Die Macht der Kränkung

Gerichtspsychiater bricht ein Tabu und spricht über die Wurzel des Bösen

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Fakten - Die Macht der Kränkung

Der Vorarlberger Gerichtspsychiater Reinhard Haller blickte schon in die Seele des Frauenmörders Jack Unterweger. Jetzt hat er ein Buch über ein Tabuthema veröffentlicht – Kränkungen. Der Psychiater glaubt, dass der Germanwings-Absturz im vergangenen März die Tat eines Gekränkten war. Das Gleiche schreibt er Hitler und IS-Terroristen zu. Trotzdem habe eine Kränkung auch gute Seiten.

Gerichtspsychologe Haller
© Anton Santner | Standortleiter & Partner Gerichtspsychiater Reinhard Haller

Was ist Kränkung überhaupt?
Haller: Jeder weiß eigentlich, was eine Kränkung ist oder besser gesagt, jeder fühlt es. Es ist allerdings schwierig, sie zu beschreiben. Das ist bei vielen psychischen Erkrankungen so. Obwohl es bei uns allen eine enorme Rolle spielt, können wir es kaum in Worte fassen. Aber fest steht: der Mensch ist ein kränkbares Wesen und Kränkungen sind im Alltag, im partnerschaftlichen und beruflichen Bereich sehr stark vorhanden. Sie werden verdrängt, sie werden tabuisiert, sie werden nicht einmal richtig erkannt. Aber wenn Sie mich so fragen, dann würde ich sagen, eine Kränkung ist etwas, was uns im tiefsten Inneren trifft. Es ist eine nachhaltige Erschütterung unseres Selbst.

Warum ist Kränkung ein Tabuthema?
Weil der Mensch Kränkungen als etwas Weiches empfindet. Etwas, das nicht zu einer harten Persönlichkeit dazugehört. Etwas für Warmduscher und Weicheier. Etwas, das wie der Name schon sagt, kränklich oder krank macht. In unserer Gesellschaft verwenden wir aber lieber das Wort cool als Beschreibung. Wir sollen alle abgebrüht sein und drüberstehen. Die Wirklichkeit schaut aber ganz anders aus. Nämlich, dass der Mensch hinter dieser scheinbar kühlen Fassade ein extrem verletzliches und damit kränkbares Wesen ist.

Sie beschreiben im Buch, dass Kränkung die Wurzel allen Übels ist. Was haben IS-Terroristen mit Kränkungen zu tun?
Ich glaube, wenn man das genau betrachtet, dann stehen Kränkungen am Beginn allen Übels. Das beginnt schon mit dem Urverbrechen von Kain und Abel. Das zieht sich durch die ganze Geschichte hindurch. Sehr viele Kriege sind aus keinem anderen Grund entstanden als durch Kränkungen. Zum Beispiel der Erste Weltkrieg, auch der Zweite Weltkrieg ist im Wesentlichen aus der Demütigung heraus resultiert. Und auch der moderne Terrorismus hat sehr viel mit Kränkungen zu tun. Weil eben diese Täter häufig sehr enttäuschte, gekränkte Menschen sind. Die halt im Terrorismus hoffen, dass sie dort sehr mächtig werden. Also das Gegenteil von gekränkt. Und auch die Amokläufe sind klassische Reaktionen von gekränkten Menschen. Man hat hier ja gar keine anderen Gründe finden können, als tiefe Kränkungen. Sie sind auch der Hauptgrund für Trennungen, für Scheidungen. Kränkungen spielen am Arbeitsplatz eine Rolle, beim Mobbing. Mobbing ist ja nichts anderes als organisiertes Kränken. Was kränkt, macht krank. Viele psychosomatische Leiden, Depressionen, Angstzustände, Essstörungen werden ursprünglich durch Kränkungen ausgelöst.

