Isabel Allende im Interview

"Ich habe einen Fuß in Kalifornien und einen in Chile"

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Talk - Isabel Allende im Interview

Und darum geht es: Eine Gruppe Jugendlicher aus aller Welt (darunter die unscheinbare Protagonistin Amanda, Tochter des Chefs des hiesigen Polizeidezernats, ein magersüchtiges Mädchen und ein Bub im Rollstuhl) versammelt sich jede Woche um ein Internet-Spiel namens „Ripper“ (nach Jack the Ripper) und versucht den berühmtesten Mörder im London des 18. Jahrhunderts online das Handwerk zu legen. Alsbald wird das virtuelle Rollenspiel in die grausige Wirklichkeit verlegt. Ein Serienmörder geht in San Francisco um und hat es auch auf ein Mitglied von Amandas Familie abgesehen. Die Jugendlichen beginnen auf eigene Faust und mit Hilfe des Netzes zu recherchieren.

Klug, spannend, humorvoll und am Puls der Zeit erzählt „Amandas Suche“ nicht nur die nach einem Verbrecher, sondern auch die nach Schuld, Vergebung und Liebe in einer verwüsteten Welt. Einer der Protagonisten ist ein ehemaliger Navy Seal, amerikanischer Soldat einer Spezialeinheit, der im Irak-Krieg im Einsatz war und nun mit den Folgen leben muss.

Die Nichte des chilenischen Präsidenten Salvador Allende arbeitete als (Fernseh-)Journalistin, ehe sie nach Pinochets gewaltsamer Machtübernahme ins Exil nach Venezuela musste. Dort verfasste sie ihren autobiographisch gefärbten Debütroman „Das Geisterhaus“, der mit Meryl Streep, Jeremy Irons, Glenn Close und Antonio Banderas verfilmt wurde. Keines ihrer nachfolgenden Bücher, das nicht die Bestsellerlisten stürmte. Ihre Auflagenzahl hält heute bei mehr als 57 Millionen Verkauften.
Ihr 1994 erschienener Roman „Paula“ über ihre an den Folgen einer Stoffwechselerkrankung verstorbenen Tochter brachte ihr großes Lob und die Bewunderung des Feuilletons. Die im Gedenken an ihre Tochter gegründete Stiftung widmet sich unterprivilegierten Frauen und Kindern (www.isabelallende.org). Allende lebt heute mit ihrem zweiten Mann in Kalifornien.

NEWS: Wie kam es dazu, dass Sie einen Thriller schrieben?
Allende: Es war nicht meine Idee. 2011 sagte ich meiner Agentin Carmen Balcells, dass ich müde bin und in den Ruhestand treten wollte. Sie geriet in Panik. Sie sagte mir, ich solle einen Thriller mit meinem Mann Willie schreiben, der ein Krimi-Autor ist (er hat fünf auf Englisch, Spanisch und Portugiesisch und auch einen auf Deutsch veröffentlicht). Wir fingen an, ein Buch zu planen, aber am 7. Jänner 2012 hatten wir nichts in der Hand. Ich schreibe auf Spanisch, er auf Englisch. Seine Aufmerksamkeitsspanne reicht für elf Minuten, ich schreibe elf Stunden am Stück. Er schreibt aus dem Gedächtnis, ich recherchiere. Der Plan würde niemals aufgehen. Also ging ich am 8. Jänner, dem Tag, an dem ich alle meine Bücher beginne, in mein Studio und entschloss mich, meinen ersten Kriminalroman zu schreiben – allein, während er in sein Büro ging, um seinen sechsten Thriller zu beginnen.

NEWS: Amanda, die Protagonistin, liest gern skandinavische Krimis. Mögen Sie das Genre?
Allende: Ehe mein Mann begann, welche zu schreiben, gefielen mir Krimis nicht besonders. Jetzt reden wir nur noch über Verbrechen: Wie man Leute auf originelle Weise umbringt und nicht erwischt wird. Ich habe einige der skandinavischen Autoren gelesen, aber ich wusste, dass ich nicht im selben Stil würde schreiben können. Ich wollte einen richtigen Kriminalroman schreiben, aber mit Ironie, Humor und einem kleinen Augenzwinkern.

