Paul Lendvai: "Wir leben in einem Zeitalter der Enttäuschungen"

Der Publizist Paul Lendvai beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit der Heuchelei in der Politik. Ein Gespräch über die Putin-Freunde in der FPÖ und in der SPÖ, über die politische Figur Herbert Kickl und darüber, warum Lendvai auch in Krisenzeiten Hoffnung hat.

von Paul Lendvai © Bild: News/Matt Observe

Sie widmen Ihr neues Buch der Heuchelei in der Politik. Gehen wir recht in der Annahme, dass Sie sich deshalb auf Russland, Ungarn und den Balkan konzentriert haben, weil man sonst ein vielbändiges Werk verfassen müsste?
Ich will ja nicht drohen, dass noch ein Buch kommt, aber man könnte tatsächlich sehr viel über die Heuchelei schreiben. Ich habe mich auf jene Fälle beschränkt, die ich selbst erlebt oder mitverfolgt habe. Da gibt es allein durch meine persönlichen Kontakte und Erfahrungen genug. Das Buch ist in erster Linie auch ein Versuch, die Frage aufzuwerfen, warum Politiker und Journalisten -auch wir sind nicht unfehlbar - viele Dinge nicht vorhergesehen haben, die man sehen hätte können.

Sind Politik und Heuchelei Geschwister?
Ja. Sicher. Aber es ist auch so, dass man, wenn man großen Erfolg in der Politik hat, weniger Grund hat, zu heucheln. Bruno Kreisky zum Beispiel war ein besonderer Erfolgspolitiker. Es gibt wenige, die offen über die Heuchelei in der Politik sprechen. François Mitterand war sehr erfolgreich, er wurde zwei Mal zum französischen Präsidenten gewählt. Er wurde einmal auf dem Rückflug von einem Gipfeltreffen 1985 von seinem Berater Jacques Attali gefragt, was die wichtigste Eigenschaft eines Politikers sei. Mitterrand hat geantwortet, er würde gerne Wahrhaftigkeit sagen, aber in Wirklichkeit sei es die Gleichgültigkeit. Es ist eine Variation der Heuchelei, wenn man gleichgültig wird, sobald man an der Macht ist. Das war schon ein unglaubliches Bekenntnis.

»Natürlich ist in einer Krisensituation die Versuchung groß, zu heucheln«

Sie haben historische Beispiele genannt: Fällt Ihnen ein aktueller Politiker ein, der nicht heuchelt?
Heute sind diese schwierig zu finden. Wir leben in einem Zeitalter der Enttäuschungen. Emmanuel Macron habe ich anfangs sehr geschätzt. Jetzt sieht man, dass seine Reden besser sind als seine tatsächlichen Leistungen. Es folgen den Worten keine Taten. Es genügt nicht, dass er etwas über Europa sagt und nichts tut. Genauso ist es im Fall der Ukraine, wo man sieht, wie wenig Waffen Frankreich im Verhältnis liefert. Auch das ist Heuchelei: wenn Politiker in Kiew erscheinen und dann nicht liefern. Denken Sie an den deutschen Kanzler Olaf Scholz. Nach seiner Zeitenwende-Rede ist wenig passiert. Aber natürlich ist in einer Krisensituation die Versuchung groß, zu heucheln. Jean-Claude Juncker hat einmal auf dem Höhepunkt der Währungskrise gesagt: "Wir wissen, was wir tun müssen - wir wissen nur nicht, wie wir wiedergewählt werden könnten, wenn wir es getan haben." Das gehört zum Spiel der Demokratie.

Also keine Positivbeispiele?
Ich sehe in den baltischen Staaten Politiker, die nicht heucheln, sondern sagen, dass es eine große Gefahr aus dem Osten gibt. Auch US-Präsident Joe Biden ist ein Politiker, der nicht heuchelt, wenn man sich ansieht, was er für US-Wirtschaft getan hat und wie er die Ukraine und Israel unterstützt. Da sind seine Leistungen ganz klar, aber die Wähler schätzen sie laut Umfragen nicht. Dass ein Mann wie Donald Trump mit jedem Auftritt im Gerichtssaal an Publicity und Popularität gewinnt, ist eigentlich unfassbar.

