"Wir haben die kluge
Dramatisierung verlernt"

Kicker Schüssel empfing News in den Arkaden der Hofreitschule

von Wolfgang Schüssel © Bild: Sebastian Reich

Herr Schüssel, wo werden Sie die Fußball-EM verfolgen? Im VIP-Klub von Paris oder zu Hause vor dem Fernseher?
Vor dem Fernseher. Ich hätte eine Einladung gehabt, aber in Frankreich werden sich die VIPs drängen, das überlasse ich anderen. Ich schaue mir die Spiele mit meiner Fußballmannschaft an. Da sitzen wir wie zuletzt beim Champions-League-Finale alle bei einem Bier beisammen, kommentieren, diskutieren, streiten und freuen uns - oder leiden mit.

Sie sind der Öffentlichkeit nicht nur als ehemaliger Politiker, sondern auch als kickender Kanzler in Erinnerung. Wie kamen Sie eigentlich zum Fußball?
Ich spiele seit über 65 Jahren Fußball und habe die Höhen und Tiefen der österreichischen und internationalen Fußballszene mitverfolgt. In meiner Kindheit war ich Wacker-Wien-Fan, meine Tante hat im 12. Bezirk in der Zenogasse gewohnt, und eine Freundin von ihr hatte genau oberhalb des Wacker-Platzes eine Wohnung, exakt auf Höhe der Mittellinie. Da konnten wir Buben auf dem Fensterbrett lümmeln und uns die Meisterschaftsspiele anschauen. Super.

Später wurden Sie Fan von Austria Wien, wo sie sogar im Vorstand saßen.
Ja, aber ich habe mich in die operative sportliche Arbeit nie eingemischt. Politiker sollten sich da heraushalten und auch keine zu prominente Rolle übernehmen. Bei der Wiener Austria ist jetzt ein aktiver Politiker Präsident (GPA-Chef Wolfgang Katzian, Anm.). Das ist nicht gut, es könnte als Vereinnahmung interpretiert werden. Ich habe mich bei Austria Wien völlig zurückgezogen, als Frank Stronach den Klub übernommen hat. Er hat bekanntlich viel Geld investiert.

War das Geld gut angelegt?
Man kann Stronach in vielen Bereichen kritisch gegenüberstehen. Aber: Er hat den Anstoß für die Errichtung der Fußballakademien gegeben. Hollabrunn war ein Riesenhit, David Alaba der erste Absolvent. Heute hat jeder Spitzenverein eine Akademie. Man sollte diese Suppe nicht mit zu viel kritischem Pfeffer würzen.

Der neue Kanzler Christian Kern sitzt ebenfalls noch im Aufsichtsrat ihres Lieblingsvereins Austria.
In einem Beirat ohne besondere Rolle, warum nicht? Mir geht es um die Einmischung in die operative Arbeit und um eine sichtbare Präsidentenrolle. Politiker sollten im Sport, in der Kultur eine gewisse Distanz halten, nicht zu viel intervenieren, nicht zu viel Politik hineinbringen. Und umgekehrt. Ich halte es auch nicht für sehr klug, dass - wie kürzlich geschehen - Künstler oder Sportler politische Kommentare abgeben oder sich dazu verleiten lassen.

»Jedes Mal, wenn ich Erdoğan später traf, umarmte er mich und sagte: "Football, Football."«

Als Bundeskanzler haben Sie 2006 ein Benefiz-Fußballturnier organisiert und als Kapitän unter anderem den türkischen Präsidenten Erdog an und den kroatischen Ex-Premier Sanader einberufen. Würden Sie heute anders aufstellen?
Im Zuge des EU-Lateinamerika-Gipfels hatten wir damals 60 Staats-und Regierungschefs in Wien, eine Riesensache. Wir wollten nicht nur diskutieren, sondern auch gemeinsam aufs Feld laufen. Also haben der damalige Kommissionschef Barroso und ich jeweils ein Team aufgestellt. Ich habe den türkischen Präsidenten bewusst ausgesucht, weil Österreich gegenüber einem EU-Vollbeitritt der Türkei immer sehr kritisch eingestellt war. Erdoğan hatte alleine drei oder vier Kamerateams mitgebracht, das Match wurde live im türkischen Fernsehen übertragen. Das Spiel endete, nach einer Verlängerung, die der Schiedsrichter angeordnet hat, sehr diplomatisch, 8 :8. Der Sport sollte nicht "missbraucht" werden. Es ging um das verbindende Element und den Versuch, politische Kontakte auf einer sportlichen Ebene zu vertiefen. Jedes Mal, wenn ich Erdoğan später traf, umarmte er mich und sagte: "Football, Football."

