Der vermeidbare Tod des Oskar V.

Der Krankenhaus-Skandal im Landeskrankenhaus Graz

von Spritze © Bild: istockphoto.com/Csaba Deli

Es ist Dienstag, der 3. Dezember 2013. Um 8.30 Uhr betritt Oskar V. das Landeskrankenhaus Graz. Der 83-Jährige kommt zu Fuß. An diesem Tag soll er eine Chemotherapie erhalten und dann gleich wieder nach Hause gehen.

Was zu diesem Zeitpunkt niemand ahnt: Oskar V. wird das Spital nicht mehr lebend verlassen. Ihm wird ein Medikament in den Rückenmarkskanal injiziert, das nur in die Venen gespritzt werden darf. Doch was unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls von der Krankenhausleitung noch als "beklagenswerter Individualfehler" einer Ärztin abgetan wurde, hat sich mittlerweile zu einem der wohl haarsträubendsten Spitalsskandale Österreichs entwickelt.

Die Staatsanwaltschaft Graz, die seit genau zwei Jahren in der Causa aktiv ist, hat nicht nur gegen die Ärztin Ermittlungen eingeleitet, die die Spritze verabreicht hat, sondern darüber hinaus gegen zwei ehemalige Abteilungschefs des Landeskrankenhauses. Und damit nicht genug: Auch der steirische Spitalsbetreiber Kages steht unter dem Verdacht der fahrlässigen Tötung "unter besonders gefährlichen Verhältnissen". Dies geht aus umfangreichem Aktenmaterial hervor, das News vorliegt.

Zu Scherzen aufgelegt

Von all dem ist am 3. Dezember 2013 noch keine Rede: Oskar V. muss vor seiner Therapie einige Untersuchungen hinter sich bringen. Inzwischen ist es 10.30 Uhr. Herr V. sitzt am Gang. Er plaudert kurz mit einer Krankenschwester, die vorbeikommt, macht sogar einen kleinen Scherz. Trotz seiner Erkrankung kann Oskar V. guter Dinge sein. Er hat mehrere Chemotherapie-Termine hinter sich. Ein schwerer Leukämieschub, den der erfolgreiche Unternehmer einige Monate zuvor erlitten hat, scheint vorerst ausgestanden. Oskar V. darf sich auf einen schönen Lebensabend an der Seite seiner Frau freuen.

Bei der geplanten Chemotherapie sind drei Injektionen vorgesehen. Zwei müssen per Kreuzstich in den Rückenmarkskanal erfolgen, eine in die Venen. Die Behandlung findet an der Abteilung für Hämatologie erfolgen, eine in die Venen. Die Behandlung findet an der Abteilung für Hämatologie statt. Den Kreuzstich führt aber ein Neurologe durch. So ist das auch bei Oskar V. an jenem 3. Dezember 2013. Es ist 13 Uhr, als die Neurologin gemeinsam mit einem Pfleger eintrifft. Ein in Ausbildung befindlicher Turnusarzt der Hämatologie-Station begleitet sie ins Behandlungszimmer. Dort gehen sie einige Unterlagen durch. Was genau, ist Gegenstand des Ermittlungsverfahrens.

Fest steht, dass gegen 13.15 Uhr der Kreuzstich bei Oskar V. durchgeführt wird. Die Neurologin verabreicht alle drei Spritzen, die neben der Behandlungsliege hergerichtet sind, in den Rückenmarkskanal. Im Unterschied zu ihren Kollegen von der Hämatologie kennt sie die Medikamente teilweise nicht. Muss sie auch nicht, wie später ein Gutachten zeigt. Dennoch hat das fatale Folgen. Eine der Spritzen enthielt Vindesin. Dabei handelt es sich um ein sogenanntes Vinca-Alkaloid, das giftig auf Nervenzellen wirkt. Da das Rückenmark und das damit verbundene Gehirn aus Nervenzellen bestehen, kann eine direkte Einwirkung dort verheerende Folgen haben. Hämatologen ist das bekannt. Doch eigentlich müssten sie noch viel mehr wissen.

"Verwechslungsgefahr bekannt"

Ein Dreivierteljahr nach dem tragischen Vorfall hat die Staatsanwaltschaft Graz zwei Gutachten in Auftrag gegeben. Damals konzentrierten sich die Ermittlungen noch ausschließlich auf die Ärztin, die die Spritzen verabreicht hatte. Das sollte sich in der Folge sehr rasch ändern.

Der Gutachter Thomas Kühr, selbst Hämatologe und Krebsspezialist, schreibt nämlich, dass man sich "in onkologisch und pharmazeutisch tätigen Fachkreisen" der Gefahr einer Verwechslung von Vindesin mit anderen Substanzen, die "intrathekal" in den Rückenmarkskanal gespritzt werden, bewusst sei. Wer glaubt, es handle sich um einen völlig unvorhersehbaren, noch nie da gewesenen Unfall, wird eines Besseren belehrt: Der erste dokumentierte Fall eines irrtümlich ins Rückenmark gespritzten Vinca-Alkaloids stammt aus dem Jahr 1968, schreibt der Experte. "Bis 2014 wurden Informationen über 33 Fälle berichtet, bei denen Vincristin oder Vindesin irrtümlich intrathekal verabreicht wurden."

