"Wir sind Sturmspitzen"

von Menschen - "Wir sind Sturmspitzen" © Bild: Sebastian Reich

Sie proben gerade Samuel Becketts modernen Klassiker "Endspiel" aus den Fünfzigerjahren. Wir scheinen gerade mehr in einer Endzeit zu leben als damals. Gewinnt das Stück an Aktualität?
Nicholas Ofczarek: Es ist tatsächlich allgegenwärtig. Zu jeder Zeit.
Michael Maertens: Absolut. Es ist unabhängig von jedem Tagesgeschehen. Vergänglichkeit, Tod und Liebe, das sind Themen, die immer aktuell sind, die uns angehen. Und das auf eine ganz geheimnisvolle, spannende, anrührende, gruselige Weise. Es wird in hundert Jahren noch so spannend sein wie vor sechzig Jahren.

Wird es in hundert Jahren überhaupt noch Menschen geben?
Ofczarek: Sicher, das Prinzip Hoffnung lebt auch in diesem Stück.
Maertens: Das ist es, was das "Endspiel" so berührend macht: Bei aller Apokalypse gibt es immer die kleine Hoffnung auf einen Ausweg.

Leben wir politisch in einem Endspiel?
Ofczarek: Ich finde vieles heute bedrohlich. Wir lassen Populisten aufkommen, die keine Lösungen haben. Vielleicht wird man durch die Folgen des Brexits endlich sehen, was das für Blasen sind. Wir zahlen noch immer die Schulden des Hypo-Skandals, aber keiner erinnert sich mehr, wer daran schuld ist. Aber die anderen Parteien sind auch nicht gerade stark. Im Moment kann keine Partei mit Inhalten aufwarten. Wobei Kern zumindest ein Hoffnungsschimmer ist.

Sie sind ein Bühnenpaar wie einst Gert Voss und Ignaz Kirchner, die ebenfalls "Endspiel" aufführten. Was empfinden Sie dabei?
Maertens: Am Anfang dachte ich, ich bin Voss und er ist Kirchner, dann war es wieder umgekehrt. Wir haben uns von Anfang an respektiert, aber ich habe jetzt das Gefühl, einen neuen Freund gefunden zu haben.
Ofczarek: Ja, hast du. So eine gemeinsame Theaterbiografie hilft bei einem Stück wie "Endspiel" sehr viel.

Ist es nicht eine Last, als Sturmspitzen des Hauses anzutreten?
Maertens: Scheitern gehört dazu, und wir sind geübte Sturmspitzen. Wir wollen diese Aufgabe und werden uns ihr auch stellen. Über den Druck zu jammern, wäre lächerlich. Wobei Niki im "Endspiel" mehr der Spielmacher ist. Ich muss rennen und stürmen und die Bälle reinschießen. Die Rolle ist körperlich wahnsinnig anstrengend.

Beckett schrieb seitenlange Regieanweisungen. Wie spielt man diese?
Ofczarek: Wir halten uns sehr genau daran, denn das Stück hat eine präzise Partitur. Das Ziel ist, diese Partitur so zu verinnerlichen, dass dann im Spiel der Moment der Freiheit entsteht.
Maertens: Große Musiker fangen an frei zu sein, wenn sie die Partitur können. Und dann beginnt die eigentliche Emotion. So ist es auch hier: Eine geniale Komposition gibt uns Halt und Rückendeckung. Dazu kommt ein 80-jähriger, feiner, wacher, agiler, toller Beobachter, Regisseur Dieter Dorn, mit dem ich schon früher gearbeitet habe.
Ofczarek: Ein Meister.
Maertens: Ein großes Geschenk der Salzburger Festspiele.

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»Ich bin immer noch euphorisch, aber man wird älter und klarer und merkt, dass man auf gewisse überflüssige Dinge verzichten kann«

Diese Art Theater ist doch nicht mehr modern. Heute würde man zu Rollen eine ironische Distanz herstellen.
Ofczarek: Ja, und somit das Publikum bevormunden. Aber das ist nicht mein Theater, das interessiert mich nicht. Es ist ein Spiegel unserer Zeit, dass die Form wichtiger als der Inhalt ist. Damit ist die Form inhaltslos geworden, und die Leute springen auf dieses Nichts an. Das Theater muss wieder zurück zum Inhalt gehen. Ich bin immer verstimmt, wenn mir suggeriert wird, wenn ich indoktriniert werde. Wenn mir das Theater vorschreibt, was ich lustig finden soll und wie ich etwas zu verstehen habe.
Maertens: Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass man es nicht moderner machen kann. Wenn man sich entschieden hat, Beckett zu machen und ernst zu nehmen, muss man ihm folgen.

