Pull-Faktor: Lockt die Aufnahme von Flüchtlingen wirklich mehr Menschen an?

Für Migrations-Expertin Kohlenberger ist dieses Erklärungsmodell längst "überholt und veraltet"

Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist abgebrannt. Zehntausende Menschen sind obdachlos. Doch die Aufnahme von Flüchtlingen in Österreich wird abgelehnt. Es würde weitere anlocken. So die Argumentation von Kanzler Sebastian Kurz und der ÖVP, mit der einer derartigen Hilfsaktion regelmäßig Absage erteilt wird. Doch stimmt das überhaupt? Gibt es diesen sogenannten Pull-Faktor wirklich? Und warum wird Migration stets nur negativ dargestellt? Migrations-Expertin Judith Kohlenberger von der WU Wien gibt Auskunft.

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Migration - Pull-Faktor: Lockt die Aufnahme von Flüchtlingen wirklich mehr Menschen an?

Frau Kohlenberger, Kanzler Kurz oder auch Außenminister Schallenberg sprechen stets davon, dass eine Aufnahme von Flüchtlingen weitere Flüchtlinge anziehen würde, es also einen sogenannten „Pull-Faktor“ gäbe. Können Sie das bestätigen?
Judith Kohlenberger: Ich würde schon allein den Begriff hinterfragen. In der modernen Migrationsforschung arbeitet kaum jemand mehr mit dem überholten und veralteten „Push-Pull-Modell“. Wir wissen mittlerweile, dass dieses Modell nicht die Realität und Komplexität globaler Migrationsbewegungen abbildet. Es war eines der allerersten Migrationsmodelle überhaupt, welches seine Wurzeln im 19. Jahrhundert hat.
Im Grunde ist es ein sehr vereinfachendes und binäres Modell. Und der analytische Wert, um damit Migrationsentscheidungen einerseits verstehen und andererseits sogar prognostizieren zu können, ist sehr begrenzt.

Innerhalb der Migrationsforschung ist also schon die Frage „Gibt es den Pull-Faktor?“ falsch, denn was wir uns eigentlich fragen sollten, ist: „Wie laufen Migrationsentscheidungen ab, warum emigrieren und flüchten Menschen?“ Und das ist viel komplexer.

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Warum emigrieren und flüchten Menschen dann?
Viel aktueller und besser erklärt es das „Aspirations-Capability-Gap“-Modell des norwegischen Migrationsforschers Jørgen Carling: Flucht- und Migrationsentscheidungen sind ein komplexes Zusammenspiel aus Migrationsabsichten auf der einen und „Kapazitäten“ auf der anderen Seite.
Zu Migrationsaspirationen kommt es dann, wenn ich zum Beispiel durch Bildung, Medien oder soziale Netzwerke sehe, wie das gute Leben in einem anderen Land sein kann. Das beinhaltet, Möglichkeiten zum Studieren und zum Arbeiten zu haben, oder in Sicherheit leben zu können, weil im Herkunftsland Krieg herrscht. Auf der anderen Seite dieses Modells stehen aber die Kapazitäten: Sie tragen ganz wesentlich dazu bei, ob es schlussendlich auch zu einer Flucht- oder Migrationsentscheidung kommt, die in die Tat umgesetzt wird. Dazu zählen finanzielle Ressourcen, aber auch Infrastruktur und Transportmöglichkeiten.

»Ressourcen spielen eine übergeordnet große Rolle, weil es ja keine legalen Möglichkeiten zur Flucht gibt.«

Was für eine Rolle nehmen diese eigenen Ressourcen wie finanzielle Mittel in der Migrationsentscheidung ein?
Im jetzigen Asylsystem, europäisch wie global, spielen Ressourcen eine übergeordnet große Rolle, weil es keine legalen Möglichkeiten zur Flucht gibt. Egal wie hoch die Notwendigkeit zur Flucht sein mag (etwa weil Krieg herrscht oder weil man politisch verfolgt wird): Wenn ich die sehr große Summe, die notwendig ist, um einen Schlepper zu bezahlen, nicht zusammenbringe, kann ich schlicht nicht flüchten.

Deshalb ist im derzeitigen System der ökonomische Aspekt ein ganz zentraler, warum Menschen überhaupt nach Europa flüchten (können). Das führt de facto zu einer ökonomischen Auslese: Wer über mehr finanzielle Mittel verfügt, hat höhere Flucht- und somit Überlebenschancen. Und die fehlenden legalen und sicheren Alternativen, um Asyl zu beantragen, sind auch der wichtigste Faktor, warum sich Menschen freiwillig in die Hände von Schleppern übers Mittelmeer, in Kühltransporter oder in elende Lager wie in Moria begeben.

»Auf den ersten Blick mag es auch logisch erscheinen, dass die Erde eine Scheibe ist«

Sie sagen, das Push-Pull-Modell ist veraltet und längst überholt. Warum argumentieren Politiker dennoch beharrlich immer wieder (erfolgreich) damit?
Einerseits, weil es vordergründig sehr logisch klingt und leicht zu erklären ist. Da gibt es etwas, das mich wegstößt, und es gibt etwas, das mich anzieht. Also sehr einfach – zu einfach, würde ich aus Sicht der Forschung sagen. Denn auf den ersten Blick mag es auch logisch erscheinen, dass die Erde eine Scheibe ist, denn wenn ich um mich blicke, sehe ich nicht, dass sie rund ist. Aber dann hat eben die Wissenschaft gezeigt, dass dem nicht so ist. Und auch da hat es recht lange gedauert, bis dieser Fakt von der breiten Öffentlichkeit akzeptiert wurde – dass hier eben etwas nicht ganz so einfach ist, wie es augenscheinlich wirkt.