NEWS: Gab Ihr Mann Ihnen Tipps? Wie recherchierten Sie für Ihren Roman?
Allende: Willie half mir Spannung zu erzeugen und falsche Hinweise zu streuen (auf Englisch nennt man das „Rote Heringe“). Wir besuchten zusammen eine Konferenz von Krimiautoren und er stellte mich den Leuten vor, die mir am meisten helfen konnten: einem Detektiv, einem Polizisten, einem Gerichtsmediziner, einem Waffenexperten usw.

NEWS: Ihr Porträt eines Navy Seal-Soldaten aus dem Irak-Krieg ist eines der beeindruckendsten des Romans. Neben all dem Schrecklichen, das er getan hat, ist er menschlich und verletzlich. Seine Verbrechen und seine Schuld verfolgen ihn und er hat Schwierigkeiten, sich danach ein normales Leben aufzubauen.
Allende: Ich weiß nichts übers Militär. Also brauchte ich ein Vorbild für diesen Charakter. Ich fand einen Navy Seal, der gewillt war, mit mir zu sprechen – sie sind sehr verschwiegen – und ich ging nach Washington, wo er lebt. Wir verbrachten drei Tage miteinander. Er war sehr großzügig, er zeigte mir Bilder, Videos, erzählte mir sein Leben, gab mir alle Informationen, die ich brauchte. Ich studierte seine Persönlichkeit, seine Körpersprache, die Art, wie sein Verstand funktioniert, seine Ansichten. Für Ryan Millers Charakter musste ich nichts erfinden, dieser Navy Seal gab mir alles, was ich brauchte.

NEWS: Gab es auch ein Vorbild für Ihre Protagonistin Amanda? Vielleicht eins Ihrer Enkelkinder?
Allende: Sie haben Recht: Meine Enkeltochter Andrea inspirierte mich dazu. Sie ist jetzt eine junge Frau, aber zu der Zeit, als ich das Buch schrieb, war sie noch adoleszent und emotionell sehr jung. Wie Amanda war sie schüchtern, introvertiert, kreativ, klug, einsam. Andrea zeigte mir das Rollenspiel „Jack the Ripper“, das sie online mit Freunden spielte.

NEWS: Wie sehen Sie das Internet, dessen Vorteile und Nachteile? Viele Ihrer Kollegen fürchten die Gefahren, die davon ausgehen. Ihr Wort dazu?
Allende: Die neue Technologie wird bleiben, sie hat unser aller Leben durchdrungen. Wir gewöhnen uns besser daran und eignen uns ihr unglaubliches Potential an und genießen es. Meine Mutter ist 92. Sie sagt, als sie klein war, fürchteten sich manche Menschen vor dem Telefon und Flugzeugen!! Ich fürchte mich nicht vor der Technik. Es ist ein wunderbares Werkzeug, die Welt zu verbinden, uns zu informieren, uns lernen zu helfen. Jedes Kind weiß heute mehr als jeder kluge Kopf vor fünfzig Jahren. Die digitale Welt wird die Art und Weise, wie wir schreiben und lesen verändern. Aber ich bin sicher, dass Autoren, Leser, Geschichten und Literatur niemals verschwinden werden.

NEWS: Welches Buch beeinflusste Sie am meisten? Lesen Sie richtige Bücher oder benutzen Sie einen Kindle?
Allende: Viele Bücher haben mich beeinflusst. Ich kann sie nicht alle erwähnen, die Liste wäre zu lang. Ich lese gedruckte Bücher, mindestens ein paar pro Woche, wenn ich nicht gerade selbst schreibe. Aber ich verwende auch mein IPad für E-Bücher, wenn ich reise. Und ich höre immer Audiokassetten in meinem Auto.

NEWS: Sie haben Ihren Krimi Ihrem Mann gewidmet. Sie mussten ins Exil. Ihr Mann und Sie haben beide Ihre Kinder verloren. Was gab Ihnen die Kraft, diese Zeiten zu überstehen und als liebendes Paar zusammen zu bleiben? Kann Schreiben in Krisenzeiten eine Hilfe sein?
Allende: Schreiben kann auf einer persönlichen Ebene helfen, dein eigenes Leben zu verstehen und manchmal Tragödien zu bewältigen. Aber es kann dem Paar nicht helfen. Willie und ich arbeiten seit 26 Jahren an unserer Beziehung. Wir geben uns bewusst Mühe, zusammen zu sein, freundlich zu sein, innig miteinander zu sein. Wir waren Jahre in Therapie, das hat uns in so mancher Krise geholfen.