Was ist eigentlich Komik?
Ofczarek: Es gibt zig verschiedene Arten von Komik. Aber wir treten hier nicht an, um Komiker zu spielen. Man darf nicht bewusst komisch sein, sondern muss so ernsthaft wie möglich in Situationen einsteigen.
Maertens: Auch uns passiert es manchmal, dass wir etwas mit Ansage spielen. Aber dieses Stück macht es uns eigentlich sehr leicht, es ist so existenziell, verzweifelt und suchend, und trotzdem kommt die Komik hervor. Wir lachen ja gerne über das Unglück anderer, wie man bei Charlie Chaplin und Buster Keaton sieht.

Das attestiert dem Menschen doch eine gewisse Grundbösartigkeit, oder?
Maertens: Der Mensch ist böse.
Ofczarek: Und Lachen ist Erkenntnis.

Wer ist der größte Komiker aller Zeiten?
Ofczarek: Buster Keaton. Weil er mir als Zuschauer die Entscheidung überlässt, das Denken und das Lachen öffnet.
Maertens: Er war auch ein genialer Akrobat. Alles, was man in den Filmen sieht, hat er selber gemacht.
Ofczarek: Er hat als Komiker bei seinen Eltern angefangen. Als Staubfetzen. Der Vater hat ihn umgedreht und mit ihm die Bühne aufgekehrt.
Maertens: Für mich gibt es viele gleichrangige Komiker: Buster Keaton, Charlie Chaplin John Cleese, Woody Allen, Louis de Funès.
Ofczarek: Alle waren sehr ernsthaft. Heute heißen Komiker Comedians und zeigen den Zusehern überdeutlich, worüber gelacht zu werden hat.

Wie gefällt Ihnen denn Jan Böhmermann, der Erdoğan satirisch nahegetreten ist?
Maertens: Mir ist er zu ambitioniert. Ich sehe ihm an, dass er frech und witzig sein muss, deswegen wirkt das nicht so witzig. Man merkt, dass er bei Harald Schmidt gelernt hat, aber er reicht nicht an ihn heran.
Ofczarek: Es fehlt das Feinsinnige.

Wie war das, während der Finanzkrise das Haus zu stützen, während rundum alles zusammenbrach und Direktor Matthias Hartmann entlassen wurde?
Maertens: Es gab eine Zeit, wo man sich beschmutzt fühlte.

Ist Ihre Freundschaft mit Hartmann geblieben?
Maertens: Ja, aber wir sehen einander selten. Er ist Patenonkel bei mir, ich bin Patenonkel bei ihm. Es ist erstaunlich, dass er nur in Dresden und Stuttgart und an der Mailänder Scala inszeniert. Man wirft ihm vor, dass er viel Geld verdient hat. Das ist Sozialneid. Das Einzige, was man ihm vorwerfen könnte, ist, dass er sich nicht wie der souveränste Kapitän verhalten hat, als das Schiff gesunken ist. Aber das hat nichts mit seinen Qualitäten als Regisseur zu tun.

Allmählich beginnt es auch die Vorgängerdirektion mit Klaus Bachler und Thomas Drozda zu ereilen ...
Ofczarek: Sagt man.
Maertens: Jetzt schauen wir erst einmal, wie die Gerichte zu der Sache entscheiden.

Ist man noch stolz, am Burgtheater zu arbeiten?
Ofczarek: Ich bin schon stolz, hier zu sein. Ich bin jetzt 23 Jahre am Burgtheater und sterbe nicht mehr vor Ehrfurcht, aber ich nehme es mit der größten Demut wahr und habe großen Respekt vor diesem Haus.
Maertens: Hier gibt es noch alle Generationen zwischen 28 und 80 plus. Das ist etwas Großes, wenn man bedenkt, dass Jens Harzer mit 44 Jahren der älteste Schauspieler am Hamburger Thalia Theater ist. Das ist ein Jugendsporttheater. Die Älteren haben sie in die Rente geschickt, auch meinen Vater. Ältere Frauen werden von Jungs und tolle alte Männer von Frauen gespielt. Man versucht, Schauspieler im Alter von 63 bis 65 Jahren hinauszudrängen. In Wien gibt es noch ein Ensemble. Das erfüllt mich mit Stolz.

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»Ich würde gern irgendwann sagen: 'Es war toll, aber es reicht jetzt'«

Beunruhigt Sie der Gedanke, dass es Ihnen auch so gehen könnte?
Ofczarek: Ich entscheide schon selber, wann ich aufhöre.
Maertens: Ich könnte nicht aufhören, weil ich noch so kleine Kinder habe. Aber ich würde gern irgendwann selbst sagen: "Es war toll, aber es reicht jetzt." Ich warte, ob ich noch die Kraft habe für einen Lear. In einem gewissen Alter ist es etwas mühsam, sich durch den Staub auf der Bühne zu schleppen. Da ist es vor der Kamera angenehmer.

