Weinwurm bis Schnitzerl

Das Lamentieren um die "Gastro" nimmt kein Ende, die Kultur bleibt dagegen unbeweint. Ein rascher Exkurs in die Krisenlinguistik führt uns finstere Abgründe vor Augen.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Wenn der Österreicher zum Diminuitiv greift, wird es lebensgefährlich. Das Schlagerl, der Herzkasperl, dann der Gwigwi samt folgender finaler Couture in Gestalt des Holzpyjamas. Die bösesten Unholde unserer Kriminalgeschichte hießen wie Nestroy- oder Disney-Figuren: Weinwurm, Gufler, Fritzl. Die vielleicht verheerendste – weil ohne Witz und Hintersinn auf Zerstörung gerichtete – Mutation des Diminuitivs ist der Deppendiminuitiv. Als Maria Vassilakou eine blühende Geschäftsstraße niederbetonierte, machte sie nicht die Mariahilferstraße platt, sondern die MaHü, ein Trottelwort erster Ordnung. Und so hat jetzt auch die Zerstörung unserer Kulturlandschaft ihren Namen gefunden: "Kein Schnitzerl bis Ostern“ nennt man – pars pro toto, medien- wie qualitätenübergreifend – die mittlerweile tödliche Theatersperre, die mit nur unscharfer Perspektive von der Regierung prolongiert wurde. Der Begriff "Kultur" wird dabei im Gesamtpaket der Liegengebliebenen nur selten bemüht, das Deppenwort "Gastro" hingegen vorrangig. Ich, um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen, vermisse beide herzlich.

Prolongiert. Der im Wort verborgene "Prolo" übt mittlerweile Staatsgewalt aus. Justiz und Exekutive, also die Säulen unseres Rechtsstaates, wurden durch pülcherhaftes Wettwässern kontaminiert und unansehnlich: Erst führt das Innenministerium (schwarz) auf Kosten von Kindern die verkommenen Grünen bis zur sprachlosen Verlegenheit vor. Wenige Tage später sickert aus der Justiz (grün) belastendes, wenn auch wenig belastbares Material gegen den Finanzminister (schwarz) in passende Medien.

Als hätten wir nichts Dringenderes zu tun. Zum Beispiel die Lektüre einer Studie der TU Berlin, die an Vergleichbares aus dem Robert-Koch-Institut anschließt: Ex aequo mit dem Damenfriseur ist es, pandemisch-empirisch, nirgendwo sicherer als im Theater bei 40 Prozent Belegung mit Maskenpflicht. Dem hier drohenden Gefahrenpotenzial von 0,6 Prozent stehen immer noch überblickbare 1,5 Prozent im Restaurant gegenüber. Aber acht Prozent im schleißig, weil ohne Maskenverpflichtung betriebenen Büro. Bedenkt man, selbst kunstfernen Analphabeten vermittelbar, dass es Monate dauert, bis der Kartenverkauf auch nur notdürftig hochgefahren ist, so wird einem das wahre Ausmaß der Zerstörung erst bewusst. Nicht zu reden davon, dass sich ein Publikum über eineinhalb Jahre auch entwöhnen, verlaufen kann.

Vertiefen wir uns also in die Details. Die in der Berliner Studie namhaft gemachten 40 Prozent wären in der Staatsoper 920 Personen. Eine Spur weniger als die 1.000 bis 1.200, die im September und im Oktober ins Haus durften, ohne dass jemand infiziert worden wäre. 920 getestete Personen in einem Haus mit 2.300 Plätzen! Die müssten einander schon mit Opernguckern suchen und vorher beim Zirkus Krone einen Kurs in luftakrobatischem Kunstemittieren belegen, um einander zu gefährden.

Während nun die Vertreter der "Gastro" in ebenso berechtigte wie gellende Proteste ausbrechen, hört man aus der Kultur maximal dumpfes Sudern. Der Staatsoperndirektor ist insofern die Ausnahme, als er weniger (aber dann rasierklingenscharf) meutert und dafür handelt. Deshalb war ich – Treppenwitze geben in Krisenzeiten oft den Unterton an – zuletzt so oft in der Oper wie seit der Stehplatzzeit nicht mehr: Bogdan Roscic produziert permanent für den Kultursender ORF III. Und die Kritiker sind eingeladen! Warum andere nicht so aktiv werden, hat mir Matthias Hartmann erklärt, der vorzügliche, ungerechtfertigt abberufene Burgtheaterdirektor: Die Budgets der großen Bühnen gehen zu 80 Prozent in Personalkosten auf. Ein zögernd angenommenes Haus saniert sich also derzeit unter der Segnung der Kurzarbeit ohne eigenes Zutun. Die Staatsoper hingegen finanziert sich in großem Ausmaß aus ihrer hohen Auslastung und leidet jetzt entsprechend. Vor die Hunde gehen, so oder so, die verzweifelnden Freiberufler.

In törichter Kulturverliebtheit hole ich also zur weltfernen Coda aus: Es ist mir vollkommen gleichgültig, mit wem der Kanzler im Sacher gefrühstückt hat. Aber die Staatsoper bereitet für 1. April eine "Parsifal"-Premiere in aufführungshistorisch relevanter Konstellation vor. Einen Tag später beginnen in Salzburg die vorletzten Osterfestspiele des größten Dirigenten unserer Zeit. Wenn Christian Thielemann da nicht ans Pult darf: Dann wird es Zeit für Neuwahlen.

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