Das heißt, die Wähler belohnen die Heuchelei?
Ja, genau so ist es. Denken Sie an das Treffen dieser beiden Herrschaften in Budapest: Viktor Orbán und der slowakische Ministerpräsident Robert Fico, der noch vor Jahren von Demonstrationen aus dem Amt gejagt wurde, Arm in Arm. Das sind diese sogenannten Nationalisten, aber wenn es um die Macht und den Machterhalt geht, sind sie bereit zu Kompromissen, oder einander zu lieben. An Orbán sieht man, dass ein Politiker auch Glück haben muss. Er hatte Glück mit der Flüchtlingskrise 2015, wo sogar die Opposition gesagt hat, dass man keine Migranten will. Er hatte sogar Glück mit dem Ukraine-Krieg, wo er sagt, Ungarn muss sich raushalten. Und er hat Glück, dass -nachdem er Polen als Verbündeten verloren hat -Herr Fico sagt, dass er ihn gegen die EU unterstützen wird. Ich habe Fico vor Jahren mein Buch über Orbán überreicht, da hat er ganz anders über ihn gesprochen. Und Orbán hat anders über die Slowakei geredet, wo ja 450.000 Ungarn leben. Ich halte das Hofmachen bei Autokraten jedenfalls für einen Fehler. Man hat das beim früheren deutschen Kanzler Gerhard Schröder und Russlands Wladimir Putin gesehen. Er wurde trotzdem nicht aus der SPD ausgeschlossen.

Paul Lendvai
© News/Matt Observe
Paul Lendvai, 94 In Budapest als Sohn jüdischer Eltern überlebte er die Nazizeit in Ugarn mit einem Schweizer Schutzpass. Nach dem Krieg und einem Jurastudium arbeitete er als Journalist. 1953 wurde verhaftet und erhielt Berufserbot, im Zuge des Ungarn-Aufstands floh er und kam 1957 nach Wien. Er schrieb für die "Presse" und für die "Financial Times", gründete die Europäische Rundschau und leitete die Osteuropa-Redaktion des ORF. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher.

Sie beschreiben in ihrem Buch sehr ausführlich, wie russlandfreundlich die SPD immer war, wobei sie auch die Bürgerrechtsbewegungen in den kommunistischen Staaten missachtet hat, und wie sie sich jahrelang Putin angedient hat. Die SPÖ sparen sie aus. Dabei hat doch sie eine russlandfreundliche Geschichte.
Ich war sehr empört, dass die Hälfte der SPÖ-Abgeordneten bei der Rede von Selenskyj im Nationalrat nicht anwesend waren. Warum unterstützt man nicht demonstrativ ein kleineres Land, das von Russland angegriffen wurde? Das war eine Schande, eine Mischung aus Ignoranz und Arroganz. Es gab auch früher Fehler der SPÖ, zu Zeiten der kommunistischen Diktatur. Der deutsche Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hat sehr klar seine eigenen Versäumnisse und Fehler öffentlich bedauert. Ich warte gespannt, was Angela Merkel in ihren Memoiren über ihr Verhältnis zu Putin schreiben wird. Und ja, es gibt auch viel in der SPÖ aufzuarbeiten. Ich bin nicht glücklich, dass der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer die Sache damit ad acta legt, dass man sein Verhalten aus der damaligen Situation heraus sehen müsse. Da könnte man ja jede Handlung oder Unterlassung mit so einem Gummiargument rechtfertigen.

Cover zu Buch "Über die Heuchelei" von Paul Lendvai
© beigestellt

Das Buch
Lendvais jüngstes Buch "Über die Heuchelei" erschient am 29. Jänner im Zsolnay-Verlag und kostet 23 Euro.



Die mit Sternchen (*) gekennzeichneten Links sind sogenannte Affiliate-Links. Wenn Sie auf so einen Affiliate-Link klicken und über diesen Link einkaufen, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.

