"Das Virus wird uns
noch Jahre begleiten"

Die Neuinfektionen nehmen wieder rasant zu in Österreich. Infektiologe Heinz Burgmann erklärt, weshalb Lockerungen trotz steigender Fallzahlen sinnvoll sind

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Coronavirus - "Das Virus wird uns
noch Jahre begleiten" © Bild: News/Matt Observe

Noch ist Gesundheitsminister Rudolf Anschober nicht sonderlich beunruhigt. Die Lage auf Bundesebene sei "stabil". Die Infektionen lassen sich rückverfolgen und sind auf Cluster zurückzuführen. Solange dies der Fall ist, meint auch Heinz Burgmann, Leiter der Abteilung für Infektionen und Tropenmedizin an der MedUni Wien, ist das Virus gut beherrschbar.

Die Strategie ist, jeden einzelnen Fall zurückzuverfolgen, so schnell wie möglich alle Kontaktpersonen ausfindig zu machen und unter Quarantäne zu stellen. Damit soll die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden. Das funktioniert gut, solange die täglichen Neuerkrankungen im zweistelligen Bereich liegen. Komme Tag für Tag eine dreistellige Zahl an Infizierten dazu, werde die Nachverfolgung schwierig, sagt Burgmann.

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Zeitgleich traten mit 1. Juli weitere Lockerungen in Kraft. So sind unter anderem wieder sämtliche In-und Outdoor- Sportarten erlaubt, die Maskenpflicht für Kellner ist aufgehoben. Dazu kommt der Beginn der Ferienzeit und die damit verbundenen Reisen ins Ausland. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Fallzahlen in noch weiter ansteigen, ist jedenfalls groß.

Neue Reisewarnungen

Der Status, dass Grenzen zu einem Land offen sind oder nicht, kann sich von Tag zu Tag ändern. Alle Staaten beobachten die Zahl der Neuinfektionen der anderen Länder genau. Und so drohte Slowenien bereits damit, die Grenze zu Kroatien wieder zu schließen.

Auch in den Westbalkanstaaten breitet sich Sars-CoV-2 rasant aus. Als Folge gab Außenminister Alexander Schallenberg eine Reisewarnung (Sicherheitsstufe sechs) für Bosnien-Herzegowina, den Kosovo, Nordmazedonien, Albanien, Montenegro und Serbien aus.

Österreichern wird dringend geraten, diese Länder zu verlassen. Eine 14-tägige Heimquarantäne oder ein Coronatest sind bei der Einreise Pflicht.

"Nicht verschwunden"

Infektiologe Heinz Burgmann im Interview, darüber, was Urlauber beachten müssen und ob wir uns nicht schon längst in einer zweiten Welle befinden.

Die Fallzahlen steigen seit Tagen an. Sind Sie darüber besorgt?
Ja, eigentlich schon. Die Fallzahlen steigen kontinuierlich an. Einzelne Ausreißer wären nicht das Problem, sondern die Tatsache, dass es bereits seit Tagen mehr werden. Je höher die Zahl ist, umso schwieriger wird es, die einzelnen Fälle nachzuverfolgen. Dazu kommt, dass die Pandemie ein sehr träges System ist. Was wir jetzt sehen, sind die Infektionen, die vor einiger Zeit erfolgt sind.

Wann wird es aus Ihrer Sicht kritisch?
Kritisch wird es, wenn die Zahlen über längere Zeit ansteigen und keine umschriebenen Cluster mehr sind. Wenn das Virus plötzlich an mehreren Stellen ausbricht und der R-Wert längere Zeit über eins liegt, ist das ein Hinweis, dass die Kurve wieder exponentiell wird. Es ist wichtig, dass sich die Zahl der Neuerkrankten im niedrigen zweistelligen Bereich befindet. Bei einer dreistelligen Zahl wird die Nachverfolgung zum Problem. Jeder ist dazu aufgefordert, Vorsicht walten zu lassen. Denn es ist auch entscheidend, wie wir in den Herbst hineingehen, wenn alle anderen Viren, die grippale Infekte hervorrufen, noch dazukommen.

