Michel Friedman: "Ins Ghetto werde ich nicht zurückkehren"

"Tod den Juden"-Chöre, linke Solidarität mit Terroristen und der immer enthemmter zutage tretende Antisemitismus nach dem Anschlag der Hamas inspirierten Michel Friedman zum Essay "Judenhass". Warum es nicht genug ist, gegen rechts zu demonstrieren, und wann Wokeness zur Heuchelei wird, lesen Sie im Interview mit einer der stärksten jüdischen Stimmen Europas.

von Michel Friedman © Bild: Gaby Gerster

Die Bilder, die Michel Friedman, 67, vom Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober erreichten, riefen Erzählungen aus der eigenen Familie wach: hier jüdische Jugendliche, abgeschlachtet auf einem Musikfestival, ermordete Mütter, Kleinkinder und Alte im Kibbuz. Dort die Schicksale aus der Geschichte: Die Eltern und eine Großmutter überlebten als Einzige der Familie unter dem Schutz des deutschen Unternehmers Oskar Schindler.
Als bei Demonstrationen in deutschen Städten "Tod den Juden" skandiert wurde, sah Friedman die Zeit für eine machtvolle Antwort gekommen: Der aufwühlende Essay "Judenhass" hat die "Spiegel"-Bestsellerliste erreicht und wird am 14. März im Akademietheater präsentiert. News erreichte Friedman in seinem Büro in Frankfurt.

»Der Judenhass in Deutschland und Österreich wurde lauter und schamloser «

Herr Friedman, hätten Sie jemals mit diesem starken Aufkommen von Antisemitismus in Österreich und in Deutschland gerechnet? Dass Sie ein Buch mit dem Titel "Judenhass" schreiben müssten?
Ehrlich gesagt, ja. Wenn man sich den schleichenden, aber doch immer öffentlichen Judenhass der letzten Jahre ansieht, der in der brutalen Sprache der Straße und in der gepflegten Sprache der bürgerlichen Mitte wieder hörbar wurde, musste man auch vorhersehen können, dass jedes Streichholz diese geistigen Brandstifter weiter motivieren würde, sich zu enthemmen. Was in den letzten Monaten und Jahren in Deutschland, in Österreich und in anderen Ländern feststellbar war, ist, dass der Judenhass lauter und schamloser geworden ist und mit Schamlosigkeit immer mehr in die Debattenräume, auch der bürgerlichen Mitte, eingedrungen ist.

Was meinen Sie mit der bürgerlichen Mitte? Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
Wenn Sie sich die FPÖ vor Augen halten und die Millionen Menschen, die diese Partei des Rassismus und des Judenhasses wählen, dann reicht das alleine schon, um festzustellen, dass die Enthemmung schnell voranschreitet.

In der bürgerlichen Mitte würde ich diese Leute nicht einordnen.
Die FPÖ und ihre Wähler und Wählerinnen sind schon längst im bürgerlichen Lager angekommen. Gegen die Koalition Schüssel-Haider -das ist jetzt über 20 Jahre her -haben sich am Heldenplatz Hunderttausende Menschen versammelt. Ich war damals einer der Hauptredner. Bei der letzten Koalition der Kurz-ÖVP mit der FPÖ waren es nur noch wenige, die dagegen spontan demonstriert haben. Daran sehen Sie auch, dass man sich an solche Zustände gewöhnt. Wir haben uns einmal versprochen: Wehret den Anfängen! Aber versprochen ist gebrochen, und wir sind jetzt mittendrin. Wir haben uns angepasst. Unsere Wirbelsäule hat sich bereits als sehr flexibel erwiesen, und davon profitieren jetzt die Extremen.

© Gaby Gerster

Zur Person
Michel Friedman wurde am 25. Februar 1956 als Sohn jüdisch-polnischer Emigranten in Paris geboren. Er kam mit seiner Familie 1965 nach Deutschland. Er ist Rechtsanwalt, Philosoph, Publizist und Moderator. Von 1994 bis 1996 war er Mitglied im Bundesvorstand der CDU, von 2000 bis 2003 stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und Herausgeber der Wochenzeitung "Jüdische Allgemeine" sowie von 2001 bis 2003 Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses. Seit 2016 ist er Honorarprofessor und leitete bis 2022 das von ihm mitbegründete Center for Applied European Studies an der Frankfurt University. Er moderiert die Sendung "Auf ein Wort" bei der Deutschen Welle. Michel Friedman ist mit der Moderatorin Bärbel Schäfer verheiratet. Das Paar hat zwei Söhne.

