Kultur kommt, wenn
niemand mehr zuhört

Was Alexander Van der Bellen zur Eröffnung der Bregenzer Festspiele nicht alles zu bedenken gab! Kultur war kein Thema. Vielleicht ist sie es dafür bei der Wahl zum ORF-General?

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Bregenz lasse ich heuer unbesucht verstreichen: Ich bin in Salzburg gut ausgelastet und werde mir Hermann Nitschs Bayreuther Visualisierung der "Walküre" ansehen (zumal sie sich aus der Kenntnis des Werks und nicht aus der Selbstüberschätzung eines ignoranten Regisseurs legitimiert). Außerdem hadere ich noch zart mit den Bregenzer Festspielen, seit dort im Vorjahr ein mir unbekannter Präsident aus der Internet-Branche durch die Zeitung bekanntgab, für 1.000 zugelassene Besucher sperre er die Seebühne gar nicht erst auf. Obwohl er dort ganze Elefantenfriedhöfe Abstand garantieren hätte können, nicht zu reden von den meteorologischen Verhältnissen, die nebst den Schallwellen auch die Aerosole eher nach St. Gallen denn in Richtung Tribüne transportieren.

Heuer spielt man also, und zur Eröffnung war, an der Spitze einer kompakten Abordnung der Bundesregierung, auch der Bundespräsident erschienen. Und was für eine erhellende Eröffnungsrede ihm nicht entwichen ist! "Van der Bellen warnt vor dem Klimawandel", suchte sich die Bobo-Presse ihre Herzensmaterie heraus. "Van der Bellen kritisiert Umgang mit der Verfassung", horchte man anderwärts auf. Ganz zuletzt entschuldigte sich der Präsident verlegen für den Bagatellanlass, der ihn an den See geführt hatte: "Eigentlich" sei er ja da, um die Festspiele zu eröffnen. Was Van der Bellen unerwähnt gelassen hatte, war die katastrophale Situation der Kunstschaffenden und die skandalöse Theatersperre über Monate gegen alle Erkenntnisse der Präventivmedizin, während es das Virus im Baumarkt und in der Liftgondel krachen ließ.

Den Kulturaspekt, freilich ohne Anfechtung zum selbstkritischen Unterton, erörterte dann die Kunststaatssekretärin, als niemand mehr zuhörte. Gar nicht anwesend war der Kunstvizekanzler, der eventuell noch an den Spätfolgen des Kulturschocks beim Opernbesuch zum "Lockdown"-Ende laboriert. Erschienen war hingegen der Bundeskanzler, und ich fordere seine sofortige Begnadigung noch vor Abschluss der staatsanwaltlichen Ermittlungen: Bei einer Opernrarität von Boito muss er als Außenstehender alle seine Sünden abgebüßt haben. Gerade der Bundespräsident müsste das verstehen.

»Gesucht: Kulturmenschen, die der ihnen anvertrauten Materie durch Leidenschaft und Sachkenntnis verbunden sind«

Was ich damit wieder einmal transportieren will, ist die Forderung nach einer leidenschaftlichen, ihren Gegenstand als Lebenspriorität vertretenden Kulturpolitik. Denn schon wieder ist es die Kunst, die dem Versagen der Politik durch die Tat begegnet. Nachdem im Gefolge der dilettantischen Verordnungslage ein Infizierter legal der "Jedermann"-Premiere beigewohnt hatte, verfügten die Festspiele, aus deren erfolgreichem Präventivkonzept die Politik ein Jahr lang keine Schlüsse gezogen hatte, sofortige FFP2-Masken-Pflicht für alle ihre Veranstaltungen. Zeitgleich sah sich der Gesundheitsminister zur Halbzeit der Reisesaison außerstande, bei der Tourismusministerin eine ernsthafte Testpflicht für Kroatien-Rückkehrer durchzusetzen, ohne dass einer der beiden zurückgetreten wäre.

Womit ich wieder am Ausgangspunkt meiner Erörterungen bin. Kulturmenschen, die der ihnen anvertrauten Materie durch Leidenschaft und Sachkenntnis verbunden sind: Das wäre das Anforderungsprofil für anstehende Besetzungen in den hier zur Debatte stehenden Bereichen. Nun habe ich keine Ahnung, ob Lisa Totzauer und/oder Roland Weißmann diesem Katalog entsprechen. Ich wünsche es ihnen, dem ORF und mir von Herzen. Denn in einem dem öffentlich-rechtlichen Kulturauftrag verpflichteten Unternehmen kann es gar nicht genug Kulturmenschen geben.

Was ich fraglos weiß, ist das Folgende: Der Amtsinhaber Alexander Wrabetz ist ein Kulturmensch, dem ich öfter im Theater und in der Oper begegnet bin als jedem Kunstminister nach Rudolf Scholten. Der ORF hat in den Monaten des politischen Versagens mit den Salzburger Festspielen, der Staatsoper und den Philharmonikern Wegweisendes geleistet: Über den Sender ORF III, ein Derivat der Ära Wrabetz, wurde die Versorgung mit dem Grundnahrungsmittel Kunst aufrecht erhalten. Ich gebe das formlos zu bedenken, ohne mich in die Gebarung multicolorer Freundeskreise, die ausnahmslos nicht die meinen sind, einmengen zu wollen.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: sichrovsky.heinz@news.at