Gar nicht hinterwäldlerisch

Tiefschwarzes Tirol testet im Zillertal die gemeinsame Schule für 10- bis 14-Jährige

von Schüler in der Schule vor dem Computer © Bild: iStockphoto.com

Noch sitzen sie alle zusammen, die zukünftigen Maturanten und die zukünftigen Facharbeiter, ein Jahr noch. Schön langsam müssen sie sich nun entscheiden, wie es weitergeht. Man könnte aber auch sagen: erst jetzt. Denn gerade in den Städten Österreichs werden die Weichen für die Entscheidung Lehre oder Matura schon viel früher gestellt. Dann nämlich, wenn es nach der Volksschule weiter in die Hauptschule oder ins Gymnasium geht. Im Zillertal, wo Lorena, David und Daniel die Schule besuchen, ist das aber anders.

Das Zillertal ist das Versuchslabor der Tiroler Landesregierung. Sieben Neue Mittelschulen gibt es hier. Seit vergangenem Schuljahr probt man in ihnen offiziell die gemeinsame Schule für alle Zehn-bis 14-Jährigen. Gelingt das Experiment, könnte das Zillertal den Anstoß dafür geben, das Bildungssystem in ganz Österreich zu reformieren. Hauptschule, Neue Mittelschule, Gymnasium - diese Schulformen wären dann Geschichte. Ausgerechnet das ÖVP- Kernland Tirol könnte mit dem Zillertal also schaffen, woran die SPÖ seit 40 Jahren scheitert: die Bundes-ÖVP von der Gesamtschule zu überzeugen.

Politischer Schachzug

Die nächste Runde im Streit um die Bildungsreform steht am 17. November an. Dann nämlich möchte die Regierung erste Ergebnisse präsentieren. Vor den großen Ferien verließ Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll (kann sich eine gemeinsame Schule bis zwölf Jahre vorstellen) die Arbeitsgruppe, die über die neue Schule verhandelt, und machte Platz für seinen Tiroler ÖVP-Parteifreund und Amtskollegen Günther Platter.

Als dieser vor drei Jahren das Zillertal als "Modellregion Gemeinsame Schule" aussuchte, hatte er wohl eher politische als pädagogische Motive. Denn pädagogisch gesehen waren die Schulen im Zillertal schon immer "gemeinsame". Praktisch alle Kinder aus der Gegend werden ohnehin in den Neuen Mittelschulen unterrichtet, das nächste Gymnasium ist weit entfernt. Die zukünftigen Maturanten und die zukünftigen Mechaniker sitzen im Zillertal also schon lange nebeneinander. Die zuständige Landesrätin Beate Palfrader nennt das Zillertal daher ein "in sich geschlossenes System, wo wenig Abzug ins Gymnasium möglich ist".

Palfrader ist ÖVP-Politikerin. Wenn sie aber über die gemeinsame Schule spricht, klingt sie ganz und gar nicht wie eine Konservative. Sie sagt dann Sätze wie: "Die Kinder aus bildungsfernen Schichten können derzeit ihr Potenzial nicht voll ausschöpfen. Wir wollen aber, dass alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft und sozialem Status die bestmöglichen Chancen bekommen." Von der Trennung der Kinder schon nach der Volksschule hält sie nichts. "Manche Kinder bekommen schon in der zweiten Klasse Nachhilfe, damit sie später ja ins Gymnasium kommen. Das ist doch verrückt, Kinder brauchen einfach mehr Zeit, um ihre Talente und Begabungen zu entdecken", sagt sie.

»In der zweiten Klasse schon Nachhilfe, das ist verrückt«

Beate Palfrader weiß, dass es dieses Problem im Zillertal so nicht gibt. Trotzdem wurde das Zillertal zur Modellregion. Das ist aber kein Widerspruch, denn Ziel war ohnehin nie, ein neues Schulsystem zu testen. Vielmehr versucht man zu beweisen, dass alle Schüler davon profitieren, wenn sie nach der Volksschule zusammen bleiben. Ein Team von Wissenschaftlern wird daher nun den Erfolg der Modellregion erheben. So erhofft sich die Tiroler ÖVP Belege für ihre These. Noch gebe es keine Ergebnisse, dafür sei es zu früh, sagt Palfrader. Sie macht aber keinen Hehl daraus, was sie sich politisch von den Ergebnissen erhofft: Bewegung in der Bundes-ÖVP.

Diese Bildungsdiskussion dauert nun schon mehr als vier Jahrzehnte, weiterentwickelt hat sich wenig. Die Fronten im Bund sind verhärtet. Dagegen sind: die ÖVP und die FPÖ. Dafür sind: die SPÖ und die Grünen. Die einen befürchten, dass das Niveau sinkt, dass die besseren Schüler nicht mehr gefordert und die schlechteren Schüler nicht mehr gefördert werden. Die anderen erhoffen sich dadurch mehr Chancengleichheit. Und dass nicht mehr schon der Volksschulabschluss über den weiteren Bildungsweg entscheidet.

Hauptschule als "Restschule"?

Spätestens heuer sind alle Hauptschulen österreichweit zu Neuen Mittelschulen geworden. Es gab Handlungsbedarf, denn wer etwa in Wien in eine Hauptschule kam, dessen Chancen standen schlecht, später einmal die Matura zu machen. Nur jeder fünfte Wiener Maturant hat zuvor eine Hauptschule besucht, praktisch alle anderen Maturanten kommen aus der AHS- Unterstufe. Um ihren Kindern alle Türen offen zu halten, drängen die meisten Eltern daher in ein Gymnasium. Bildungsexperten bezeichnen die Hauptschule daher gerne auch als "Restschule".