Welche Position spielen Sie im Fußball am liebsten?
Wo gerade Not am Mann ist. Ich war früher eine Laufmaschine, wir mussten mit dem Fußballverein an einem Wochenende oft drei Fußballspiele spielen. Ich hatte eine gewisse Kondition und konnte sie - Gott sei Dank - sehr abgeschwächt bis heute halten. Früher gab es diese starren Schemata, im modernen Fußball heute muss jeder alles spielen können. Es gibt Laufwege, die früher undenkbar waren. Fragen Sie einen Schneckerl Prohaska, wie viel er durchschnittlich pro Match gelaufen ist. Von den athletischen Anforderungen her kann man das nicht vergleichen. Das ist fast eine andere Sportart.

Hat sich die Politik ähnlich rasant weiterentwickelt?
Es braucht einerseits Generalisten, also Berufspolitiker, die wirklich einen großen Überblick haben müssen, ohne im Detail Experte zu sein. Aber sie müssen ein Spiel lesen können. Und es braucht Spezialisten, die sind ebenso wichtig. Ein guter Fachminister sollte in seinem Ressort so firm sein, dass ihm ein Sektionschef nicht irgendetwas erzählen kann. Er muss beurteilen können, was wirklich wichtig ist. Das ist am Spielfeld ähnlich. Wie im Fußball sind auch in der Politik die Herausforderungen heute ganz andere: Man muss heute sehr viel mehr können im internationalen Auftreten, in der Vernetzung von verschiedenen Dingen, in der Rhetorik, im Medienkontakt. Als ich als junger Mitarbeiter im Parlamentsklub eingestiegen bin, wurden die Parlamentssendungen noch so gemacht, dass die jeweiligen Klubmitarbeiter mit dem ORF-Redakteur die Sendungen geschnitten und gesagt haben: "Da nehmen wir jetzt aus der Wortmeldung des Abgeordneten X diese zwei Sätze heraus." Das ist heute Gott sei Dank undenkbar. Früher hat ein Politiker etwas gesagt -und das war dann so. Heute gibt es ein ganz anderes Selbstverständnis der Öffentlichkeit, der Medien - das mag einerseits teilweise schwierig sein, andererseits ist es notwendig.

Wolfgang Schüssel
© Sebastian Reich
»Im Fußball gibt es einen Schiedsrichter, der notfalls pfeift, wenn gefoult wird. In der Politik gibt es keinen Schiedsrichter.«

Gibt es Spielzüge, Taktiken, Strategien, die sowohl im Fußball als auch in der Politik funktionieren?
Da bin ich skeptisch. Im modernen Fußball muss man heute sehr viel automatisieren, Spielzüge, Laufwege, damit das dann wirklich auf die Zehntelsekunde genau passt und jeder eigentlich blind weiß, wo er hinrennen muss. Das ist in der Politik anders, weil es ja zum Teil auch externe Faktoren sind, die man nicht vorausahnen oder planen kann. In der Politik kommen viel mehr schwarze Schwäne vorbei als bei einem Fußballmatch. Wenn plötzlich die Flüchtlingsströme innerhalb von wenigen Monaten auf das 20-Fache anschwellen und man alleine darauf keine Antwort finden kann, sondern nur gemeinsam mit den Nachbarn, mit den europäischen Institutionen, dann ist das eine ganz andere Herausforderung. In einem Fußballmatch hat man das nie. Außerdem gibt es im Fußball einen Schiedsrichter, der notfalls pfeift, wenn gefoult wird. In der Politik gibt es keinen Schiedsrichter, auch wenn manche diese Rolle dem Bundespräsidenten zuordnen.

Sehen Sie Analogien zwischen einem Regierungschef und dem Kapitän einer Fußballmannschaft?
Motivationskraft ist sicher eine zentrale Voraussetzung: Leute mitreißen, begeistern und motivieren können, damit in einer schwierigen Situation alle Kräfte mobilisiert werden können. Das halte ich auch in der Politik für sehr wichtig, dass man stärker versucht, dieses energetische Potenzial zum Tragen zu bringen. Gerade Volksparteien sollten das wieder entdecken, es muss spürbar sein, dass ein Feuer da ist und dass von diesem Feuer ein Funke überspringen kann. Ein Wahlkampf darf kein Wahlschlaf sein. Immer nur die Tagesordnung abzuarbeiten, das ist zu wenig. Man muss in der Lage sein, Menschen zu begeistern, auch jene, die zunächst mit der Politik gar nichts am Hut haben.

