"Ich ging für die Türkei auf die Straße"

Tausende Türken demonstrierten in Wien für Erdoğan. Einer von ihnen sagt, warum

Mitten in der Nacht stehen 4000 Menschen vor der türkischen Botschaft in Wien. Sie demonstrieren gegen den Putsch in der Türkei, die meisten unterstützen auch den türkischen Präsidenten. Der 29-jährige Recep Akalin war dabei. Hier erzählt er seine Sicht der Dinge.

von Recep Akalin © Bild: Heinz Stephan Tesarek/News

Am Abend des Putschversuchs war ich mit zwei Freunden etwas trinken. Kurz zuvor habe ich noch gehört, dass in Istanbul eine Brücke über den Bosporus gesperrt wurde; ich habe mir aber nichts dabei gedacht. Auf Facebook habe ich dann allerdings ein Video gesehen: Ein bewaffneter Soldat forderte darin einen Bürger auf, nach Hause zu gehen, weil sie die Macht übernehmen. Da wurde mir klar: Die Situation ist todernst. Jede Minute kamen neue Bilder: Soldaten, die auf Zivilisten schießen, Panzer auf den Straßen, Kampfhelikopter in der Luft. Meine Freunde haben ihre Verwandten in Istanbul angerufen. Die wussten auch nicht, was da los ist. Sie sagten nur, sie hören die Schüsse.

Da kriegst du kein Auge zu

Ich war sprachlos, schockiert. Wie konnte das passieren? Mit einem Staatsstreich durch das Militär hat keiner gerechnet. Mein erster Gedanke war: Was wird jetzt mit den Menschen in der Türkei? Die Hälfte meiner Familie lebt noch dort, ich habe Angst um sie bekommen, mir Sorgen gemacht. Diese Gefühle waren unbeschreiblich. Man kann sich das nicht vorstellen, wenn man nicht selbst betroffen ist.

»Wir wollten uns für die Demokratie einsetzen, unsere Solidarität zeigen«

Auf sozialen Medien hat sich der Aufruf verbreitet, vor die türkische Botschaft in Wien zu gehen. Also habe ich zu meinen Freunden gesagt: "Freunde, wir müssen jetzt hinter der Türkei stehen." Wir wollten uns für die Demokratie einsetzen, unsere Solidarität zeigen. Nicht für Erdoğan oder sonst jemanden, sondern für das Land.

Um das zu verstehen, muss man die Geschichte der Türkei kennen. Dreimal gab es bereits einen Militärputsch: 1960,1971 und 1980. Das Land hat sehr darunter gelitten. Unsere Eltern und Großeltern haben das selbst miterlebt, wir sind mit diesen Horrorgeschichten groß geworden. Wenn wir also von einem Putschversuch hören, wissen wir, was auf dem Spiel steht. Da geht es nicht um Erdoğan oder um eine Partei. Es geht um die Freiheit.

Kurz nach 23 Uhr waren wir vor der Botschaft. Zuerst waren nur wenige Menschen da, dann wurden wir immer mehr. Laut Behörden waren bis zu 4000 Menschen anwesend. Viele Sprechchöre waren zu hören, auch "Allahu akbar". Ich kann verstehen, wenn Menschen in Österreich Angst bekommen, sobald sie das hören. Die Terroristen vom IS sagen auch "Allahu akbar", wenn sie jemanden köpfen. Der IS missbraucht diesen Ruf allerdings, er hat in Wahrheit keine böse Bedeutung. Meistens steckt nichts dahinter. Das ist, als würde man im Fußballstadion rufen: "Rapid vor, noch ein Tor!" An diesem Abend war es nur eine Bitte an Allah, die Putschisten mögen nicht gewinnen, mehr nicht.

»Die vielen toten Zivilisten, das hätten auch meine Neffen sein können«

Gegen drei Uhr war ich wieder zu Hause. Ich bin Ingenieur in der Autoindustrie und musste am nächsten Tag arbeiten. Ich konnte aber nicht schlafen. Permanent habe ich mir die neuesten Meldungen angesehen. Die vielen toten Zivilisten, das hätten auch meine Neffen sein können. Ich war wütend und hatte schreckliche Angst. In so einer Situation kriegst du kein Auge zu.