In diesen Wochen demonstrieren Hunderttausende gegen rechts, aber man hört keine Stimme dabei, die sich explizit gegen Antisemitismus erhebt.
Die Bezeichnung, gegen rechts zu demonstrieren, ist nicht differenziert genug. Es gibt rechts und links im demokratischen Spektrum, das steht außer Diskussion. Wir aber sprechen hier von Rechtsextremisten, die nicht am Rande des demokratischen Spektrums stehen, sondern außerhalb, weil sie letztendlich eine demokratisch verfasste Gesellschaft verändern wollen. Aber Sie haben vollkommen recht, nach dem 7. Oktober fehlte eine spontane Reaktion darauf, was die Hamas-Mörder der Welt gezeigt haben: Dass es das Ziel der Terroristen ist, zu töten, wissen wir. In diesem Fall war das Erschreckende, das Unmenschliche, Entmenschlichende das Entscheidende. Sie haben Frauen zu Tode vergewaltigt, Kindern den Kopf abgehackt. Sie haben Menschen verbrannt. Das alles haben sie in sozialen Medien mit großem Stolz verkündet und damit die Entmenschlichung ihrer Opfer präsentiert. Ich nenne das den einen Teil. Der andere Teil war, dass in Deutschland, in Berlin und in anderen Städten, aber auch in Österreich diese Morde gefeiert und als Freiheitskampf interpretiert wurden, wobei auf den Straßen "Tod den Juden" gebrüllt wurde. Den meisten in Deutschland war das gleichgültig. Das war zum Beispiel nach dem Anschlag auf " Charlie Hebdo" in Paris anders.

Sie meinen den islamistischen Anschlag auf die französische Satirezeitung, als auf Facebook Tausende "Ich bin Charlie" gepostet haben und zum Gedenken an die Opfer auf die Straßen gegangen sind.
Zu Recht. Es gab auch eine Welle der Solidarität mit den Opfern von 9/11. Nach den Anschlägen der Hamas demonstrierten in Deutschland nur 20.000. Das war ein Offenbarungseid und für jüdische Menschen der Beweis, dass es den meisten in Deutschland schwerfällt, Empathie für Juden aufzubringen. Wir waren bis dahin überzeugt, dass Menschen, die mit dem Tod bedroht werden, umarmt, beschützt werden sollten. Das Vertrauen der jüdischen Gemeinschaft wurde zerstört. Jüdische Menschen fühlen sich seither in Deutschland alleingelassen. Das ist aber nicht alles. Man hat uns nach dem Anschlag geraten, zu überlegen, ob wir uns als Juden und Jüdinnen zu erkennen geben, wenn wir sicher leben wollen. Das ist pervers. Wenn wir jetzt überlegen, ob wir eine Kippa tragen oder ob unsere Kinder ihren Davidstern besser ablegen, signalisieren wir, dass diese Gewalt, die uns Angst machen soll, erfolgreich ist. Das heißt, wir sollen unsere Identität nach außen verleugnen. Eine tragische Debatte, weil sie letztendlich genau jene war, die im Ghetto stattgefunden hat. Ins Ghetto werden ich und auch die jüdische Gemeinschaft nach 1945 nicht zurückkehren.

In Wien gab es ähnliche Diskussionen nach dem Anschlag. Den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde wurde geraten, auf dem Weg zu den Gedenkveranstaltungen der Opfer keine Fahnen auszurollen und keine jüdischen Zeichen offen zu tragen. Bei jüdischen Einrichtungen wurden Fahnen abgerissen. Ich verstehe bis heute nicht, warum es da keinen intensiven Polizeischutz gegeben hat.
Das ist skandalös, was da passiert ist. Das zeigt, dass die Verantwortlichen der Sicherheitsbehörden nichts verstanden haben.

