Ein "fliegender Holländer" zum Abheben

Heinz Sichrovsky über ein faszinierend geglücktes Experiment

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Theater an der Wien - Ein "fliegender Holländer" zum Abheben

Als die Herzinfarkt-Oper, die einen verstört in den Alltag entlässt, war bisher Richard Strauss’ „Elektra“ ausgewiesen. Der Dirigent Marc Minkowski, der Regisseur Olivier Py und eine zur Höchstleistung motivierte Besetzung rücken den „Holländer“ überraschend in dieselbe Hochemotionsliga. Minkowski und sein Originalklangorchester „Les Musiciens du Louvre“ lassen das Werk also so erklingen, wie man es zur Entstehungszeit vermutlich hören konnte. Dem Anschein nach ist das widersinnig: Wagner wollte stets das Unmögliche, ihm schwebten szenische und und musikalische Effekte vor, die erst später technisch möglich waren. Andererseits ließ Wagner in Bayreuth keine 3000-Personen-Halle, sondern eines der intimsten Opernhäuser der Welt erbauen, durchaus vergleichbar dem Theater an der Wien. Dort gelangen Minkowski und seine groß besetzte Truppe zu wahrhaft ekstatischem Musizieren. Die Virtuosität etwa der Naturhornbläser lässt die Unterschiede zu modern ausgestatteten Orchestern ohnehin verschwinden. Auch der scharfe, akzentuierte Oboenklang ist dem der Wiener Spielpraxis nahe. Und die vibratolosen Streicher erzeugen eine Art gespenstischer Fahlheit, die dem Werk entspricht. So bleibt also, über alle ideologischen Dispute hinweg, ein auf höchstem Niveau musizierter „Holländer“. Das sollte genügen.

Auch Py, eine der bemerkenswertesten Erscheinungen gegenwärtiger Opernregie, dringt an die Essenz des Werks vor. Hier gibt es kein Schiff und kein Porträt an der Wand. Pierre-André Weitz hat bloß eine Bretterwand entworfen. In ihr tun sich Klappen auf, die direkt zu den Ängsten, Seelendeformationen und neurotischen Schreckensbildern der handelnden Personen führen. Auch der Holländer, der dazu verflucht wurde, ewig die Weltmeere zu durchmessen und nicht sterben zu können, ist eine dieser Projektionen des Unbewussten. Der im Werk oft apostrophierte Satan tritt als stummer Pantomime auf. Und so wie beim schwarzromantischen Dichter E. T. A. Hoffmann führt er Regie über den Wahnsinn, der aus den Menschen selbst kommt. Die Kostümierung lässt an eine Gruppe von Emigranten denken, das bewegt auch ohne platte Aktualisierung.

Pys Atout aber ist die psychologisch bis ins Detail motivierte Personenführung. Das mehr als respektable, zum Teil fabelhafte Ensemble spielt und singt sich die Seele aus dem Leib. An erster Stelle ist Ingela Brimbergs Senta zu nennen, eine Frau am Rand des Nervenzusammenbruchs, der Sage vom bleichen Holländer zwanghaft verfallen und am Ende mit ihm, der vielleicht gar nicht existiert, ins Meer gehend. Die Stimme ist dunkel getönt und ist im kleinen Haus ungeheurer Dramatik und Intensität fähig. Die etwas tiefere Stimmung des Orchesters lässt außerdem kaum Höhenprobleme zu. In der Ballade mit dem formidablen Schönberg-Chor entstehen wahrhaft magische Momente. Außer aller Norm auch Bernard Richter, der in dieser Fassung Georg heißende Erik: der Idealfall eines jungdramatischen Tenors, der noch Tamino und schon Lohengrin ist.

Samuel Young ist ein durchschlagskräftiger, exzellenter Holländer. Py zeichnet ihn verdienstvollerweise nicht als kümmerndes Gespenst, sondern als gestandenen Mann, der neben den anderen Unzukömmlichkeiten auch lang keine Frau mehr gesehen hat. Das zeigt sich, wenn ihm Daland die durch eine nackte Statistin substituierte Tochter verschachert. Der in dieser Fassung Donald heißende Daland wird von Lars Woldt mit der gewohnten Stimmpracht ausgestattet. Ann-Beth Solvang ist eine attraktiver, erstklassig singende Mary, Manuel Günther ein etwas krawattiger Steuermann.

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