NEWS: Frauen spielten immer eine große Rolle in Ihrem Leben. Schreiben Sie und Ihre in Chile lebende Mutter einander immer noch täglich? Wie wichtig ist sie für Sie?
Allende: Meine Mutter ist die älteste und solideste Liebe meines Lebens. Mit ihren 92 Jahren ist sie immer noch sehr lebendig, klar und gesund. Wir schreiben uns jeden Tag, manchmal zweimal am Tag.

NEWS: Ist Chiles Präsidentin Michelle Bachelet ein Vorbild für andere Frauen, in die Politik zu gehen? Können Frauen die Welt zum Besseren hin verändern?
Allende: Michelle Bachelet ist eine außergewöhnliche Frau. Heute gibt es mehrere Frauen in großen politischen Machtpositionen. Aber ihr Einfluss ist weltweit immer noch nicht signifikant. Wir leben immer noch in einem Patriarchat. Wir brauchen eine Zahl von entscheidender Bedeutung von Frauen an der Macht, um zu sehen, ob sie dazu in der Lage sein werden, die Welt zum Besseren hin zu verändern.

NEWS: Der neue Papst: Mögen, schätzen Sie ihn? Ist er ein Gewinn für die Katholische Kirche?
Allende: Der neue Papst hat viele Katholiken, die von der Kirche enttäuscht waren und sie verlassen haben, wieder zurückgebracht. Er macht positive Veränderungen und er scheint von seiner Kirchengemeinde gemocht und von jedem in dieser Welt respektiert zu werden. Ich hoffe, er wird sein Augenmerk auf die Stellung der Frau in der Katholischen Kirche richten.

NEWS: Sie leben seit langem in den USA. Fühlen Sie sich noch als Chilenin? Ist Amerika nach Jahren im Exil nun Ihr Zuhause?
Allende: Ich fühle mich in den USA wohl. Ich lebe im schönsten Teil Kaliforniens, in einem wunderschönen Zuhause, mit großer Privatheit, Ruhe und Abgeschiedenheit. Ich könnte kein besseres Leben haben. Ich habe einen Fuß in Kalifornien und einen in Chile. Ich schreibe, denke und träume auf Spanisch. Aber ich lebe und arbeite auf Englisch. Ich bin auf jede Art und Weise bi-kulturell, außer meinem Aussehen nach (Ich sehe sehr, sehr Chilenisch aus!). Ich bin täglich durch die Briefe meiner Mutter mit Chile verbunden und ich besuche sie und meinen Stiefvater, der jetzt 98 ist, oft.
Ich fühle mich nicht mehr so, als ob ich im Exil leben würde. Ich bin Immigrantin, das ist eine ganz andere Situation.

NEWS: Wir leben in einer Gesellschaft, in der Jungsein alles ist. Aber welche sind die Vorteile des Älterwerdens?
Allende: Ich bin 72 und ich mag nicht, was das Alter mit meinem Körper anstellt. Auch mag ich es nicht, dass ich in einer Welt, in der sich alle Aufmerksamkeit auf die Jungen richtet, unsichtbar geworden bin. Das ist Ironie, denn es gibt heutzutage mehr ältere Menschen als je zuvor. Unsere Zahl wird immer höher und wir leben viel länger. Wie auch immer – meine Seele, mein Herz und mein Verstand sind besser denn je. Ich fühle mich frei, ich kann ich selbst sein, ich muss nicht mehr jedem gefallen, nur den Leuten, die mir am Herzen liegen. Mit dem Alter bin ich selbstbewusster geworden. Ich fühle, dass ich eine bessere Autorin und ein besserer Mensch bin. Ich habe weniger Bekanntschaften und bessere Freunde. Ich vermeide Sachen, die ich nie mochte und die ich früher nicht ablehnen konnte wie z. B. das gesellschaftliche Leben, Arbeitsreisen, öffentliche Veranstaltungen, Zeit mit Small-Talk zu verschwenden und mit uninteressanten Menschen usw. Ich fühle mich meinem Mann Willie, meinen Sohn, meiner Schwiegertochter und meiner Mutter näher. Ich schätze jeden Moment meines Tages. Zeit ist für mich kostbar.

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