War das nicht in Deutschland ähnlich?
In Deutschland konnte man mit einer Kippa zu jeder Demonstration gehen. Die Auflagen bei proisraelischen Solidaritätskundgebungen, nicht für die Regierung Netanjahus, sondern für die Opfer, waren deutlich lockerer, die Schutzmaßnahmen umso intensiver. Aber was Sie mir da berichten, ist unerklärlich. Ich betone es noch einmal: Das zeigt, dass man aus der Geschichte nichts gelernt hat. Es hätten zum Beispiel nichtjüdische Demonstranten auf die Idee kommen können, eine Kippa aus Solidarität zu tragen.

Ist der Antisemitismus an den Universitäten nicht noch beunruhigender? In Berlin und an der Angewandten in Wien skandierten Palästinensersympathisanten antijüdische Parolen. Niemand hat dagegen etwas unternommen. Soweit ich informiert bin, blieben auch vom Lehrpersonal Reaktionen aus.
Manchmal ist Gleichgültigkeit ein Grund, manchmal Angst und Feigheit, manchmal aber auch eine innere Zustimmung. Dann kann man keine Reaktionen erwarten. Natürlich muss auch in den Schulen und in den Bildungsinstitutionen Kritik an Israels Regierung und an der Kriegsführung möglich sein. Aber in dem Moment, wenn Israel als Nazistaat bezeichnet wird oder "From the river to the sea" skandiert wird, was nichts anderes bedeutet als die Vernichtung des Staates Israel, wird eine rote Linien überschritten. Früher hat der ägyptische Präsident Nasser gesagt: "Alle Juden ins Meer." Solche Vernichtungsfantasien sind antisemitische Narrative. Ich erwarte, dass Lehrer und Lehrerinnen entsprechend reagieren und diese Leute stoppen. Aber das kommt nur selten vor. Das ist empörend und enttäuschend. Denn nur, wenn auf solche Parolen reagiert wird, kann man von einer wehrhaften Zivilgesellschaft sprechen.

Soll man propalästinensische Demonstrationen verbieten und die Demonstranten, die antisemitische Parolen skandieren, ausweisen?
Es ist völlig legitim, dass palästinensische Menschen für ihren eigenen Staat demonstrieren. Aber es ist nicht legitim, wenn sie auf dieser Demonstration feiern, dass Jüdinnen und Juden umgebracht werden. Nicht legitim ist es, jüdische Menschen mit Nazis zu vergleichen oder den Staat Israel mit Nazi-Deutschland. Und es ist nicht legitim, die Existenz des Staates Israel in Frage zu stellen. In dem Moment, wenn auch nur eine dieser Bedingungen bei einer Demonstration gegeben ist, muss diese sofort abgebrochen werden, weil die Grundrechte von Bürgern verletzt werden. Aber ich betone, dass ich voller Empathie bin, wenn Kinder sterben, egal ob in Gaza oder in Tel Aviv.

Was kann jeder von uns gegen Antisemitismus unternehmen?
Widersprechen. Wo findet denn Antisemitismus statt? Im Alltag. Man hört Judenwitze, man hört die eine oder andere aggressive Bemerkung gegen jüdische Menschen oder diese Verschwörungstheorien. Das kommt in der Arbeit vor, in Vereinen, bei jemandem, mit dem man Sport betreibt, in der Familie. Man kann natürlich etwas tun, indem man widerspricht. Dazu braucht man keine Zivilcourage. Je öfter man das tut, desto leichter kann man sich auch im politischen Raum einmischen. Das ist eine Frage der Übung. Wenn jemand "Tod den Juden" schreit, müssen wir darauf reagieren. Denn wir müssen uns bewusst machen, dass wir hier von Hass reden. Und der wird nie satt. Es fängt mit den jüdischen Menschen an und hört am Ende bei allen auf. Wenn Menschen andere Menschen mit Hass übergießen, wird das Grundgesetz, die Würde des Menschen ist unantastbar, verletzt. Das heißt, unsere Freiheit ist nicht mehr gesichert und die Würde des Menschen auch nicht. Das bedeutet, dass auch meine Freiheit eines Tages angegriffen werden kann. Wir haben aus den Erfahrungen mit dem Dritten Reich gelernt, dass Hass am Ende beliebig wird. Nie wieder! Dieses Versprechen wurde Juden und Jüdinnen in Deutschland, aber auch in Österreich gegeben. Kommt zurück, lebt bei uns! Wir versprechen euch, ihr seid sicher. Wir haben aus der Geschichte gelernt. Lächerlich! Unsere Gesellschaften sind ja schon seit Jahren immer mehr von diesem Hass erfüllt. Die sozialen Medien steigern diesen Hass. Es ist allerhöchste Zeit, dass wir in unserer Gesellschaft verhandeln und wieder lernen, uns mit Respekt zu begegnen. Denn das ist das einzige Gegenmittel, Respekt statt Hass.

