Weltschmerz

Schreckliche Ereignisse machen uns ratlos. Viele wollen abschalten und sich zurückziehen. Dabei gibt es Wege, wie wir mit der Verunsicherung umgehen können.

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Nach dem Attentat - Weltschmerz

Bei der Todesfahrt mit einem Lastwagen in einen Berliner Weihnachtsmarkt handelt es sich nach Erkenntnissen der Polizei um einen "vermutlich terroristischen Anschlag", bei dem am Montagabend zwölf Menschen starben. Der Täter lenkte einen mit Stahlträgern beladenen Laster in die Menge an der Gedächtniskirche, deren Ruine als eines der Wahrzeichen Berlins bekannt ist.

Schreckliche Ereignisse, von denen schon jedes für sich schwer fassbar ist, lassen uns ratlos zurück. Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten, wir können sie nicht mehr verstehen.

Die Welt ist aus dem Lot

Aber war die Welt nicht zu allen Zeiten ein Ort, an dem sich Schönes und Schreckliches gleichermaßen ereignet? Es ist auf diesem Planeten ohne Zweifel schon Schlimmeres geschehen als an diesem Wochenende. Warum drängt sich gerade jetzt der Eindruck auf, dass etwas Grundlegendes nicht mehr stimmt?

In Goethes "Faust" freut sich ein Bürger an den Friedenszeiten gerade dann besonders, wenn er sich bewusst macht, dass "hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen". Wenn anderswo Krieg herrscht, dann hat das nichts mit seinem Leben zu tun. Es erreicht ihn höchstens als wohliger Schauer und erinnert ihn daran, wie gut es ihm doch geht. Objektiv betrachtet, geht es der Welt auch heute gut.

Die meisten Anschläge in Europa gab es in den 1970er- und 1980er-Jahren. In Portugal, Spanien, Griechenland und der Türkei gab es damals Militärdiktaturen, ohne dass die Welt aus den Fugen geraten schien. Das vergangene Jahr hingegen war das beste in der Geschichte der Menschheit. Noch nie gab es so viele Demokratien, so viel Wohlstand, so wenige Unterernährte und so viel soziale und sexuelle Freiheit. 2015 war aber auch das Jahr der Flüchtlingskrise und der Erkenntnis, dass es sehr wohl etwas mit uns zu tun hat, wenn die Völker irgendwo hinten, weit, aufeinander schlagen. Die Illusion, in Europa wie auf einer Insel, unbelastet von den Problemen der Welt, leben zu können, ist dahin.

Informationsüberflutung

Es ist aber nicht nur die Flüchtlingskrise, die uns die Probleme der Welt näher bringt. Es ist vor allem der Medienwandel. Als 1980 das Militär in der Türkei putschte, gab es abends die "Zeit im Bild" und morgens einen Bericht in der Tageszeitung. Am Freitag, dem 15. Juli, konnte man live über Facebook zusehen, wie das Militär putschte, wie Demonstranten auf die Straße gingen und wie alles blutig endete. Schreckliche Bilder und Videos kamen sofort in Umlauf, während erste Schnellanalysen in die Timeline gespült wurden.

»Die Welt wird durch Überkommunikation zu einem einzigen Kriegsschauplatz«

Wir werden mit Informationen überflutet, die kaum mehr verarbeitbar sind. "Die Welt wird durch diese Überkommunikation rasch zu einem einzigen Kriegsschauplatz, in dem wir uns zu verlieren drohen", sagt der Sozialwissenschaftler und News-Kolumnist Harald Katzmair. Es fehlt uns an Möglichkeiten, das Geschehen zu überprüfen oder einzuordnen. Das erzeugt Ohnmacht, denn weder kann man etwas gegen Erdoğan tun, noch gegen den sogenannten Islamischen Staat.

Die Welt zu verstehen, die eigene Position in ihr als sinnvoll zu erfahren und sein Leben selbst gestalten zu können, sind aber die Grundlagen psychischer Gesundheit. "Alle drei Bereiche sind in der Krise", sagt Katzmair. Und gerade die Angst um den eigenen Status in der Welt erzeuge das Bedürfnis, sich ständig in sozialen Netzwerken mitzuteilen: "Die Statusangst produziert diese Infektion mit Informationsüberflutung."

»Die meisten Menschen sehnen sich nach einem sicheren Hafen«

Immer mehr Menschen wollen sich deshalb aus dem Nachrichtenüberfluss zurückziehen. Eskapismus, die Flucht aus der Welt, liegt im Trend. Offlineaktivitäten erleben einen zweiten Frühling. Ausmalbücher für Erwachsene verzeichnen eine Absatzsteigerung von 300 Prozent pro Jahr, aber auch Brettspiele erleben in Zeiten von "Pokémon Go" einen neuen Boom. Der Brettspiele-Hersteller Ravensburger beispielsweise wächst das zehnte Jahr in Folge, vergangenes Jahr sogar um 19 Prozent. Ein neues Biedermeier nennen das manche. "Die Wiederkehr der Konformität" nennt es die deutsche Soziologin Cornelia Koppetsch im gleichnamigen Buch. "Die meisten Menschen sehnen sich gegenwärtig nicht nach Umsturz und Veränderung, sondern nach einem sicheren Hafen und verlässlichen Strukturen", schreibt sie. Die Mittelschicht sei konservativ geworden.

