Die Rettung britischer Piloten

Eine Gruppe junger, belgischer Frauen schmuggelte Soldaten der Alliierten und Flüchtlinge nach Spanien

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Am 5. Mai 1945 erreichte eine kleine Gruppe amerikanischer Soldaten das KZ Mauthausen. Die SS war bereits geflüchtet. Es gab kaum noch Lebensmittel, Häftlinge starben an Krankheiten und Unterernährung. Am 6. Mai übernahm die US-Armee das Lager.

Eine etwa 30-jährige Frau, blass und abgemagert, umarmte einen der Soldaten und reihte sich in die erste Gruppe, die das Lager verlassen konnte. Zwei Tage später meldete sie sich in Paris bei Donald Darling, dem Vertreter des britischen Geheimdienstes MI6, der während des Krieges für die Rettung britischer Piloten und Kriegsgefangener verantwortlich war. Er begann zu weinen, als Adrienne de Jongh vor ihm stand, immer noch in gestreifter Häftlingskleidung und stammelte vor Aufregung, er hätte nie gedacht, dass sie die Gefangenschaft überleben würde.

© imago/United Archives International Andrée de Jongh gründete die Widerstandsgruppe ‚Comète‘ und überlebte nach ihrer Verhaftung das KZ Mauthausen

Anfang Mai zeigte der belgische Sender VRT den Film ‚Comète – Frauen im Widerstand’ mit bisher unbekannten Interviews und Dokumenten über eine Widerstandsgruppe junger, belgischer Frauen, die Soldaten der Alliierten versteckten und nach Spanien brachten. Lange Zeit nahm die SS die scherzenden, perfekt gekleideten Frauen, die oft mit deutschen Soldaten flirteten, nicht ernst, und suchten nach Hintermännern der Widerstandsgruppe. Doch hinter den lachenden Gesichtern verbarg sich eine streng strukturierte Gruppe, die von Juli 1941 bis zur Befreiung Frankreichs etwa 800 Piloten und geflohene Kriegsgefangene rettete.

Brüssel

Andrée Eugénie Adrienne de Jongh wurde 1916 als Tochter eines Lehrers in Schaerbeek, Belgien, geboren und erlernte den Beruf einer Krankenschwester. Sie war 23 Jahre alt, als die Wehrmacht Belgien besetzte, und zog nach Brüssel. Dort meldete
sie sich beim Roten Kreuz, mietete Wohnungen von Unterstützern des Widerstandes, wo sie britische Soldaten versteckte, und entwickelte den Plan, sie außer Landes zu bringen. 1941 gründete de Jongh eine Frauen-Gruppe innerhalb des belgischen Widerstands. „Wir waren jung und naiv“, erzählte sie in einem Interview, „scherzten und lachten, sodass die Deutschen keine Gefahr in uns sahen.“

Ein britischer Pilot gab nach seiner Rettung zu Protokoll: „Eine junge Frau unter dem Codenamen ‚Briefträger‘ (der Code für de Jongh) benahm sich wie eine Studentin, die in den Bergen ihre Ferien verbringt, und brachte mich über die Berge nach Spanien.“

Airey Neave, der Geheimdienst-Chef in London, erkannte sehr bald die Effektivität der Gruppe, und unterstützte den Aufbau eines Netzwerkes von mehr als 3.000 Personen, um die Soldaten über die Pyrenäen zu schmuggeln. 156 Frauen und Männer der Comète wurden verraten, verhaftet, erschossen oder starben in Konzentrationslagern.

Ian Davies, ein australischer Pilot der Airforce, dessen Flugzeug abgeschossen wurde, berichtete nach seiner Rettung: „Ich bekam den Auftrag, in Brüssel auf einer Parkbank auf eine junge Frau zu warten. Die 17-jährige Elsie Maréchal, Mitglied der Comète, sprach mich an und brachte mich zu ihrer Mutter, die in London zur Schule gegangen war und meinen Akzent prüfte, ob ich nicht ein Agent der Wehrmacht wäre.“

Maréchal wurde ein Jahr später verraten. George, ihr Vater, sofort erschossen, die Mutter mit den drei Töchtern nach tagelangen Verhören in das KZ Mauthausen deportiert.

Pyrenäen

Im Juni 1941 brachte de Jongh die erste Gruppe über die Pyrenäen nach Spanien, kehrte sofort zurück, um den nächsten Flüchtlingen zu helfen. Die erste Gruppe wurde jedoch in Spanien verhaftet und an die Deutschen übergeben. De Jongh suchte nach einem anderen Weg.

Sie nahm Kontakt mit dem britischen Konsulat in Bilbao auf, wo sie einen britischen Piloten und zwei belgische Flüchtlinge übergab. Die Diplomaten trauten ihr nicht, vermuteten, sie sei eine deutsche Agentin. Wie konnte eine junge Frau unbemerkt 800 Kilometer von Belgien bis Bilbao drei gesuchte Flüchtlinge schmuggeln.

Drei Wochen lang interviewten sie britische Agenten, bis von London der Befehl kam, mit ihr zusammenzuarbeiten. London verlangte, dass die Route von britischen Spezialisten organisiert werde. De Jongh lehnte ab, sie würde nur weitere britische Soldaten bringen, wenn man sie mit ihrem Team arbeiten lassen würde. Im Oktober 1941 brachte sie drei, im Dezember 1941 elf Flüchtlinge. Während des Jahres 1942 schmuggelte sie 24-mal britische Soldaten nach Bilbao, die von den Briten nach Gibraltar gebracht wurden. Von dort erreichten sie England.

Im November 1942 besetzte die Wehrmacht Süd-Frankreich. Die Arbeit für das Comète wurde schwieriger. Die Deutschen schleusten Agenten ein und setzten die Bauern in den Dörfern am Fuß der Pyrenäen unter Druck.

Überquerung

Ende Jänner 1943 brachte de Jongh drei britische Piloten mit dem Zug nach Saint-Jean-de-Luz. Nach mehreren Stunden erreichten sie den Fluss Bidasoa, an dessen gegenüberliegendem Ufer der Weg über die Berge nach Spanien beginnt.

Das Hochwasser machte diesmal eine Überquerung unmöglich, sie mussten in einem Bauernhof übernachten. Am nächsten Morgen umstellten deutsche Soldaten den Hof. Der Bauer hatte sie verraten.

De Jongh gestand – um andere zu schützen –, dass sie die Leiterin der Comète sei. Die SS glaubte ihr nicht. Sie verhaftete ihren Vater, Frédéric de Jongh. Im März 1944 wurde er hingerichtet. Die drei britischen Piloten, die de Jongh über die Grenze schmuggeln wollte, als sie verraten wurde, überlebten in einem Lager für Kriegsgefangene.

Nach dem Krieg wurde de Jongh von der britischen Regierung die ‚George Medal‘ verliehen, der höchste Orden für Nicht-Briten. Die US-Regierung ehrte sie mit der ‚Medal of Freedom‘. 1985 verlieh ihr der König von Belgien den Titel ‚Gräfin‘. Gräfin de Jongh starb 2007. Die Jahre nach dem Krieg verbrachte sie als Krankenschwester in Äthiopien.