Nahezu Ihre gesamte Familie wurde von Nazis ermordet. Nur Ihre Großmutter und Ihre Eltern haben durch den Unternehmer Oskar Schindler überlebt. Wie kommt es, dass Sie die Mörder Ihrer Familie nicht hassen?
Meine Mutter seligen Angedenkens hat mir mal gesagt: "Denk dran, die Hassenden sind vergifteter als die Gehassten, denn sie müssen 24 Stunden mit ihrem Hass leben." Meine Mutter und mein Vater, die den Holocaust überlebt haben, haben nie ein Wort des Hasses über Deutsche oder über Österreicher geäußert. Bei uns zu Hause gab es keinen Hass und ich bin dafür übrigens sehr dankbar. Was entstehen kann, ist Wut. Doch Wut geht vorbei, Hass bleibt. Wut ist völlig legitim. Man muss dieses Gefühl zulassen, wenn man merkt, dass Menschen andere Menschen mit Worten oder Taten töten wollen. Ja, die Wut muss und kann verfliegen, der Hass bleibt. Und deswegen warne ich uns alle davor, so zu empfinden wie diese geistigen Brandstifter.

»Sehr selten hört man, dass Österreich der erste kreischende Kollaborateur des Dritten Reiches war«

Wie kommt es, dass eine Gesellschaft, die sich selbst woke nennt, penibel auf Gender-Doppelpunkte achtet, jedes Wort aus politischer Korrektheit auf die Waagschale legt, Aggressionen gegen jüdische Menschen zulässt? Ist diese Wokeness nicht Heuchelei?
Ich würde sagen, dass jeder Mensch, der sich demokratisch nennt, heuchlerisch ist, wenn er nicht widerspricht, wenn er sieht, dass Menschen gruppenspezifisch angegriffen werden. Wenn er nichts dagegen tut, wenn Vorurteile, Stereotypisierungen als Scheinbegründung für Gewalt benutzt werden. Vielleicht sollte man die Erinnerungskultur genauer ansehen. Wobei Deutschland viele Schritte weitergegangen ist als Österreich. Viele glauben hier noch immer, dass Österreich ein Opfer der Nazis war. Das ist die Realität. Ich führte oft Diskussionen darüber in Österreich. Sehr selten hört man, dass Österreich der erste kreischende Kollaborateur des Dritten Reiches war. Wenn man mit diesem Mythos sozialisiert wurde, dann hat man in der Erinnerungskultur nicht den Impuls, Einspruch zu erheben. Hinzu kommt, dass Sie eine Partei haben, die in manchen Bundesländern mitregiert und alles versucht, um diesen Opferkult fortzusetzen, und gleichzeitig offen rassistisch, menschenfeindlich und judenfeindlich die Räume besetzt. Das "normalisiert" sich in einer Gesellschaft sehr schnell. Wenn ein Minister etwas sagen darf, warum sollte dann nicht ein Otto Normalverbraucher auch etwas sagen dürfen? Zumal der meint, dass man schon lange nicht mehr alles sagen darf. Dem kann ich nur entgegnen: Du kannst doch alles sagen. Du lebst in einem Land, wo die Menschenrechte oberstes Prinzip sind.