Heinz Fischer sagte letzten Herbst in einem News- Interview, er habe sich im Umgang mit Putin nichts vorzuwerfen. Auch in anderen Staaten sei dieser freundlich empfangen worden.
Trotzdem waren die im ORF-Fernsehbericht verewigten freundlichen Gesten beim Scherzen mit Putin bei einer Veranstaltung in der Bundeskammer durch Fischer und den Kammerpräsidenten Christoph Leitl im Sommer 2014, also vier Monate nach der Annexion der Krim, ein politischer Fehler. Er hat jetzt gegenüber der APA eine israelkritische Erklärung abgegeben. Es wäre interessant gewesen, wenn Fischer sich den Umgang mit Putin wieder angesehen hätte. Auch Leitl sagt nichts zu seinem Auftritt von damals. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat aber in sehr scharf formulierten Reden bei den Festspielen in Bregenz und Salzburg 2022 Putin angegriffen und als einziger Spitzenpolitiker zugegeben, dass er sich "auch täuschen ließ". Er sprach offen aus, dass hier Fehler gemacht wurden. Ich halte das für sehr wichtig und finde es unerhört, dass Herbert Kickl ihn deshalb angegriffen hat. Van der Bellen agiert überhaupt nicht wie eine "Mumie," sondern wie ein starker Staatspräsident. Es gab Versäumnisse auf mehreren Seiten, auch bei der Opposition, und all das beeinträchtigt das Ansehen Österreichs. Wenn man in ausländische Zeitungen wie "NZZ", "Economist","Financial Times" oder "New York Times" über Österreichs Russlandspolitik liest, ist das kein gutes Gefühl. Ich bin traurig, dass es so gekommen ist.

Sie haben gesagt, auch die Medien seien nicht frei von Heuchelei. Wie meinen Sie das?
Pierre Bourdieu, der große französische Philosoph und Denker, hat einmal geschrieben, das Schweigen sei auch eine Form von Zensur. Also wenn man über etwas bewusst oder unbewusst nicht schreibt. Das hängt zum Teil von den Verlegern und Verlagen ab, zum Teil von der Zivilcourage und dem Verantwortungsgefühl der Journalisten. Man muss offen aussprechen, es gab und gibt in den Medien genauso wie in der Politik Menschen, die bestochen oder bevorzugt wurden oder werden. Wichtig ist auch, dass man nicht sagt, über wen geschrieben oder nicht geschrieben werden soll. Dazu braucht es eine starke Zeitung. Als ich bei der "Financial Times" war, habe ich kritische Berichte über das kommunistische Jugoslawien geschrieben. Der Botschafter drohte in einem Gespräch mit dem "FT"-Chefredakteur Gordon Newton "Wenn Sie solche Artikel bringen, werden wir keine Inserate platzieren." Die Antwort war kurz "Dann werden wir ohne ihre Inserate leben."

Inserate gegen gewogene Berichterstattung, diese Wünsche hört man auch heute.
Da muss man klinisch sauber sein. Das ist sehr wichtig. Es gab und gibt Leute, die aus Gesinnung schreiben. Sogar Bernard Shaw hat nach seiner Russlandsreise in den Dreißigerjahren geschrieben: "Ich verlasse nun das Land der Hoffnung und kehre ins Land der Enttäuschung zurück ( ). Es ist eine Qual, in den Kapitalismus zurückzugehen. Wenn du einmal den Bolschewismus gesehen hast, bleibt kein Zweifel mehr daran, dass der Kapitalismus verdammt ist." Aber heute gibt es eher Bestechung als den Glauben an Russland oder China. Herausgeber und Geschäftsführer spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Man fängt klein an und geht dann immer mehr Kompromisse ein. Das kann à la longue das Prestige und das Ansehen einer Zeitung zerstören. Es ist eine der gefährlichsten Entwicklungen, wenn Medien zum Instrument der Politik werden. Und es ist kein Zufall, dass der erste oder zweite Schritt nach einer Machtergreifung ist, die Medien unter Kontrolle zu bringen. Wir haben das in Ungarn gesehen. Wir haben die Ermordung eines recherchierenden Journalisten in der Slowakei gesehen. Deshalb ist die Zivilgesellschaft so wichtig.

