"Liebe hat nichts mit Verliebtheit zu tun"

Wenn die Schmetterlinge verflogen sind und der Alltag einkehrt, wenden sich verunsicherte Paare an den Berliner Paartherapeuten und Bestsellerautor Holger Kuntze. Ein Gespräch über Partnerschaft, Liebe - und warum Beziehungen auch ohne Verliebtheit funktionieren können.

von Paartherapeut - "Liebe hat nichts mit Verliebtheit zu tun" © Bild: Getty Images/ Westend61/ Uwe Umstätter

Herr Kuntze, Ihrem Buch "Lieben heißt wollen"* zufolge sind wir alle wahre Adrenalinjunkies, wenn es um die Liebe geht. Warum ist das so? Und wann wird das zum Beziehungskiller?
Weil Adrenalin ein lauter Botenstoff ist, der in die Systeme reinknallt und den wir evolutionär betrachtet deutlich spüren müssen, weil er ja ursprünglich dazu da war, uns auf drohende Gefahr hinzuweisen. Wir verwechseln Verliebtheit mit Gefahr. Ein Neurologe kann einen Menschen, der gerade einer extremen Gefahrensituation entkommen ist, und einen Verliebten aufgrund seiner Hirnaktivität nicht unterscheiden. Insofern ist diese Lust am Adrenalin eine Aufregung, eine spürbare Lebendigkeit, die von der Evolution so vorgesehen war. In einer Gesellschaft, in der ansonsten in vielen Bereichen eine gleichförmige Langeweile, zum Beispiel im Beruf oder eben auch in Beziehungen, herrscht, kann das zum Problem werden, da wir uns evolutionär betrachtet nach Aufregung sehnen. Gleichzeitig haben wir eine Werbeindustrie und eine Popkultur, die dieses Gefühl der Aufregung als gutes Gefühl schildert. Wir leben in einer Aufregungsfreizeitgesellschaft, in der Menschen Bungeejumping betreiben, um sich lebendig zu fühlen. Diese Gefühle und Emotionen werden also zunehmend positiv besetzt. Dieses evolutionäre innere Programm und der Umstand führen dazu, dass viele von uns sich nur mehr ausschließlich in der Verliebtheit in einer Lebendigkeit fühlen und das immer wieder haben wollen. Ich sage immer: Es gibt auch andere Möglichkeiten, sich lebendig zu fühlen.

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Sie schreiben über Paare, die aufgewühlt Ihre Praxis besuchen, weil nach einigen Jahren Beziehung die Schmetterlinge im Bauch verschwunden sind. Kann eine Beziehung überhaupt ohne Verliebtheit existieren? Ist Verliebtheit nicht vor allem am Anfang essenziell?
Ich spreche ja kein Plädoyer gegen die Verliebtheit aus. Verliebtheit ist wichtig und toll und ein Paar, das eine intensive Verliebtheit erlebt, hat die Chance, länger einen gemeinsamen Weg zu gehen. Viele Paare leben aber jenseits der Verliebtheit auch in langjährigen Beziehungen in einem positiven Zustand. Die Antwort ist also ganz klar: Ja, eine gute Beziehung ist auch nach der Verliebtheit erfüllend. Was mir aber deutlich auffällt, ist, dass der Glaube, dass es eine permanente Verliebtheit gäbe und bräuchte, stark zugenommen hat in den letzten 20 bis 30 Jahren. Historisch ist diese permanente Sucht nach Verliebtheit vielleicht die Antwort darauf, dass in früheren Generationen Liebe als Fundament einer Beziehung seltener Thema war. Liebe als positiver Zustand jenseits der Verliebtheit meine ich, in einer ruhigen, friedlichen Gelassenheit miteinander zu sein. In diesem Beziehungsstadium werden dann andere Botenstoffe, die Bindungshormone Serotonin und Oxytocin, relevant Und da diese, im Gegensatz zum Adrenalin, leise Botenstoffe sind, glauben dann viele Paare: "Es ist langweilig und irgendetwas stimmt nicht."

Kann das Gefühl von Verliebtheit irgendwann wiederkehren?
Die Idee, dass sich ein Paar immer wieder neue Inseln schafft, damit es wieder aufregend wird, ist gut und kann zu mehr Stabilität führen. Die anfängliche Verliebtheit ist auf Dauer aber nicht haltbar. Der Körper reguliert das runter. Das hat aber nichts mit der Qualität der Beziehung zu tun. In der Verliebtheit projizieren wir etwas auf den Anderen, das er nicht ist und auch nicht sein kann, und sind ständig in einem positiven Aufregungszustand, weil wir den Anderen noch nicht richtig kennen. Verliebtheit findet ja überhaupt deshalb statt, weil wir einander fremd sind. In diesem Übergangsstadium kommen die Paare dann häufig zu mir. Zwei individuelle Menschen können auch ein unterschiedliches Bedürfnis nach Verliebtheit haben. Es gibt Menschen, die sind in einem hohen Maße süchtig danach und wechseln als Resultat alle zwei Jahre die Partner. Es gibt Menschen, die sind wahnsinnig froh, wenn diese Phase der Verliebtheit endet. Die fühlen sich dann erst wieder richtig bei sich. Daran kann man auch arbeiten. Ich glaube an Kommunikation. Wenn man so etwas über sich selber weiß und darüber spricht, kann das viel Regulation in eine Beziehung bringen.