Marine Le Pen, die Chefin der extremen Rechten in Frankreich, war eine der Ersten, die sich bei den Protesten gegen Antisemitismus in Paris groß in Szene setzten. Ist das nicht bedenklich?
Es gibt so viele Heuchler. Le Pen und die rechtsextremen Parteien sagen der jüdischen Gemeinschaft: "Ihr müsst uns wählen, wir sind eure Freunde, wir schmeißen die Muslime raus." Aber ehrlich gesagt, die Feinde meiner Feinde, wie Frau Le Pen und Herr Kickl, werden jetzt nicht meine Freunde. Abgesehen davon bin ich auch nicht der Meinung, dass man den Hass auf alle Musliminnen und Muslime übertragen darf. Es gibt extremistische muslimische Menschen, so wie es extremistische Christinnen und Christen und extremistische Jüdinnen und Juden gibt. Es gibt aber auch extremistische Österreicherinnen und Österreicher, die die FPÖ, eine extremistische Partei, wählen. Ich lege hier großen Wert auf Differenzierung. Es geht um unseren Humanismus. Es geht darum, dass wir am Ende des Tages jeden einzelnen Menschen sehen, dem wir streitig gegenüberstehen. Aber dass Le Pen und auch die anderen Rechten versuchen, der jüdischen Gemeinschaft zu signalisieren: "Bei uns habt ihr den Schutz", ist absurd, weil sie alle auch ihren Erfolg auf weiteren Stereotypisierungen von Minderheiten, auch der jüdischen, aufbauen.

Manche meinen, es wäre antisemitisch, wenn nichtjüdische Schauspieler Juden spielen. Sehen Sie das auch so?
Ich bin nicht der Meinung, dass das der richtige Weg ist. Mir ist nicht wichtig, dass sie jüdische Menschen sind, sondern gute Schauspieler. Was ich allerdings nicht mag, ist, wenn nichtjüdische Schauspieler jiddeln wollen. Das sollen sie lassen, weil sie es nicht können.

Soll man Straßennamen, die nach Nationalsozialisten benannt sind, ändern? Was ist mit dem Lueger-Denkmal, das an den Wiener Bürgermeister erinnert, der Wegbereiter des Antisemitismus war?
Ich glaube, dass man viele Puzzleteile für ein Mosaik braucht, um am Ende das Gesamtbild zu erreichen. Wir sprachen davon, dass Menschen reagieren müssen, wenn jüdische Menschen angefeindet werden. Wir sprachen davon, dass Regierungen so etwas nicht auch noch befördern und befeuern sollten. Wir sprechen von Stolpersteinen, wir sprechen von der Umbenennung von Straßen, die nach Nazis benannt wurden. Oder welche Namen Schulen tragen sollten. Wir müssen dann aber auch den Schülerinnen und Schülern erklären, warum das geschieht. Wir sprachen über, ich sage es noch einmal ganz deutlich, Sprechkultur. Wir müssen begreifen, dass wir all diese Stereotypisierungen, die Hass und Gewalt hervorrufen, bekämpfen müssen, wenn wir uns Zivilisation nennen wollen. Wir müssen begreifen, dass ein Fußballspiel sofort abgebrochen werden muss, wenn ein schwarzer Spieler beleidigt wird. All das müssen wir üben. Momentan haben wir uns taub gestellt, aber ich bin sicher, dass Millionen Menschen, obwohl sie sich taub stellen, doch nicht in einem autoritären Staat leben wollen. Wenn wir alle wach werden, sind wir die Mehrheit.

Viele in Österreich sehen Kickl schon in der nächsten Regierung. Was tun?
Da kann ich nur sagen, die Wahlen sind noch nicht verloren. Jeden Tag kann man Prognosen ändern. Schauen Sie sich an, was bei Donald Tusk in Polen passiert ist. Er hat die Wahlen gewonnen, weil er Nichtwähler und Wähler mobilisiert hat, die demokratische Partei zu wählen. Das bedeutet, dass das Ergebnis der Umfragen, die den Rechten gute Chancen prognostizieren, nicht endgültig ist. Wir müssen dafür sorgen, dass die Wählerinnen und Wähler, die müde, vielleicht gleichgültig sind oder keine Partei finden, die sie wählen wollen, eine demokratische Partei wählen. Damit die autoritären Parteien, die immer mehr in dein Leben eingreifen werden, nicht gewinnen. Ich gebe noch nicht auf.