Wollen Sie am Theater alt werden?
Ofczarek: Ich glaube nicht. Es kostet mich zu viel. Es ist nicht unbedingt gesund.
Maertens: Er liefert sich dem Theater aus.
Ofczarek: Das geht an die Substanz, das kostet Kraft. Ich kann mir schwer vorstellen, dass ich Theater spiele, bis ich in Pension geschickt werde.

Sie wirken ernster als noch vor ein paar Jahren. Wie ist das gekommen?
Ofczarek: Das bin ich. Ich bin nicht bitter, aber ich weiß, es muss noch andere Dinge im Leben geben.

Sie machen heute weniger als früher. Wie wurde denn Ihre Euphorie gebrochen?
Ofczarek: Ich bin immer noch euphorisch und besessen, aber man wird älter und klarer und merkt, dass man auf gewisse überflüssige Dinge verzichten kann.

Was ist überflüssig?
Ofczarek: Existenznöte. Beweisdruck. Hirngespinste, die man hat, wenn man jung ist. Mein Körper hat mich bestraft. Ich musste zwangsweise umdenken, und es war herrlich.

Auch Sie, Herr Maertens, spielen weniger. Es gab eine Zeit, da spielten Sie fünf Hauptrollen in einer Saison.
Maertens: Stimmt. Mein Erscheinen an der Burg war in den ersten Jahren schon überdimensioniert. Weil ich so viele Stücke aus Bochum und Zürich im Gepäck hatte. Mithilfe von Karin Bergmann durfte ich auf die Bremse drücken und in dieser Saison nur eine Premiere spielen. Das war dringend nötig.

Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft Ihrer Kinder?
Ofczarek: In Wirklichkeit ist unsere Situation das Produkt einer verfehlten Bildungspolitik, die vor 30 Jahren begonnen hat. Ich kann nur dafür sorgen, dass meine Tochter eine gute Bildung und auch eine gute Herzensbildung bekommt, damit sie nicht mit dem Strom mitschwimmt.
Maertens: Es macht mich fast depressiv, dass fast täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken und dass man keine Lösungen findet. Die Ungerechtigkeit macht mich fassungslos. Wir können nur mit Herzensbildung arbeiten. Wir lernen immer mehr, dass Geld nicht so wichtig ist. Meine Eltern hatten finanzielle Sorgen und ließen uns drei Kinder das nie spüren. Ich hoffe, dass ich für meine beiden Kinder möglichst viel und lange da sein werde und ihnen helfen kann, durchs Leben zu gehen.

Zum Stück

"Endspiel" von Samuel Beckett
Der blinde, gelähmte Hamm, dessen Eltern und der Diener Clov leben in einem Zimmer. Sie könnten die letzten Überlebenden einer Katastrophe sein. Dieter Dorn inszeniert Becketts 1956 verfasstes Stück, es spielen Nicholas Ofczarek, Michael Maertens, Joachim Bißmeier und Barbara Petrisch. Salzburger Festspiele, ab 30.7. Akademietheater, ab 4.9.

Zu den Personen

Nicholas Ofczarek wurde 1971 in Wien als Sohn des Opernsängerpaars Roberta und Klaus Ofczarek geboren. 1994 engagierte ihn Claus Peymann ans Burgtheater. Von 2010 bis 2012 spielte er den Jedermann bei den Salzburger Festspielen, im November ist er in Ayad Akhtars Stück "Geächtet" am Burgtheater zu sehen. Mit David Schalko drehte er gerade den ORF-Krimi "Höhenstraße" und mit Lars Becker einen weiteren Kriminalfilm. Ofczarek ist mit Tamara Metelka, der Co-Leiterin des Max Reinhardt Seminars, verheiratet. Das Paar hat eine Tochter.

Michael Maertens wurde 1963 als Sohn des deutschen Schauspielers Peter Maertens in Hamburg geboren und ist seit 2009 im Ensemble des Burgtheaters. Seine nächste Wiener Premiere ist Arthur Millers "Hexenjagd" im Dezember. In Philipp Stölzls zweiteiligem "Winnetou"-Fernsehfilm spielt er den Bösewicht Santer jr., mit Detlev Buck drehte er den dritten Teil des Kinderfilms "Bibi und Tina". Maertens ist mit der Schauspielerin Mavie Hörbiger verheiratet. Das Paar hat zwei Kinder.

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