Als Teamchef Marcel Koller vor fünf Jahren kam, hat er nach innen gewirkt und sich eine Mannschaft zusammengestellt. Sollte nicht auch ein Regierungschef möglichst nach innen wirken und das parteipolitische Hickhack außen vor lassen?
Partei heißt pars, Teil, da ist es wichtig, schon auch Kontur und Kante zu zeigen. In den Medien gibt es zumeist entweder einen Kuschelkurs oder eine Schlammschlacht, dazwischen offensichtlich nichts. Entweder man wälzt sich im Schlamm oder man umarmt sich liebestrunken. Also ehrlich gesagt: Dazwischen gibt es einige andere emotionale Möglichkeiten, die man nicht so wegwischen sollte. Alexis de Tocqueville hat schon vor 150 Jahren geschrieben, dass die Demokratie das Drama braucht. Ich finde: Wir haben diese kluge Dramatisierung etwas verlernt. Wir müssen den Menschen das Gefühl geben, dass es um etwas geht. Jüngstes Beispiel ist die Bundespräsidentenwahl, da hatten die Leute dieses Gefühl. Daher lehne ich auch diese Idee völlig ab, das Land sei gespalten und alles sei eine Katastrophe. Im Gegenteil! Die Leute waren interessiert, im zweiten Wahlgang sind 200.000 mehr zur Wahl gegangen als im ersten.

Hatten Sie nicht den Eindruck, dass es viele Leute erschöpft hat, das Gefühl zu haben, es gehe bei der Präsidentschaftswahl um links gegen rechts?
Es war eine Persönlichkeitswahl, kein Teammatch. Da sind die Linien quer durch Parteien oder durch Ortschaften gegangen. Es haben viele ehemalige Khol-Wähler Alexander Van der Bellen oder Norbert Hofer gewählt, ähnlich war es bei den Wählern von Irmgard Griss. Ich meine, man sollte sich von dieser Lagergeschichte trennen. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, bei Fußballmannschaften von Lagern zu reden. Das sind Fans, die einen fairen sportlichen Wettkampf erleben wollen und nachher auseinandergehen und sagen, sie haben ein gutes Match gesehen. Ich hoffe, dass man in der Politik auch öfter ein gutes Match sieht und ein gutes Ergebnis herauskommt.

In England werden für Durchschnittsfußballer mittlerweile Millionensummen bezahlt. Wie viel Geld ist ein Fußballer wert?
Das ist ein hysterischer Markt, der davon abhängt, dass über das Fernsehen gigantische Werbeeinnahmen eingespielt werden, weil die Premier League offensichtlich als Einzige wirklich weltweit gesehen wird. Trotzdem: Mein Lieblingsklub im Moment ist Leicester, der als Abstiegskandidat die Meisterschaft gewonnen hat, mit zehn Punkten Vorsprung. Das macht ja auch den Reiz von Fußball aus, dass man mit Geld eben nicht alles kaufen kann.

Die EM in Frankreich wird von der Angst vor Terroranschlägen überschattet. Wird der Terror den Sport verändern?
Er hat ihn leider bereits verändert, wird ihn aber nicht besiegen können, auch weil es entsprechende Sicherheitsvorkehrungen gibt. Auf ein Fußballmatch möchte ich mit der Familie hingehen können und nicht Angst haben müssen, auch nicht vor Fans, die pöbeln oder prügeln wollen. Ich war mit meiner Fußballmannschaft einmal in London, West Ham United gegen Tottenham. Dort gab es einen unglaublich hohen Aufwand mit berittener Polizei, Eingangsdrehangeln etc., man kam sich beinahe wie ein Schwerverbrecher vor.

Wie viel Kraft hat der Sport? Wie verbindend kann Fußball wirken?
Fußballmannschaften setzen sich heute aus den verschiedensten Ethnien zusammen. Das zeigt auch die Kraft einer erfolgreichen positiven Integration. Wenn Mannschaften gegeneinander spielen, dann ist das immer auch die Chance, mögliche tiefer liegende politische Konflikte zu überbrücken. Mein verstorbener Vater, Lutz Schüssel, war Sportredakteur und hat im Dezember 1945, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, einen Bericht über das Länderspiel Österreich gegen Frankreich geschrieben, der mich fast zu Tränen gerührt hat, als ich ihn in das Familienbuch geklebt habe: ein fast lyrischer Bericht, wie jene, die vor Kurzem noch gegeneinander gekämpft haben, sportlich miteinander ringen und wie die Österreicher die französische Mannschaft akklamiert haben. Ich finde das unerhört interessant, wie in einer wirklich dramatischen Situation die völkerverbindende Funktion des Sports zum Tragen kommt. Das erste Fußballmatch in Sarajevo, das war überzeugend. Oder die Tischtenniswettbewerbe zwischen Amerika und China -das sind ganz bewusste Signale, wie man einen politischen Konflikt durch einen sportlichen Wettkampf auflockern und überbrücken kann.