Wenn ich mir jetzt die westlichen Medien ansehe, kann ich nur den Kopf schütteln. Da findet ein Türkei-Bashing statt. Die Verbrechen der Putschisten sind praktisch schon vergessen, stattdessen liest man jeden Tag nur vom bösen Erdoğan und von seinen bösen Anhängern in Österreich. Wenn aber in Wien für den Anführer der weltweit als Terrororganisation eingestuften PKK demonstriert wird, was regelmäßig vorkommt, interessiert das die Medien kaum. Dabei hat die PKK Zehntausende Menschen auf dem Gewissen, in der Türkei ist praktisch jede Familie direkt oder indirekt von ihren Verbrechen betroffen. Für mich gibt es zwischen der PKK und dem IS keinen Unterschied. Diese Doppelmoral treibt einen Keil zwischen die Menschen, das ist gefährlich. Bis jetzt haben wir doch auch friedlich zusammengelebt.

Ich bin in Wien geboren und aufgewachsen, ich bin ein stolzer Österreicher mit türkischen Wurzeln. Deswegen steht für mich auch außer Frage: Gäbe es einmal einen Putschversuch in Österreich, wäre ich sofort wieder auf der Straße, ohne zu zögern. Aber natürlich bin ich auch mit dem Land meiner Eltern verbunden. Bei vielen Türken in Österreich hat das vielleicht auch damit zu tun, dass sie sich hier nicht vertreten fühlen.

Ein mulmiges Gefühl

Erdoğan hat viel Gutes für die Türkei getan. Als ich klein war, konnten sich meine Verwandten kaum etwas leisten. Heute haben sie gute Jobs, schöne Autos und die neuesten Smartphones. Die Staatsverschuldung ist zurückgegangen, die Inflation hat sich normalisiert. All das ist unter Erdoğans Regierung geschehen. Früher durften Frauen mit Kopftuch zudem an öffentlichen Universitäten nicht studieren. Erdoğan hat dem Land diese Freiheiten gegeben.

Ich hoffe, dass sich die Lage in der Türkei wieder beruhigen wird. Noch im Sommer werde ich selbst wieder hinfahren. Dieses Jahr gab es schon so viele Anschläge, und jetzt auch noch der Putschversuch mitten in der Urlaubszeit. Da hat man natürlich ein mulmiges Gefühl. Aber meine Oma und Schwester leben dort und ich möchte sie auch heuer sehen.

Fakten

Türken in Österreich

Etwa 300.000 Menschen in Österreich haben Wurzeln in der Türkei, 114.740 davon sind türkische Staatsbürger. Türkische Migranten sind nach jenen aus Ex-Jugoslawien und Deutschland die größte Zuwanderergruppe. Mittlerweile wandern aber kaum noch Türken nach Österreich zu. Im Vorjahr kamen nur 339 Menschen mehr ins Land, als in die Türkei auswanderten. Der türkische Präsident Erdoğan ist unter Auslandstürken sehr populär. 69 Prozent gaben seiner konservativen Partei bei den Wahlen im Herbst 2015 ihre Stimme, insgesamt erreichte die AKP nur 49,5 Prozent. Türkische Staatsbürger verdienen in Österreich im Schnitt pro Jahr um 5185 Euro weniger als Einheimische. Fast jeder vierte ist armutsgefährdet, mehr als jeder zweite ist als Arbeiter beschäftigt. Laut einer GfK-Erhebung gab die Hälfte der in Österreich lebenden türkischstämmigen Personen an, dass sie sich eher der Türkei zugehörig fühlen, die andere Hälfte nannte Österreich. Ebenfalls die Hälfte sagt, sie würden diskriminiert, weil sie Zuwanderer sind. Knapp ein Viertel gibt an, mit der österreichischen Gesellschaft eher oder gar nicht einverstanden zu sein.