Andernorts gibt es dafür längst eine Lösung: Man verabreicht Vinca-Alkaloide einfach nicht mehr in kleinen Spritzen. Stattdessen verwendet man eine Kurzinfusion. Irrtum ausgeschlossen. Laut Kühr hat erstmals im Jahr 2003 eine australische Arbeitsgruppe eine entsprechende Stellungnahme publiziert. Danach sprachen Gesundheitsbehörden von Hongkong über Frankreich und Großbritannien bis in die USA eine solche Empfehlung aus. Und 2007 wurde diese dann sogar von der Weltgesundheitsorganisation WHO übernommen und veröffentlicht. Gutachter Kühr kommt zu dem Schluss, dass der fatale Irrtum auf diese Weise vermeidbar gewesen wäre. Doch in Graz glaubte man offenbar, es besser zu wissen als die WHO, und forderte bewusst Spritzen für die Behandlung auf der Station an. Jetzt ist ein Patient tot.

"Kein Risikomanagement"

Am 3. Dezember 2013 hat Oskar V. gerade die Injektionen erhalten. Er muss sich nun für zwei Stunden flach hinlegen, die Schwester bringt ihm einen Kaffee. Noch ahnt niemand etwas. Ungefähr eine Stunde später wird es Zeit für die intravenöse Injektion. Doch die Spritze ist nicht zu finden. Sie wird mit den anderen leeren Spritzen zusammen im Müll entdeckt. In diesem Moment dämmert den Ärzten, was passiert ist: Auch diese Spritze wurde ins Rückenmark verabreicht. Oskar V. wird darüber aufgeklärt. Er telefoniert mit seiner Frau und wird auf die Intensivstation verlegt.

Für den neurologischen Sachverständigen Hans-Peter Haring steht fest, dass die Ärztin sich besser über die Medikamente hätte informieren müssen. Allerdings sei diese Sorgfaltswidrigkeit "durch eklatante Mängel im Prozessqualitätsmanagement an der gegenständlichen Abteilung massiv begünstigt" worden, schreibt Haring. Wie auch Gutachter Kühr ortet Haring einen organisatorischen Mangel.

Einer, der das wissen müsste, ist der damalige Chef der Hämatologie. Dieser war wenige Wochen interimistisch im Amt und verweist gegenüber der Staatsanwaltschaft ebenfalls auf die Sorgfaltspflicht der Ärztin. Was er sonst noch mitteilt, klingt allerdings absolut alarmierend. "Bei der Übernahme der vorläufigen Leitungsfunktion durch den Beschuldigten gab es in der hämatologischen Abteilung kein Risikomanagement", schreibt sein Anwalt den Ermittlern. "Dazu kam, dass zum Zeitpunkt der Übernahme der interimistischen Leitung durch den Beschuldigten auf der Abteilung ein absoluter Ärztemangel bestand."

Die Staatsanwaltschaft hat im November 2014 Ermittlungen gegen die Kages nach dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz eingeleitet. Die Frage ist, ob die Kontrolle des Risikomanagements unterlassen wurde. Zwei frühere Abteilungsleiter am Landeskrankenhaus sind verdächtig, nicht dafür gesorgt zu haben, dass Vinca-Alkaloide generell als Kurzinfusion verabreicht werden. Alle Betroffenen haben sämtliche Vorwürfe immer zurückgewiesen.

Die Kages erklärt in einer schriftlichen Stellungnahme, dass es sich bei diesem Behandlungsvorgang um eine "weltweit angewandte Methode" handle. Die Medikation sei ordnungsgemäß gekennzeichnet gewesen. Ärzte hätten sich im Fall von Unsicherheiten über ein internes elektronisches Medikamenteninformationssystem kundig machen können. Eine Überlastung der Ärztin habe nicht vorgelegen. Man habe auch damals "eine Vorreiterrolle bei der Einführung von Risiko-und Qualitätsmanagementsystemen" innegehabt, schreibt die Kages. Dies auch, weil man wisse, dass Fehler bei Millionen Behandlungsvorgängen an jedem einzelnen Tag möglich seien.

Nun sind die Ermittlungen im Wesentlichen abgeschlossen. Der Vorhabensbericht der Staatsanwaltschaft Graz ist fertig und liegt nun bei der Oberstaatsanwaltschaft zur Prüfung auf. Sprecher Erich Leitner sagt, dass der mehrbändige Akt Mitte Jänner gesichtet und beurteilt sein soll. Danach werde bekannt gegeben, ob Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird.

Weihnachten erlebt Oskar V. im Jahr 2013 übrigens nicht mehr. Am 23. Dezember tritt eine sogenannte Ethikkommission zusammen, die feststellt, dass keinerlei heilende Maßnahmen mehr möglich sind. Seit zweieinhalb Wochen hat sich der Zustand des Patienten massiv verschlechtert. Nun werden die lebenserhaltenden Maschinen abgeschaltet. Um 16.09 Uhr tritt der Tod ein.

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