"Ein Organ, das Grenzen überwindet"

Drei Jahre lang beschäftigte sich Florian Werner mit der Zunge. Daraus entstanden sein neues Buch und die Erkenntnis, dass "Ekel gegenüber einem Gegenstand abnimmt, je länger man sich damit beschäftigt".

von Eine junge Frau zeigt die Zunge. © Bild: iStockphoto.com

Auf die Idee, dieses Buch zu schreiben, brachte Florian Werner eigentlich Familienhund Jim. Immer wenn er nach Haus kam, schleckte ihn der Cockerspaniel voller Freude ab. "Irgendwann hat mein damals dreijähriger Sohn begonnen, den Hund nachzumachen und mich ebenfalls im Gesicht abzuschlecken", erinnert sich Werner zurück.

Das war der Zeitpunkt, als Werner, der Literatur- und Kulturwissenschaftler ist und als freier Schriftsteller in Berlin lebt, begann, über dieses Organ gründlicher nachzudenken. "Ich habe viele Bücher gelesen, unzählige Videoclips angeschaut, Bilder und Skulpturen betrachtet und mir dabei Notizen gemacht." Beim Beobachten stellte er fest, dass in den vergangenen Jahrzehnten eine deutliche Aufwertung der Zunge in der Gesellschaft stattgefunden hat. "Sie ist in der Popkultur und in Filmen viel sichtbarer als früher. In sozialen Medien ist das Zungerausstrecken mittlerweile eine verbreitete Geste, die besagt: Mir geht es prima und ich habe gerade wahnsinnig viel Spaß!"

Das Rausstrecken der Zunge hat Werner überhaupt länger beschäftigt: "Der erste Prominente, der das öffentlich gemacht hat, war Albert Einstein. Als die Fotografen ihn an seinem 72. Geburtstag belagerten und nicht in Ruhe ließen, streckte er ihnen die Zunge raus. Dabei entstand das bekannte Foto."

4.000 Geschmacksknospen auf der Zunge sorgen dafür, dass wir süß, sauer, salzig, bitter und würzig wahrnehmen können

Vor 365 Millionen Jahren entstanden

Der Schriftsteller war von dem Organ in den Bann gezogen, und er recherchierte drei Jahre lang. "Es gibt kein anderes Körperteil, das gleichzeitig innen und außen ist", so Werner. Das Faszinierendste an der Zunge war für ihn "die Erkenntnis, dass sie vor 365 Millionen Jahren als Reaktion auf das Leben an Land entstanden ist".

Als die Tiere noch im Wasser lebten, brauchten sie keine Zunge. Die Nahrung schwamm ihnen direkt ins Maul. "An Land jedoch war ein Organ nötig, das die Grenzen des Körpers überwinden kann und die Nahrung hereinholt", so Werner. Sei es der Frosch, der Fliegen fängt, oder die Katze, die Milch aus der Schüssel schleckt.

»Es gibt kein anderes Körperteil, das gleichzeitig innen und außen ist«

Florian Werner Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler

Menschen benötigen die Zunge fast ununterbrochen: nicht nur zum Essen, sondern auch zum Sprechen und zum Schlucken von Nahrung. Die Zunge ist sehr gut durchblutet, hat viele Nerven und ist nur über die Wurzel fest mit dem Mundboden verwachsen, aber ansonsten frei beweglich. Mit den bis zu 4.000 darauf befindlichen Geschmacksknospen können wir das Aroma von Speisen wahrnehmen.

Fünf Techniken des Zungenkusses

Über 200 Seiten widmet sich Werner in seinem neuen Buch ausschließlich der Zunge. Es gibt zu allen Aspekten ein Kapitel: vom Sprechen, Schmecken, Zeigen, Lecken bis hin zum Abschneiden.

Das erste Kapitel, das der Literaturwissenschaftler schrieb, beschäftigte sich mit dem Zungenkuss. "Es gab bislang kaum Literatur dazu. Das Thema wurde eher schamhaft verschwiegen." Werner kam zu dem Schluss, dass ein Zungenkuss "einerseits 'animalisch' wirkt, andererseits aber eine spezifisch menschliche Kulturtechnik ist". Schließlich gibt es ihn gar nicht in allen Regionen der Welt gleichermaßen, sondern er ist in Indien und Europa entstanden.

In Teilen Afrikas und Ozeaniens gab es zunächst keine Zungenküsse und sie wurden erst später verbreitet.

Der Schriftsteller forschte also weiter und stellte schließlich fest, dass es mindestens fünf verschiedene Techniken den Zungenkusses gibt. "Auch das wurde bisher in der Literatur kaum beachtet", so Werner.

Faszination und Erkenntnis

Werner hofft, mit seinem Buch möglichst viele Menschen anzusprechen. Denn, so der Autor: "Das Faszinierende ist, dass wir alle eine Zunge haben und sie ununterbrochen benutzen. Aber im Normalfall denken wir überhaupt nicht darüber nach. Erst wenn sie verletzt ist oder bei einer Erkältung einen Belag hat, merken wir überhaupt, dass wir eine Zunge haben."

Während seiner Recherchen konnte Werner auch viel für sich lernen. "Ich merke beim Schreiben, dass der Ekel gegenüber dem Gegenstand immer weiter abnimmt, je mehr man sich damit beschäftigt."

So habe er es zunächst als grauslich empfunden, wenn ihn Familienhund Jim abschleckte. Doch "wenn man mehrere Jahre über ein Thema nachdenkt, dann schreckt einen gar nichts mehr. Dann ist einem nichts Zungenhaftes mehr fremd."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 44/2023.

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