langer Heimweg bevorsteht. Sie springt in einen Jeep ohne Kennzeichen, den ihre Chefin Annelies, die Wirtin des Veitenhofs, steuert. Bereits nach wenigen hundert Metern hält der Wagen mitten im Wald, die beiden verabschieden sich, Manuela schnallt sich eine Lampe um den Kopf und verschwindet über die Sparchenstiege hinab in der Nacht. Während alle anderen Alpentäler im Lauf der vergangenen Jahrzehnte erschlossen und manche von ihnen vom daraufhin einsetzenden Massentourismus fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurden, blieb das Kaisertal als Einziges bis in die Gegenwart unberührt und ohne Straßenanschluss nach unten.

Unten - "dorthin komme ich manchmal einen Monat lang nicht", sagt Silvia Anker und wirkt dabei nicht so, als ob ihr etwas fehlen würde. "Sicher", meint die Wirtin der Ritzau Alm auf über 1.100 Meter Seehöhe, "es ist ein Leben mit Entbehrungen, aber die Natur und all die Gäste, die raufkommen, liefern genug Entschädigung."

Ihr Mann Sepp wuchtet derweil eine Bierkiste nach der anderen in seinen Anhänger. Entnommen hat er sie einer klapprigen hölzernen Gondel, die langsam und lautlos auf Stahlseilen aus Kufstein heraufgeglitten kam. "Das ist unser Supermarkt und unsere einzige Verbindung nach draußen", sagt er und deutet auf die 1955 errichtete Materialseilbahn. Ihr Bau war ein enormer Fortschritt, denn zuvor musste mit Eseln das zum Überleben Notwendige ins Tal gekarrt werden.

Beziehungsprobe Talaufstieg
Das ständige Rauf und Runter - was den mit ihren Nordic-Walking-Stöcken dahinstapfenden Wanderern als Erholung gilt, ist für die Kaisertaler längst zur Strapaze geworden. Besonders für die Jüngste von ihnen: Die 10-jährige Sarah Leitner braucht keinen Schulsport mehr, denn ihr täglicher Weg dorthin ist Training genug. Wie einst Peter Rosegger schultert sie Tag für Tag die schwere Schultasche und macht sich auf den Weg über die Sparchenstiege nach unten. "Freundinnen kommen selten zu mir rauf", erzählt sie, "denn denen ist das einfach zu anstrengend."

Dass sich daran auch im fortgeschritteneren Alter wenig ändert, kann Josef Schwaighofer nur bestätigen: "Wenn man einer Bekanntschaft von unten den Wohnort mitteilt, findet gleich einmal die erste Auslese statt." Und trotzdem würde der Wirt des Pfandlhofs sein "Koasatal" niemals verlassen, "wir sind hier doch wie eine große Familie, ohne miteinander verwandt zu sein", sagt er, stockt und zwinkert, "zumindest nicht, dass wir davon wüssten".

Der 6,5-Millionen-Euro-Tunnel
Und doch sind es die Kaisertaler längst leid, jeden Einkauf im Voraus zu planen, jeden Kinofilm nur in der Nachmittagsvorstellung zu sehen und bei jedem Ball in Wanderschuhen aufzukreuzen. Sie wollen auch nicht länger genötigt sein, zwei Autos zu besitzen: eines für unten und eines per Seilwinden für die Ewigkeit nach oben gezogenes, das sie in ihrem "Tal der Gesetzlosen" ohne Nummerntafel und Pickerl herumkutschieren dürfen. Und sie haben auch Angst vor dem Ernstfall: Was, wenn es brennt, jemand schwer krank wird, rasch Hilfe braucht? Bei Schlechtwetter landet kein Hubschrauber, und mit der Materialseilbahn fahren die Kaisertaler nur einmal bergab: im Sarg.

Es muss also ein Tunnel her, lautet seit Jahrzehnten die Forderung. Streit brach aus, und erst als gesichert war, dass nur die Kaisertaler selbst den mit Schranken versehenen Tunnel benützen dürfen, um ihr Naturkleinod nicht zu zerstören, fuhren Baumaschinen auf. Ende Mai soll die 6,5-Millionen-Euro-Röhre eröffnet werden, und das Leben im abgeschiedensten Tal Österreichs wird danach nie mehr wieder so sein wie zuvor.

Lesen Sie den vollständigen Artikel im aktuellen NEWS Nr. 21/2008!