In Österreich steht seit über einem Jahr die FPÖ in Meinungsumfragen für Nationalratswahl auf Platz eins. Halten Sie den Wahlsieg der FPÖ für gesetzt, wie das mittlerweile viele Menschen in Österreich tun?
Ich habe für mein vorletztes Buch "Vielgeprüftes Österreich" einmal lange mit Herbert Kickl gesprochen. Es war ein interessantes Gespräch. Die Gefahr besteht darin, dass er ein sehr geschickter, gerissener, intelligenter Politiker ist. Goebbels war auch ein sehr intelligenter Mensch. Aber wenn man in seinen Tagebüchern liest, wie fasziniert er von Hitler war, verschwindet dieser Eindruck. Kickl ist in mancher Hinsicht ein Rätsel, weil er immer ein Hintergrundmann war. Ich glaube nicht, dass er je die Zugkraft eines Jörg Haider oder Sebastian Kurz haben wird. Aber es ist unglaublich, wie er eine Situation wie die Coronakrise und die Fehler der Regierung skrupellos ausnützen konnte. Jede Regierung hat in dieser Zeit Fehler gemacht. Außerdem ist er ein Sprücheklopfer, er hat ja schon viele Slogans der FPÖ erfunden. Ein Meister bei der Umwandlung bestimmter Begriffe in politische Manipulationsmittel.

Aber er liegt in Umfragen auch in der fiktiven Kanzlerfrage vorn.
Es spielt dabei offenbar keine Rolle, dass er gleichzeitig in anderen Umfragen zu den Unpopulärsten gehört. Er nützt Situationen wie die Inflation aus, um die Leute zu gewinnen und bei der Stange zu halten. Er macht mit der russischen Politik gemeinsame Sache. Er biedert sich Orbáns Ungarn an und spricht von einer Festung Österreich . Wir wissen aus der Vergangenheit, was das bedeutet. Seine Sprache ist verräterisch. Er benützt gefährliche Begriffe aus der NS-Zeit wie "System", "Volksverrat "und "Volkskanzler".

Was heißt das für die kommenden Wahlen?
Wir wissen, dass ein hoher Anteil der Menschen nicht zu Wahlen geht. Deshalb ist es wichtig, die Nichtwähler zu gewinnen. Dafür gibt es keine Rezepte. Was es aber gibt, sind lächerliche Sprüche wie: "Die Wähler haben immer Recht." Wieso haben sie immer Recht? Wir haben in der Geschichte gesehen, dass die Demokratie von oben zerstört werden kann. Und wir sehen am Beispiel Polens, wie schwierig der Weg zurück in die Demokratie ist.

»'Mögen sie uns hassen, wenn sie uns nur fürchten', scheint der Leitgedanke Kickls zu sein «

Dennoch haben 30 Prozent der Wähler kein Problem mit Kickls Ansagen.
Ich hoffe, dass auch die andere Seite betrachtet wird. 70 Prozent der Wähler würden nicht für die FPÖ stimmen. Ganz abgesehen davon halte ich es für verhängnisvoll, wenn eine Partei nur Angst züchtet. Es gibt ein lateinisches Zitat: "Oderint dum metuant." Mögen sie uns hassen, wenn sie uns nur fürchten. Das scheint auch der Leitgedanke von Herbert Kickl zu sein. Es gab in November dieses unglaubliche Treffen in Deutschland, bei dem auch der Identitäre Martin Sellner einen großen Vortrag gehalten hat. Auch Leute von der CDU und der AfD waren dort. Das erinnert daran, wie seinerzeit die deutschen Kapitalisten und Unternehmer hofften, sie könnten Hitler unter Kontrolle halten. Ich finde sehr bedenklich, dass sich Kickl von diesem Treffen und von den Identitären überhaupt nicht distanziert hat. Dies könnte eine schreckliche Bedrohung der Demokratie bedeuten.