Aber neben der leichten Erklärbarkeit würde auch einen zweiten Effekt sehen: Das Modell macht es sehr leicht, jegliche Verantwortung für globale Fluchtbewegungen von sich zu schieben. Wir als Aufnahmeland nehmen, wenn überhaupt, gönnerhaft Schutzsuchende auf, haben aber mit den Fluchtursachen nichts zu tun. Aber zum eigentlichen Hauptgrund für das weiterhin starke Schlepperwesen, nämlich den fehlenden legalen Fluchtmöglichkeiten, tragen wir auf europäischer wie auf nationaler Ebene natürlich bei. Weil wir es eben bisher nicht geschafft haben, Alternativen zu schaffen. Im Push-Pull-Modell hat dieser Aspekt der Fluchtdynamik gar keinen Platz. Das macht es einem dann natürlich einfach, Verantwortung von sich zu weisen.

»Das Modell macht es sehr einfach, jegliche Verantwortung für die globalen Fluchtbewegungen von sich zu schieben.«

Statt legale Fluchtmöglichkeiten zu schaffen, versucht man, im Gegenteil, eher die Menschen irgendwie davon abzuhalten, zu kommen…
Genau. In den vergangenen Jahren hat man auf europäischer Ebene, konkret auch die griechische Regierung, viel dafür getan, Menschen davon abzuhalten, den Weg nach Europa zu finden. Man nennt das „Race to the bottom“: Welches Land schafft die schlimmsten Asylbedingungen und die niedrigsten Anerkennungsquoten in der Hoffnung, dass diese so abschreckend wirken, dass wirklich niemand mehr um Asyl ansucht?
Griechenland hat diese Form der Abschreckungspolitik par excellence betrieben und trotzdem kamen in den vergangenen Jahren tausende Menschen an - auf irregulärem und sehr gefährlichem Weg, in kleinen Booten oder bedroht von der Grenzpolizei. Das zeigt einfach, dass der Druck im Hintergrund, nämlich durch die Bedingungen im Herkunftsland, ein massiver ist. Und den gilt es, anzugehen.

Migrationsursachen sollen am besten vor Ort bekämpft werden, heißt es oftmals. Aber warum eigentlich überhaupt bekämpfen? Warum ist Migration generell so negativ konnotiert?
Das frage ich mich auch.
Dieser sehr negative Blick auf Migration stammt aus dem neoklassischen Migrationsmodell, in dem Migration als temporäre Antwort auf ein Entwicklungsungleichgewicht zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern verstanden wird. Wenn zunehmende Einkommenskonvergenz geschafft wird, sich also die Einkommen im globalen Süden jenen im globalen Norden angleichen, dann stoppe Migration komplett. Salopp formuliert: Wenn alle überall gleich gute Einkommensmöglichkeiten haben, gibt es keinen Grund, in reichere Länder auszuwandern. Deshalb setzt man in diesem Modell auf Investitionen vor Ort und Entwicklungszusammenarbeit, um Migration zu minimieren.

Genau das ist mittlerweile aber empirisch widerlegt: Entwicklungszusammenarbeit führt anfänglich zu mehr Migration, weil Menschen dadurch Ressourcen bekommen, um sich (internationale, transkontinentale) Migration überhaupt leisten zu können. Womit wir wieder beim Ressourcenthema wären.

»Es ist zu hinterfragen, ob das Ziel überhaupt sein soll, Migration gegen Null zu bringen.«

Schon allein deshalb ist dieses Modell, das Migration als etwas rein Negatives betrachtet und sie als Reaktion auf Einkommensunterschiede versteht, problematisch. Denn Migration ist ein essentieller Teil der Menschheit und der menschlichen Entwicklung. Menschen waren zuerst einmal mobil und migrantisch bevor sie sesshaft wurden.

Migration ist und war immer schon eine Quelle von Innovation und menschlichem Austausch und deshalb ist es zu hinterfragen, ob das Ziel denn überhaupt sein soll, Migration gegen Null zu bringen.

Und abschließend noch: Wenn wir den Überbegriff für Migration verwenden, nämlich „Mobilität“, was auch Tourismus, Geschäftsreisen, usw. miteinschließt, sehen wir: Die höchste Mobilität findet in Europa und Nordamerika statt, nicht in Afrika. In der öffentlichen Debatte wird dieser Teil der Mobilität, Reisen im reichen Teil der Welt, aber meistens ausgenommen, wie wir jetzt auch im Zuge der Coronakrise und des touristischen Infektionsgeschehen beobachten konnten. Und man erkennt es schon allein daran, dass zum Beispiel Menschen aus Nordamerika, die nach Österreich einwandern, keine Migranten sind, sondern „Expats“. Und diesen stehen Grenzen weitaus häufiger offen als Geflüchteten.