ZUR PERSON

Wolfgang Schüssel

Der ehemalige Politiker, Jahrgang 1945, startete als Sekretär des ÖVP-Parlamentsklubs. 1989 wurde er Wirtschaftsminister, 1995 Obmann der ÖVP, von 2000 bis 2007 führte er als Kanzler eine ÖVP-FPÖspäter ÖVP-BZÖ-Regierung. Fußball spielte Schüssel auch viele Jahre parteiübergreifend mit dem FC Nationalrat, Seite an Seite mit Heinz Fischer: "Auch er war ein Dauerläufer, ein echter Gewinn."

Kommentare


Wolfgang Schüssel hatte immer viel geredet aber kaum etwas gesagt und Trümmer hinterlassen.
Ein Politiker mit einem Konfektionsmascherl und Ia polierten Bally-oder Salamanderschuhen. Mich hat er immer an den legendären Pratermaxi erinnert. Dieser sitzt jetzt still und nachdenklich im Pratermuseum.
Es täte dem Schüssel und den Leidtragenden seiner Politik gut, dies auch zu tun.

Unternehmer haben damals ihren Arbeitern gedroht, ihre Arbeitsplätze auszulagern, wenn sie nicht für die EU sind. Es gab auch Unternehmer, die nach dem Beitritt über die Bürokratie gejammert haben. Und nicht zu vergessen, Grasser und Hypo Alpe Adria sind indirekte Folgen der Liaison Schüssel/Haider.
Politiker sollten nur soviel Prozent ihres Bezuges erhalten wie sie Stimmen erhalten haben.

1506au47 melden

Über die Dummheiten und Hassorgien seiner Gegner (Hasser) wird Wolfgang wohl milde lächeln

giuseppeverdi melden

Genau das ist das Problem mit dem "milde lächeln"! Denn wären diese Herren auch nur ein bisschen selbstkritisch, würde nach einigen Tagen nach dem Abdanken der sofortige Tod eintreten weil sie wegen des schlechten Gewissens nicht mehr schlafen könnten. Aber sie "lächeln halt nur milde" und kassieren unverdient hohe Pensionen.

Testor melden

In Erinnerung ist noch seine Einstiegslüge. "Wenn wir Zweite werden, dann gehen wir in Opposition". Die ÖVP wurde Dritte und er mit Hilfe der FPÖ Bundeskanzler.
!4 Tage vorher sagte Khol, die FPÖ stehe außerhalb des Verfassungsbogens. Plötzlich war diese innerhalb, ohne dass sie sich geändert hätte.

Testor melden

Khol, der Erfinder des dehnbaren Verfassungsbogens, hat kein Patent darauf angemeldet.

giuseppeverdi melden

Nun den Khol haben die Menschen für seine LÜGEN- Politik bei der BP-Wahl ohnehin abgestraft. Mit knapper Not hat er den Lugner noch überholt!

Wenn es in der Politik einen Schiedsrichter gäbe, hätte man Schüssel lebenslänglich sperren müssen.

Rigi999 melden

Dieser EU -Sklave macht noch immer den Mund auf!!! Österreich mit in das EU Desaster geführt und heute noch in Atomlobby dabei, ein Verbrechen an der Menschheit!!!

strizzi1949
strizzi1949 melden

Wieso EU-Sklave? Der hat doch nur das gemacht, was die Bevölkerung gewollt hat! Das Volk hat gewählt, in die EU zu kommen, schon vergessen? Und wo ist ein EU-Desaster? Sie sollten einmal die Balken vor den Augen abnehmen! Dann würden Sie sehen, welche Vorteile die EU uns bisher gebracht hat! Natürlich sind auch einige Nachteile dabei! Na und?

giuseppeverdi melden

Ach wirklich, hat er nur das gemacht was das Volk wollte? Und hat das Volk die nahezu freiwillige Verdoppelung des österreichischen Beitrages an die EU als Nettozahler auch gewollt? Das hat er nämlich ohne viel Fragen und ohne viel öffentlichen Aufwand gemacht. Augen auf!

giuseppeverdi melden

Sie sind ja ein Oberdemokrat. Wir sollen uns die Balken VON den Augen entfernen aber bei den Nachteilen sollen wir sagen "na und". Genau so wie Sie es hier beschreiben tun es die Politiker und genau deshalb haben wir rund 300 Milliarden Euro mSchulden. NA UND?!?!

Laleidama

Schiedsrichter oder nur Richter alleine ??? if you see what i mean...

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