Das stimmt zwar, aber es stimmt nicht überall in Österreich. Außer in Wien lässt sich das in den anderen Bundesländern nicht so eindeutig sagen. In Tirol etwa haben mehr als die Hälfte der Maturanten eine Hauptschule absolviert, auch im Burgenland und in Vorarlberg sind es mehr als 50 Prozent. Dort entscheidet die Hauptschule also kaum über den weiteren Bildungsweg. Wer am Land in eine Hauptschule geht, hat oft genauso gute Chancen, später die Matura zu machen, wie jemand, der in die AHS-Unterstufe kommt.

Wie ist es nun aber wirklich, wenn die stärkeren und die schwächeren Schüler bis 14 in derselben Klasse sitzen? Die zukünftigen Ärzte Seite an Seite mit den zukünftigen Hacklern, wie kann das funktionieren? Im Zillertal ist das keine theoretische Frage, sondern Alltag. Michael Bachlechner unterrichtet hier seit 20 Jahren Deutsch und Geschichte. Er sagt: "Im klassischen Frontalunterricht wird man scheitern." Man müsse sich überlegen, wie man alle Schüler bei der Stange hält. "Die begabten Kinder dürfen sich nicht langweilen und die weniger begabten dürfen nicht überfordert werden." Klingt gut. Nur wie schafft man das?

»Kinder in dieselbe Schule zu stecken löst alleine noch nichts«

Im Zillertal orientieren sich die Lehrer an folgendem Prinzip: Sie stellen Aufgaben, bei denen zunächst einmal alle Kinder einsteigen können, sogenannte authentische Leistungsaufgaben. Die Fragen sind im besten Fall offen formuliert, altmodische Richtig-oder-falsch-Lösungen gibt es kaum. Beurteilt wird dann nicht, ob die Aufgabe erfüllt wurde, sondern wie sie erfüllt wurde (Beispiele siehe Kasten unten). Das ist allerdings keine Erfindung der Modellregion, ebenso wenig die zwei Lehrer, die in vielen Stunden gemeinsam unterrichten, oder die verhältnismäßig kleinen Klassen, in denen nur 16 bis 24 Schüler sitzen.

Pädagogisch hat sich im Zillertal im Grunde nicht viel verändert. Der Fokus liegt jetzt mehr auf den individuellen Stärken der einzelnen Kinder. Jeder Schüler bekommt bei Schuleintritt beispielsweise einen Ordner, in dem Texte, Zeichnungen oder Tests gesammelt werden, bei denen man besonders gut war. Pädagogen nennen das ein Kompetenzportfolio. So soll jedes Kind verinnerlichen, dass es etwas gibt, worin es gut ist. Und so soll jedes Kinder individuell gefördert werden, unabhängig von seinem sozialen Hintergrund.

Kann das in ganz Österreich funktionieren? Stefan Hopmann hat da seine Zweifel. Hopmann ist Bildungswissenschaftler an der Universität Wien, die Entwicklung von Lehrplänen und Schulen sind seine Spezialgebiete. Hopmann zweifelt nicht an den pädagogischen Konzepten im Zillertal, auch nicht an der gemeinsamen Schule an sich. Für ihn sind das einfach nur die falschen Fragen. "Wenn das Ziel mehr soziale Gerechtigkeit in den Schulen ist, dann ist der Schultyp schlicht zweitrangig", sagt er.

Schüler lernen nicht zwangsläufig gemeinsam

Ob Hauptschule und Gymnasium oder eine gemeinsame Schule für alle, das sei nicht entscheidend. Zumal auch in Ländern mit gemeinsamer Schule - in Finnland, Kanada, Australien und in vielen anderen Staaten - die Schüler nicht zwangsläufig "gemeinsam" lernen, sagt er. Die Kinder der Arbeiter und die Kinder der Akademiker werden dort eben durch andere Mechanismen getrennt: durch den Wohnort, durch das Schulgeld für Privatschulen oder durch das Programm der Schulen - nicht jeder kann sein Kind in eine Musikschule schicken, für die man zwei Instrumente beherrschen können muss. Vergleichen kann man das mit den Volksschulen Wiens, die zwar rechtlich auch keine Trennung der Schüler vorsehen, am Ende aber irgendwie doch oft genau das tun.

Und selbst wenn Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten tatsächlich in derselben Schule sitzen, werden die Bildungschancen nicht automatisch gerechter, sagt Hopmann. "Wenn Eltern die Ressourcen haben, um ihren Kindern einen Vorsprung zu verschaffen, dann tun sie das. Kinder in dieselbe Schule zu stecken, löst alleine daher noch nichts."

Der einzige Weg sei es, Ressourcen in die Hand zu nehmen und all jenen Kindern zu helfen, denen ihre Eltern zu Hause nicht ausreichend helfen können. "In welcher Schulform das passiert, ist egal", sagt Hopmann. Was in den Klassen auf welche Art unterrichtet werde, sei eben wichtiger als das, was auf dem Schild vor dem Schulgebäude stehe.

Gegner der Gesamtschule müssen aber nicht fürchten, dass sich so schnell etwas ändert. Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek und ihre großkoalitionäre Arbeitsgruppe werden Anfang übernächster Woche wohl viel präsentieren - aber sicher keine Revolution ausrufen.

Kommentare

Bald hat jedes Tal, jedes Dorf sein eigenes Schulsystem. Rot und Schwarz im Bund gegen Rot und Schwarz in den Ländern ....
Seit vielen Jahren völliges Chaos in der Bildungspolitik!

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