Der ORF-Strip und die Doppelmoral

Die Pflicht zum Transparenzbericht bietet dem ORF eine Chance zur Selbstreinigung und Schubumkehr. Er muss aus der Neiddebatten-Defensive in die Offenlegung-Offensive für alle öffentlichen Unternehmen gehen. Und die Regierung angreifen

von Medien & Menschen - Der ORF-Strip und die Doppelmoral © Bild: Gleissfoto

Die FPÖ hat es geschafft. Ihrem Wahlkampfthema Nr. 1 beschert ausgerechnet eine von ÖVP und Grünen beschlossene Gesetzesänderung den bestmöglichen Turbo: Der nun jeweils per 1. April fällige Transparenzbericht des ORF erregt seit Ostern die Nation. Denn er enthält eine Liste mit 62 Mitarbeitern, die mehr als 170.000 Euro brutto im Jahr verdienen. Drei davon gar mehr als der Bundeskanzler (328.000). Die Empörung verläuft seitdem so planmäßig wie das Öl ins Feuer durch einen Boulevard, der dann scheinheilig mitleidig von Drohungen gegen Topverdiener berichtet.

Die Regierung stellt mit der neuen Bestimmung eine kleine Gruppe von Medienmenschen an den Pranger einer unqualifizierten Öffentlichkeit. Denn diese wird sonst im Unklaren darüber gelassen, wie viel individuell im staatsnahen Bereich zu verdienen ist. Dass auch in Deutschland die Spitzen von ARD und ZDF mehr bekommen als der Kanzler, wirkt dabei kaum als Trost. Es verstärkt bloß Vorurteile gegen den Öffi-Rundfunk. Doch Österreichs Rechnungshof listet 25 (teil-)öffentliche Unternehmen auf, in denen mehr als 50 Vorstände und Geschäftsführer im Schnitt mehr Gage als Karl Nehammer beziehen. Georg Renner relativiert in seinem Newsletter „Einfach Politik“ für die digitale „Wiener Zeitung“ auch einen früheren Aufreger – die 93.000 Euro Durchschnittsverdienst im ORF. Er ist in zumindest 18 (teil-)öffentlichen Gesellschaften noch größer – vorzugsweise im Energiesektor. Bei Wels Strom oder Salzburg Netz liegt die mittlere Gage um 50 Prozent höher als auf dem Küniglberg.

Keiner dieser staatsnahen Betriebe ist verpflichtet, die Namen seiner Spitzenverdiener samt Bezügen zu veröffentlichen. Sie geben nur an, wie viel der Vorstand insgesamt erhält (das ORF-Direktorium im Schnitt weniger als der Kanzler). Die Namen dieser (großteils) Herren sind in der breiten Öffentlichkeit ohnehin so wenig bekannt wie die Hälfte der vom ORF geouteten Top-Bezieher. Die Diskussion über die Berechtigung der Gagen entzündet sich aber ausgerechnet an Stars wie Robert Kratky oder Armin Wolf. Sie könnten in anderen Unternehmen deutlich mehr verdienen. Bei einigen der weniger prominenten Spitzenverdiener sind hingegen Zweifel berechtigt, ob sie andernorts so viel wert wären.

Die öffentliche Diskussion sollte sich auf die Fragen konzentrieren: Sind die Gehälter für die jeweiligen Positionen gerechtfertigt? Größtenteils wohl ja, wiewohl es in manchen Bereichen keinen Markt gibt, der Vergleiche ermöglicht. Erfüllen die ausübenden Personen die Anforderungen ihrer Funktionen? Das Wissen für diese Einschätzungen ist für die meisten Top-Jobs nur betriebsintern vorhanden. Der ORF hätte dringenden Eigenhygiene-Bedarf, falls Ungeeignete Schlüsselstellen besetzen. In dieser Hinsicht aber mangelt es der Belegschaft an kritisch-solidarischem Selbstverständnis. Verhinderungen wie einst jene von Niko Pelinka vom SPÖ-Freundeskreisleiter zum Bürochef von Ex-General Alexander Wrabetz sind Ausnahme statt Regel. So fragwürdig die aktuelle Transparenzpflicht, so unterentwickelt ist der interne Transparenzwille. Die erschreckend geringe Zahl externer Bewerbungen für finanziell offenbar hochattraktive Aufgaben ist ein Indiz für die massive Abdichtung zu einer Black Box.

Generaldirektor Roland Weißmann hat recht, wenn er die aktuelle Diskussion als Neiddebatte sieht. Der Betriebsrat (von ihm steht Gerhard Berti auf der Topgagen-Liste) hat recht, wenn er gegen die Namensnennung bei Höchstgerichten vorgeht. Doch defensive Reaktionen sind nur die zweitbeste Möglichkeit. Armin Wolfs Interview mit ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker zeigte die größeren Chancen einer Offensive. Die „ZIB2“-Galionsfigur konfrontierte den Politiker mit fehlender Transparenz in eigener Sache. Denn bei 237 Millionen Euro Parteienförderung (80 davon für die ÖVP) darf das türkise Generalsgehalt wohl als öffentlich finanziert gelten. Aber jene, die den ORF zum Striptease zwingen, lassen selbst nicht die Hosen runter. Stockers Auftritt war eine Offenbarung von Doppelmoral.

Der ORF muss den Angriff auf ihn als Signal für den Angriff auf die Politik begreifen. Gegen eine Koalition, die kein Gesetz liefert, in dem die Parteien weniger Einfluss auf die Besetzung des Stiftungsrats haben – obwohl der Verfassungsgerichtshof die bisherige Regel per 1. April 2025 aufgehoben hat. Am Tag der nächsten Pflichtveröffentlichung der Gagen im ORF hätte seine Aufsicht dann keine legale Basis mehr. Eine Attacke kontra die säumige Regierung wäre keine Grenzüberschreitung, sondern Selbstverteidigung.

Um solch eine Offensive durchzuhalten, bräuchte es die rasante, selbstkritische Durchforstung aller Schwachpunkte der eigenen Struktur samt öffentlichem Aufzeigen von Lösungen. Dann würde auch eine Kampagne funktionieren, die Top-Gagen jeglicher öffentlicher Unternehmen namentlich offenzulegen. Das wäre ein Kulturbruch in, aber vor allem für Österreich. Und es könnte die Auferstehung eines Verhältnisses sein, das die Österreicher früher zu ihrem öffentlichen Rundfunk hatten: unser ORF.

Genug geträumt. Es ist viel wahrscheinlicher, dass die FPÖ mit ihrer Wahlkampagne gegen den ORF Erfolg hat und dieser als Rangiermasse in allen Koalitionsverhandlungen missbraucht wird. „DieRaffa“ brachte es auf X soeben unschlagbar treffsicher auf den Punkt: „Es passiert gerade zu viel Österreich.“