Befinden wir uns bereits am Anfang einer zweiten Welle?
Die Frage ist: Wie definiert man Welle? Wenn damit unkontrolliertes, exponentielles Wachstum gemeint ist, dann hoffe ich, wir kommen nicht mehr dorthin. Denn da ist der Aufwand extrem groß, um die Ansteckungen wieder zu stoppen.

Warum steigen die Fälle Ihrer Meinung nach wieder?
Viele Menschen sind mittlerweile sorglos geworden und sind der Meinung, es ist vorbei. Das ist aber nicht so. Das Virus ist da und wartet auf seine Chance, sich wieder zu verbreiten. Das könnte einfach verhindert werden, indem Abstände und Hygiene eingehalten und dort, wo kein Abstand möglich ist, Masken getragen werden. Derzeit wird sehr viel gelockert, und es ist wichtig, dass jeder Einzelne vorsichtig ist. Denn zu Beginn der Anstiege gibt es nie große Zahlen. Wird dann die Zahl der Infizierten aber deutlich höher, wird es sehr schnell wieder problematisch, den einzelnen Infizierten nachzugehen und somit den Infektionsweg einzugrenzen.

Die Urlaubszeit beginnt: Was muss man bei Reisen besonders beachten?
Zuerst stellt sich die Frage, wo man hinfährt. In ein Land mit hohen Übertragungsraten zu reisen, ist nicht empfehlenswert. Außerdem kann sich, wie man sieht, die Situation in einzelnen Ländern jederzeit ändern. Entscheidend ist auch, was man im Urlaub macht. Sport im Freien ist sicherlich kein Problem. Ansonsten gelten die gleichen Regeln wie im Inland: Abstand halten, Menschenansammlungen meiden, und wenn man irgendwo eng beisammen steht, dann eine Maske tragen. Und nur, weil ein paar Mal nichts passiert ist, ist das noch kein Freibrief. Man muss einfach vorsichtig sein.

Warum werden die Sicherheitsmaßnehmen weiter zurückgenommen, obwohl die Zahl der Erkrankten offensichtlich wieder steigt?
Das ist zwiespältig. Auf der einen Seite muss rechtzeitig Stopp gesagt werden. Aber es ist ja immer eine Summe von Maßnahmen, und wir wissen nicht genau, welche Rücknahme davon zu dem Anstieg führt. Anderseits müssen wir das Virus in unser Leben integrieren und uns daran gewöhnen. Schließlich wird es uns noch über Jahre begleiten. Wir müssen künftig mit der Situation leben, dass es Ausbrüche gibt, wenn notwendigerweise Schulen oder ganze Ortschaften unter Quarantäne gestellt und nach einer gewissen Zeit eben wieder geöffnet werden. Es wäre toll, wenn das Virus einfach wieder verschwinden würde, wie manche annehmen. Doch die Wahrscheinlichkeit ist äußerst gering.

Sind Sie als Infektiologe von jenen Menschen enttäuscht, die alle Vorsichtsmaßnahmen missachten?
Enttäuscht ist das falsche Wort. Ich verstehe, dass die Leute wieder Normalität haben wollen. Aber es liegt an uns, die Menschen zu informieren, ihnen auf den Nerv zu gehen und ständig zu wiederholen, dass das Virus nach wie vor da und eine Gefahr ist.

Sie glauben also nicht, dass es bald einen Impfstoff oder ein Medikament gibt?
Ich kann es mir nicht vorstellen. Einen Impfstoff zu entwickeln, ist zeitintensiv, bestimmte Vorgänge können wir nicht beschleunigen. Impfstoffe sollen ja an Gesunde verabreicht werden, daher sollen die Nebenwirkungen natürlich gering sein. Ein wirksames Medikament ist ebenfalls derzeit nicht in Sicht. Interessant wäre es, schnelle und effektive Diagnostik zu entwickeln. Etwa Schnelltests, die in wenigen Minuten zeigen, ob jemand das Virus ausscheidet. Auch in diesem Bereich gibt es umfangreiche Forschungen, und es würde schon bei der Bewältigung dieser Pandemie helfen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 27/2020) erschienen!