Wollen wir nach Toronto oder nach San Sebastian?

Die beschämende Kampagne gegen Ulrich Seidl lehrt, dass wir uns entscheiden müssen. In Salzburg und an der Staatsoper wurde die Entscheidung getroffen. Für die Filmbranche steht sie noch aus. Für die Politik auch

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Ein Wochenende lang Briefe zu beantworten, ist ein selbst eingewirtschaftetes Privileg, wenn man sich – wie ich – nicht mit Wirtshausraufern in den Sozialen Medien gemein macht. Ich meide (wirklich) jede dieser Plattformen, bin in keine Foren eingeschrieben und versende keine Ge- oder Missfallenskundgebungen in Gestalt gereckter Daumen oder grimassierender Mondgesichter. Aber wenn mir jemand die Aufmerksamkeit erweist, mir zu schreiben, antworte ich, es sei denn auf explizites Gepöbel.

An diesem Wochenende habe ich mit Vergnügen geackert. Die Zuwendung meiner Leser konzentrierte sich auf die vorwöchigen „Spitzentöne“, die den Umgang mit dem bedeutenden Filmregisseur Ulrich Seidl thematisierten. Drei Jahre nach dem Dreh und eine Woche vor der Premiere des Films „Sparta“ erschien da der „Spiegel“ mit diffusen anonymen Beschuldigungen, denenzufolge sich minderjährige rumänische Laiendarsteller auf dem Set unwohl gefühlt und ihre Eltern nichts über das Sujet – nämlich Pädophilie – gewusst hätten. Dass die Kinder in sexuell konnotierten Passagen eingesetzt worden wären, behaupteten nicht einmal die Beschuldiger. Aber die österreichische Kunst-Staatssekretärin erklärte sich vorsorglich fassungslos und drohte die Rückforderung von Fördermitteln an.

Was ist seither geschehen? Nach der kleinmütigen Absage aus Toronto wurde der Film bei den Festspielen in San Sebastian, Spanien, triumphal uraufgeführt und allseits zum bedeutenden Kunstwerk erklärt. Ein grauenvolles, aber ums Leben erörterungsbedürftiges Thema sei hier auf der Höhe der Kunst und ihrer Verantwortung behandelt worden.

Und in der Tat stehen wir, die wir uns Kulturmenschen nennen, vor einer Grundsatzentscheidung: Fühlen wir uns für die Kunst oder deren moralisierende, existenzzerstörende Denunziation zuständig?

Michael Sturminger, Regisseur des Salzburger „Jedermann“, schreibt mir: „Die unfassbar verlogene Vorverurteilung macht mich ratlos und zeigt, wie fragil und gefährdet die Freiheit der Kunst heute auch hierzulande ist. Es ist mir ein Anliegen, Ihnen und Andrea Schurian in der ,Presse’ meinen Respekt dafür auszusprechen, dass Sie, wenn’s darauf ankommt, Charakter und Rückgrat beweisen!“

Oder der schon ins Legendenformat gereifte Franz Novotny („Exit“): „Ein Journalist bläst ein substanzloses Substrat anonymer Verdächtigungen und Mutmaßungen zu vermeintlichen Tatsachen auf. Als Beweis für ‚Fakten‘ soll gelten, dass der ,Spiegel’ sechs Monate recherchiert hätte. ,Recherchen’, die keine belastbaren Fakten bringen, sondern bloß Gerüchte, Verdächtigungen, Rufmord und Shitstorm. So beginnt die Dressur der Filmschaffenden. Effekt: heikle Themen auslassen, sich servil erkundigen, was das ,Standard’ Forum gern mag, und die unverfänglichen Stoffe den sich beugenden Durchschnittsbegabungen überlassen. Heraus kommt geglättete Belanglosigkeit. Empörung ist gegen Fama und Niedertracht angebracht, die der Zensur das Händchen halten.“ Oder das schlichte „Danke!“ der großen, alten Dame Inge Maux. Oder der Brief der Wiener Universitätsprofessorin Sophie Geretsegger: „Mir aus dem Herzen, aber auch der Vernunft geschrieben.“

Ja, die Entscheidung steht an: Toronto oder San Sebastian, wohin wollen wir? Sie wird uns nicht abgenommen, und es gibt auch keine Ausflüchte. Markus Hinterhäuser in Salzburg hat sie getroffen, mit krisenresistenten 96 Prozent Gesamtauslastung als einziger Konsequenz: Currentzis und MusicAeterna sind bei ihm aufgetreten, hetzende Internet-Kasper, die das verhindern wollten, haben auf Untersberger Marmor gebissen. In Wien hat Bogdan Roscic die Entscheidung getroffen: Kaum war Anna Netrebkos großherziges Einspringen inmitten einer Absagekalamität bekannt, brach der Bestellserver der Oper zusammen. Nach der zweiten „Bohème“ wurde 20 Minuten applaudiert, und die Staatsoper war infolge auch anderweitig attraktiver Programmierung zwei Wochen lang ausverkauft.

Die Entscheidung, die wir in der Jury des Österreichischen Musiktheaterpreises getroffen haben, hatte übrigens nichts mit Ideologie zu tun. Dass Anna Netrebko beim Festakt in Grafenegg als überragende Sängerin des Jahres ausgezeichnet wurde, ist vielmehr Resultat einer wesentlich simpleren Überlegung: Anna Netrebko war die überragende Sängerin des Jahres. Darüber hinausgehende Vermutungen können gern bei den Schreikaspern abgegeben werden. Aber bitte nicht in Österreich, hier wurden diese Figuren umfassend, auch seitens fast aller Medien und der mit Eingaben belästigten Politik, abgemeldet. Nun wäre es Zeit, solche Verhältnisse auch beim Film durchzusetzen.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte:
sichrovsky.heinz@news.at