Trend zur Weltflucht

Aber ist es nicht ein verständlicher Impuls, sich von einem Weltgeschehen zurückzuziehen, das man nicht begreifen, geschweige denn verändern kann? Durchaus nachvollziehbar sei das laut der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft, die nach den Anschlägen von 9/11 eine Handlungsanleitung herausgab, in der sie erläutert, wie man mit Schreckensmeldungen umgehen soll. Nehmen Sie sich eine Nachrichtenpause, lautet die erste Empfehlung. Sich endlos gewalttätigen Bildern auszusetzen, erzeugt Stress. Das kann auf Dauer Krankheiten auslösen - von Übergewicht bis zu Depressionen.

"Es ist eine normale Reaktion, dass man bei einer Häufung von Negativmeldungen das Bedürfnis verspürt, sich zurückzuziehen", sagt die Präsidentin des österreichischen Psychologenverbands, Sandra Lettner. Wenn man mit negativen Meldungen konfrontiert ist, solle man sich Dinge überlegen, die in der Welt gut sind. Wir brauchen Abschalt- und Reflexionsphasen, um das Geschehen zu verarbeiten. Wer nur von einer Nachricht zur nächsten eilt, läuft Gefahr, einfachen Antworten auf den Leim zu gehen - Stichwort Verschwörungstheorie.

Wenn die Welt uns schmerzt

Am Zustand der Welt kann man verzweifeln. Man nennt das Gefühl Weltschmerz. Normalerweise können wir das gut verarbeiten, und wenn sich die Lage beruhigt, vergeht das Gefühl rasch wieder.

»Man muss nicht dabei gewesen sein, um betroffen zu sein«

Doch je betroffener man sich selbst fühlt, desto intensiver setzt man sich mit dem Geschehen auseinander. Mit belastenden Ereignissen konfrontiert zu sein, kann zum psychischen Problem werden, selbst wenn man gar nicht direkt betroffen ist. In der Traumatologie gibt es den Begriff der sekundären Traumatisierung. "Man muss nicht dabei gewesen sein, um von einem Ereignis betroffen zu sein", erklärt Lettner. Man spricht dann von einer akuten Belastungssituation. Bleibt sie über Monate aufrecht, kann sie sich sogar zu einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln.

Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Nach 9/11 suchten weit mehr Feuerwehrleute psychologische Hilfe, als an Ort und Stelle im Einsatz gewesen waren. Ihr Beruf machte sie sensibel für das Schicksal ihrer Kollegen, die im Einsatz gestorben waren. Das kann beispielsweise auch Touristen passieren, die zur Zeit der Attacke in Nizza waren.

Die Zeit heilt alle Wunden

In den meisten Fällen geht die Belastung zurück, wenn die Situation sich bessert. Hier ist es laut Lettner wichtig, dass staatliche Institutionen Ruhe in die Situation bringen und signalisieren, dass sie handeln. Aber man kann sich auch selbst die Frage stellen, was einem Sicherheit gibt. Das ist für jeden Menschen individuell unterschiedlich. Es kann Zeit mit dem Partner, aber beispielsweise auch die Arbeit sein. Entscheidend ist, dass man sich mitteilt. "Geteiltes Leid ist halbes Leid, heißt es im Volksmund. Das stimmt aber auch in psychologischer Hinsicht", sagt Lettner.

Tragische Ereignisse haben letztlich auch immer etwas Unerklärliches. Was jemanden dazu bringt, mit einer Axt auf Mitmenschen einzuschlagen, wird immer unbegreiflich bleiben. Andere Ereignisse, wie ein Militärputsch und andere Staatskrisen, lassen sich zwar intellektuell verstehen, aber man kann sie selbst nicht ändern. Es hilft deshalb, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken und sich klarzumachen, dass nicht nur Schlechtes auf der Welt passiert.

Es tut gut, sich mit Freunden auszutauschen und einander seine Emotionen mitzuteilen. Um mit einem tragischen Ereignis abzuschließen, kann auch ein gemeinsames Trauerritual hilfreich sein. Am Strand von Nizza versammelten sich viele, um Kerzen aufzustellen, Blumen niederzulegen und der Verstorbenen zu gedenken. Auch das Gefühl, nicht allein zu sein, heilt Wunden.

Weltschmerz, lass nach.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien erstmals im Juli 2016 als sich innerhalb von nur acht Tagen der Terroranschlag von Nizza, der Militärputsch in der Türkei und das Attentat in Louisiana ereignet hatten. Nach dem Berliner Anschlag hat der Text nichts an Aktualität eingebüßt. Leider.

Kommentare

"WIR LASSEN UNS WEIHNACHTEN NICHT ZERSTÖREN", richtig, bis auf die Menschen die ihre Liebsten an diesem Tag verloren haben, den ihr Leben und auch Weihnachten ist hiermit zerstört. Reinste Heuchelei....

Wirtschaft, Technik und Politiker haben die Welt kaputt gemacht unmd es gibt kein zurück mehr!!!! Sicherheit wird es nie mehr geben und jeder Tag außer Haus ist ein Glücksspiel!!!! Lauter Verbrecher!

Kamil Palasz

se my - https://youtu.be/HLF-AvKgZ4M

Kamil Palasz

youtu.be/HLF-AvKgZ4M

Kamil Palasz

https://youtu.be/HLF-AvKgZ4M

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