Was schlagen Sie vor?
Ich finde es wichtig, aufzuzeigen, wie die früheren freiheitlichen Regierungsmitglieder moralisch und beruflich versagt haben. Etwa der frühere FPÖ-Verteidigungsminister. Es ist leider so, dass man sich in Österreich offenbar nur auf einen Skandal konzentrieren kann, jenen um Sebastian Kurz und Thomas Schmid, also rund um die ÖVP. Das bedeutet aber nicht, dass man die Korruptionsaffäre der FPÖ und die Unfähigkeit ihrer früheren Ministerinnen und Minister vergessen soll. Man muss ganz klar darstellen, was rund um die FPÖ zum Beispiel in Graz passiert. Man muss offensiv werden, wenn man die Demokratie verteidigen will. Und man muss auch jene entlarven, die schon insgeheim ihre Pläne machen, wie sie mit einer starken FPÖ ein einer Koalition durch faule Kompromisse ihre eigenen persönlichen und finanziellen Interessen schützen könnten.

Also Teile der ÖVP.
Ja, sicher. Ich finde das eigentlich lächerlich: Man kann Herrn Babler für dumme Aussagen über die EU kritisieren und dafür, dass er sich im höheren Alter wie ein Jungsozialist benommen hat. Wir haben ja im Fall von Alfred Gusenbauer gesehen, dass man, auch wenn man die Moskauer Erde küsst, noch ein ganz erfolgreicher Kapitalist werden kann. Also Babler als eine Bedrohung der Demokratie hinzustellen, um ihn zu verhindern, wie man das in der ÖVP tut, ist absurd. Ich habe noch keine Erklärung von ihm gesehen, die demokratiegefährdend wäre.

In den Umfragen kommt er aber nicht recht vom Fleck.
Es gibt zwei Dinge, die schlecht sind für eine politische Führung oder eine Partei: wenn sie miteinander streiten und wenn sie Steuererhöhungen als einzige wichtige Maßnahme in den Vordergrund stellen. Das ist das Krebsgeschwür der SPÖ, dass ihre Funktionäre von Tirol bis ins Burgenland den Mund nicht halten können und damit mehr Schaden verursachen als der politische Gegner. Doskozil sollte den Nobelpreis von der FPÖ bekommen, für das, was er in den letzten Jahren angestellt hat.

Wir erleben nicht nur in Österreich einen Rechtsruck, sondern in mehreren Ländern Europas. Was heißt das für unseren Kontinent?
Ich bin sehr vorsichtig mit Zukunftsprophezeiungen. Ich glaube, die größte Gefahr ist, in eine defätistische Stimmung zu verfallen, zu kapitulieren und zu sagen, dass es so oder so kommen wird. Mich hat sehr darin bestärkt, nicht bodenlos pessimistisch zu sein, was ein bedeutender britischer Publizist über die USA geschrieben hat: Selbst wenn Donald Trump wieder Präsident wird, würde er doch glauben, dass die Vereinigten Staaten auch das als Weltmacht überleben könnte. Allerdings bin ich ein bisschen pessimistischer, was die Europäer und die Europäische Union betrifft. 27 Staaten sind im Grunde eine Erfolgsgeschichte. Aber wir sehen immer wieder Rückfälle in Staaten wie Ungarn oder der Slowakei. In der Demokratie gibt es Verschiebungen, und es ist ein großer Konstruktionsfehler der EU, dass man niemanden aus diesem Klub ausschließen kann. Natürlich wäre die ideale Lösung eine europäische Föderation. Aber das bleibt ein Traum.

Was passiert, wenn in mehreren Staaten EU-feindliche Parteien in die Regierung kommen?
Die EU wird das aushalten. Aber es wird sehr schwierig, gemeinsame, schmerzliche Beschlüsse zu fassen. Das ist die größte Gefahr. Die Vereinigten Staaten könnten wieder von einem Hochstapler regiert werden. Aber wir sind noch nicht soweit. Und ich finde, es ist auch ein Hauch von Kapitulation, wenn etwa "Die Zeit" diese Woche in einem Artikel den Vorwurf erhebt, warum Deutschland sich nicht auf einen Präsidenten Trump vorbereitet. Wie kann man sich vorbereiten? Man muss zu Hause im Sinne Voltaires den Garten pflegen und die Dinge dort in Ordnung bringen.