Gerichtspsychologe Haller
© Anton Santner | Standortleiter & Partner

Kann eine Kränkung bei allen Menschen dazu führen, dass Sie gewalttätig werden?
Natürlich gehen alle Menschen mit Kränkungen anders um, aber dass der Mensch generell ein sehr kränkbares und kränkendes Wesen ist, das glaube ich, ist unbestritten. Aber manche Menschen können Kränkungen bewältigen, sie schöpfen daraus sogar eine gewisse Kraft. Künstlerische Menschen reagieren auf Kränkungen oft mit sehr kreativen Leistungen, die sie dann eben einsetzen, um ihre Gekränktheit zu überwinden.
Wenn man mit Kränkungen richtig umgehen kann, dann können sie Ansporn für positive Leistungen sein.

Wie kann man lernen mit einer Kränkung umzugehen?
Das ist ein schwieriges Unterfangen. Man muss erst mal die Kränkung erkennen. Häufig spielt sie sich unbewusst ab. Außerdem ist es wichtig, dass wir zu Kränkungen eine andere Einstellung bekommen. Sie weisen uns nämlich auf unsere sensiblen Stellen hin. Denn kränken kann mich ja nur etwas, das mich an einer weichen Stelle trifft. Und die kenne ich oft gar nicht. Aber die Kränkung zeigt mir, dass ich dort eine sensible Stelle habe. Also dient die Kränkung zur Selbstkenntnis. Es ist auch wichtig für die Fremdwahrnehmung. Es gibt ja Leute, die uns kränken, von denen wir das nie erwartet hätten. Sie zeigen uns dann ein anderes Bild des Menschen. Und das beinhaltet immer auch einen wahren Kern. Kränkungen können also ein Stück weit auch unsere Lehrmeister sein. Sie können zur Charakterbildung beitragen. Und was das allerwichtigste an einer Kränkung ist: sie fördern unser Einfühlungsvermögen. Der britische Physiker Stephen Hawking hat ja kürzlich gesagt: Von der Empathie wird das Überleben der Menschheit abhängen. Und durch was kann man das Einfühlungsvermögen besser schulen, als wenn man auf seine eigenen Kränkungen und die Kränkungsgrenze anderer ein wenig aufzupassen?

Zu Person: Reinhard Haller ist Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene, ein Behandlungszentrum für Suchtkranke in Vorarlberg. Als Gerichtspsychiater hat er immer wieder große Kriminalfälle begutachtet.

Buchcover Macht der Kränkungen
© Ecowin Verlag

Zum Buch:
"Die Macht der Kränkung"
Reinhard Haller
Hardcover: 248 Seiten
Österreich/Deutschland: 21,95 Euro
ISBN-13 978-3-7110-0078-1

Kommentare

Elcordes melden

Eine absolute Kapazität in seinem Fach. Ich kenne auch einige in Deutschland und Frankreich wie England und er gehört zu den Stars. Er trifft den Nagel auf den Kopf. Man sollte mal auch anmerken, dass viele Leute sich halt mal auch zurücknehmen sollten und weniger Kränkungen austeilen.

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Es ist doch so, dass jemand bereits etwas als Kränkung empfindet, worüber ein Anderer noch nicht mal nachdenkt. Ich glaube, hier ist unsere Eigenverantwortung gefragt. Ich glaube, wir sollen uns eben nicht ständig als "cool" darstellen, sondern durchaus zeigen, wann eine Grenze überschritten wurde.
Wahrscheinlich gibt es aber auch noch größere Zusammenhänge. Wir alle wollen in unseren Leben ->

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so etwas wie Macht verspüren können. Ich meine damit Macht über unser eigenes Leben. Je mehr uns davon jedoch z. B. vom Staat genommen wird und wir uns nicht dagegen wehren können, umso mehr steigt der Aggressionspegel.
Meiner Meinung nach ist dieser Pegel schon ziemlich hoch.

Der Herr hat sicherlich recht, das macht auf jeden Fall Sinn. Nebenbei sei noch zu erwähnen, dass Studien ergeben haben, dass Gewaltverbrecher, vor allem was Terrorismus, Massenschießereien usw. angeht, zumeist ein unerfülltes Sexualleben haben (hatten). Das ist wohl einer der wenigen Punkte in dem die Hippies recht hatten: make love, not war.

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