In Umfragen zur EU-Wahl führt derzeit die FPÖ, die SPÖ ist dritte.
Wenn die Österreicher nicht wissen, wessen Geistes Kind die FPÖ ist, eine Partei, die voller Hass ist, die hetzt und die die Gesellschaft spaltet, kann man ihnen nicht helfen.

Zwei Kriege in der Nähe, die extremen Rechten werden mehr, gibt es in diesen düsteren Zeiten etwas, das Ihnen Hoffnung gibt?
Sehr viel sogar: Der Krieg in Gaza hat bisher noch nicht dazu geführt, dass die arabischen Länder von Ägypten bis Jordanien, von Saudi-Arabien bis Katar und bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten einschreiten. Das hat Gründe: Viele dieser Länder wissen, dass der Iran nicht nur den Plan hat, Israel von der Weltkarte auszulöschen, sondern auch einige andere arabische Staaten. Die zweite Hoffnung betrifft jene Länder, in denen wir leben. Es ist zwar sehr spät, kurz vor Mitternacht, aber ich kann für Deutschland behaupten, dass mir die Situation, die wir seit zwei Wochen haben, Hoffnung macht.

Meinen Sie damit den Verlust, den die AfD bei den letzten Umfragen verbuchte? Das waren doch nur drei Prozent!
Das zeigt, dass die Menschen jetzt erkennen, dass die AfD es ernst meint. Man muss solche Parteien ernst nehmen. Sie meinen, was sie sagen, wenn sie Menschen nicht mehr als Menschen sehen und wenn sie einen autoritären und autokratischen Staat aufbauen wollen. Ich glaube, wenn der Impuls, der vor zwei, drei Wochen ausgelöst wurde, sich fortsetzt, wird er nicht wenige dazu veranlassen, sich bei den Wahlen so zu entscheiden, dass in Europa demokratische Parteien gewinnen. Das heißt, ich glaube nicht, dass sie es schaffen, die Demokratie abzuschaffen.

»Wenn die AfD in Deutschland auf Bundesebene regiert, verlasse ich das Land«

In Ihrem Buch "Judenhass" schreiben Sie, dass viele Juden daran denken, Deutschland zu verlassen. Haben Sie das auch vor?
Ich habe für mich beschlossen, wenn die AfD in Deutschland auf Bundesebene regiert, werde ich die Bundesrepublik Deutschland verlassen. Meine Eltern lebten im Ghetto, meine Mutter war in Auschwitz. Ich werde mir bei meiner Biografie nicht antun, dass ich in einem Land lebe, in dem eine AfD, die "Hitler als Vogelschiss der Geschichte" benannt hat und Judenhass zum Alltag macht, regiert. Für mich ist klar, dass ich dann keine Zukunft in Deutschland habe. Auch meine Menschenwürde würde mit Füßen getreten.

Buch "Judenhass" von Michel Friedman
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Das Buch
Die Deutschen haben ihr Versprechen, für die Juden da zu sein, wenn sie bedroht werden, gebrochen, konstatiert Michel Friedman in " Judenhass", seinem aufwühlenden Essay über den heute zusehends enthemmteren Antisemitismus. Berlin Verlag, € 12,40
Am 14. März präsentiert Friedman sein Buch im Akademietheater. www.burgtheater.at

Käme Österreich in Frage, wenn sich die Umfragen als unzutreffend erweisen?
Ein wunderschönes Land. Mit viel zu viel FPÖ. Wie weit man sich in Österreich daran gewöhnt hat, mit einer rassistischen und menschenverachtenden Partei zu leben und nicht genug dagegen zu kämpfen, muss jeder für sich entscheiden. Ich maße mir nicht an, das zu bewerten. Schauen wir nach Ungarn und Polen vor dieser Wahl, dort ist direkt der Rechtsstaat betroffen. Hier geht es sofort um die Freiheit der Kultur, der Presse: um die Grundlagen eines, wie ich finde, guten Lebens, das dann keines mehr ist. Die einzige Möglichkeit ist, demokratische Kräfte zu unterstützen, damit bei der nächsten Wahl in Deutschland die AfD und in Österreich die FPÖ keine Chance mehr hat, an die Regierung zu kommen. Oder man muss sich überlegen, in welchem Land man dann leben will.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 6/2024.