»Die beste Verteidigung Österreichs ist, wenn sich die Menschen nicht für russische Oligarchen hergeben«

Und wie?
Die beste Verteidigung Österreichs sind nicht neue Rüstungsgüter, sondern wenn sich die Menschen nicht für russische Oligarchen hergeben und sich nicht bei der Energieversorgung an Russland verkaufen. Man soll die eigenen Interessen schützen. Das ist wichtiger als alles andere. Die beste Verteidigung ist zudem, das Land politisch und sozial zu stabilisieren. Dann spüren die Leute, dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen. Das Wichtigste ist das Engagement der Zivilgesellschaft. Es ist ein Übel, das immer weniger gute Leute oder gebildete Quereinsteiger in die Politik gehen. Und man muss aus der Geschichte lernen. Man muss offensiv Schwächen oder Fehler aufzeigen. Man muss aber auch zeigen, was es bedeuten würde, wenn wir den Euro rückgängig machen, keine Reisefreiheit oder keine Erasmus-Stipendien mehr haben oder wenn wir nicht im Ausland arbeiten könnten. Man muss die Erfolge besser verkaufen. Es ist sehr leicht, nur zu schimpfen oder die Dinge negativ zu sehen. Man muss doch auch die Bedeutung des Kompromisses würdigen, die Sozialpartnerschaft, durch die Streiks verhindert werden, oder unser Gesundheitswesen. Ich bin kein Chauvinist, aber ich glaube, man kann schon auf vieles in Österreich stolz sein, und das muss man darstellen und verteidigen.

Was muss Österreich dennoch besser machen?
Ich habe mich immer als melancholischen Realisten betrachtet. Natürlich leben wir in einer krisenhaften Zeit. Der große Schweizer Philosoph Jacob Burckhardt hat gesagt, wenn sich zwei Krisen kreuzen, dann frisst die stärkere die schwächere auf. Nun war in letzter Zeit die Inflation stärker als die Migrationsfrage. Ich habe zwei Jahre lang als Vorsitzender des Migrationsrates mit großartigen Professoren wie Heinz Faßmann, Christiane Spiel oder Markus Hengstschläger zusammengearbeitet. Wir haben ein hundert Seiten langes Elaborat über Migration produziert. Es ist in der Schublade verschwunden wie sicher andere Studien auch. Das zeigt, dass in diesem Land die Politiker die Experten loben, aber ihre Ratschläge wegen parteitaktischen oder Gruppeninteressen oft ignorieren. Ich glaube schon, dass wir sehr viele fähige Leute haben. Man darf, wenn man daran denkt, wie viel dieses Land schon überlebt hat, nicht in eine defätistische Stimmung verfallen. Ich bin gegen die Kapitulation. Ich glaube, dass die Chancen da sind.

Was stimmt Sie zuversichtlich in Zeiten wie diesen?
Mich macht zuversichtlich, wenn ich daran denke, was ich schon erlebt habe und dass man sehr, sehr schwierige Situationen psychisch und physisch überleben kann. Es haben auch schon Völker und Staaten überlebt. Außerdem glaube ich, dass man die Kraft der Menschen und die Entschlossenheit, etwas zu verteidigen, nicht unterschätzen darf. Ich bin kein Träumer. Ich würde nicht machen, was ich mache, wenn ich nicht zuversichtlich wäre, dass Artikel, Auftritte, Reden, Gespräche etwas bewirken. Andernfalls könnte man sich zurückziehen, oder? Ich persönlich glaube, dass man aus der Vergangenheit lernen und die Menschen dazu bringen kann, bei der Wahl zwischen Abgrund und sogenannten normalen Schwierigkeiten den richtigen Weg zu finden. Dass es in einem Land wie Polen einen Regimewechsel gab, dass Großbritannien trotz Brexit so stark in der NATO zur Rüstungshilfe für die Ukraine beiträgt -das gibt mir Zuversicht. Ohne Zuversicht könnte ich nicht schreiben, leben, arbeiten. Der bedeutende deutsche Dichter Gottfried Benn hat herablassend zynisch geschrieben: "Dumm sein und Arbeit haben/ Das ist das Glück." Ich glaube, Glück ist, nicht dumm zu sein, sondern zu arbeiten und zu wissen, wofür man arbeitet.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 3/2024.