»Es gibt Menschen, die sind in hohem Maße süchtig nach Verliebtheit und wechseln als Resultat alle zwei Jahre die Partner«

Was kann man als Paar tun, wenn tiefgreifende Langeweile einkehrt und die Partner damit unzufrieden sind?
Dann muss man sich als Paar die Aufgabe stellen, Aufregung und Neues immer wieder zu integrieren, damit man sich als Paar wieder in einer Fremdheit begegnen kann. Wenn ein langjähriges Paar sich in Situationen der Fremdheit bringt und etwas tut, das es bislang noch nicht gemeinsam getan hat, wenn man den Anderen in dieser Fremdheit sieht, dann entsteht auf einer kleineren Ebene dieses Fremdheitsgefühl. Primär gilt: Nur, weil es anders wird, muss es nicht unbedingt schlecht werden. Das Fade, das Langweilige ist nicht Ausdruck einer schlechten Beziehungsqualität, sondern eines hohen Grades an Normalität.

Kurz- oder Langzeitbeziehung: Was macht denn nun glücklicher?
Moralische Konzepte greifen hier nicht pauschal. So will ich da nicht draufschauen. Mir geht es darum, dass man das weiß, sich darüber in eine eigene Bewusstheit führt und dazu Ja oder Nein sagt. Die einen sagen, sie sind froh über die Erkenntnis und können dadurch ihre langfristige Verbindung endlich genießen. Dann können sie endlich von der Lust an der Verliebtheit ablassen, weil sie bemerken, dass es sie nirgends hinführt. Die Anderen sagen: "Ist mir egal, ich will weiterhin diesen Trip." Die sind auf der Welt, um diese verrückte Lebendigkeit aufzusaugen.

Passend dazu: Die 5 Phasen der Liebe

Das klingt stark danach, als ob die Gesellschaft an einem falschen Verständnis von Beziehung und Liebe krankt. Welche Rolle spielt Social Media da?
Menschen haben sich schon immer über Kommunikation Gedanken gemacht. Wenn vor hunderten Jahren nur alle sechs Wochen ein Brief von dem oder der Liebsten kam, war die Möglichkeit, sich ständig Gedanken über die Beziehung zu machen, ganz einfach nicht gegeben. Was jetzt passiert, ist, dass durch die hohe Frequenz des Austausches durch soziale Medien Hirn, Herz und Emotionen anhaltend überfordert sind. Inklusive des Umstands, dass, wenn mal eine Stunde keine Nachricht kommt, wir uns darüber sofort Gedanken machen. Unser Gehirn und unser System sind damit komplett überfordert. Ebenso unsere Beziehungen.

Paare stehen gefühlt ständig unter Druck. Optimierungs- und Perfektionswahn haben längst auch unsere zwischenmenschlichen Beziehungen erreicht. Wie kann man als Paar den Druck rausnehmen, Stichwort Valentinstag?
Egal, ob zum Valentinstag, Geburtstag oder zu Weihnachten: Viele Paare diskutieren ständig darüber, ob es nun richtig oder falsch ist, diesem Tag so viel Bedeutung beizumessen, sich etwas zu schenken, romantisch zu sein. Es geht aber überhaupt nicht darum, was objektiv betrachtet nun richtig oder falsch ist.

»Langeweile ist nicht Ausdruck einer schlechten Beziehungsqualität, sondern eines hohen Grades an Normalität«

Geschenke zum Valentinstag, ja oder nein?
Keine Ahnung! Jedes Paar muss das für sich definieren, nicht darüber diskutieren. Ausdruck einer Liebe ist, einem anderen Menschen einen Wunsch zu erfüllen und nicht darüber zu diskutieren, ob das jetzt toll oder blöd, richtig oder falsch ist. Paare rutschen so schnell in Diskussionen darüber: "Ich liebe dich doch das ganze Jahr über und der Valentinstag ist nur eine kommerzielle Erfindung " Darum geht es in einer Liebesbeziehung nicht. Aber es geht darum: Kann ich den anderen Menschen in seinen Wünschen und Bedürfnissen akzeptieren und ihm selbstlos das geben, was er sich wünscht? Wenn ich das nicht möchte oder kann, dann muss ich das diesem Menschen so sagen: "So sehr ich dich auch liebe, ich kann oder möchte dir diesen Wunsch nicht erfüllen." Es ist sogar empirisch erwiesen, dass dieser Satz bindungsvertiefend wirkt. Denn damit stelle ich nicht den Standpunkt des anderen infrage. Der Andere darf der sein, der er ist. Womit Menschen aber nicht klarkommen, ist, wenn man darüber diskutieren muss, warum man sich dieses oder jenes wünscht. Der Andere hat dann das Gefühl, dass er eben nicht der sein darf, der er ist. Permanente Nichtanerkennung, Nichtraumgebung: Das zerstört die Liebe viel mehr als die ein oder andere Nichterfüllung eines Wunsches.

Würden Sie dieses Nichtanerkennen des Partners als das größte Gift für Beziehungen bezeichnen?
Das größte Gift in einer Beziehung ist der Glaube, dass man jede Differenz überwinden muss. Wenn Differenzen Anerkennung finden, zum Beispiel beim Thema Valentinstag, dann muss man sich nicht zwingend auf einen Kompromiss einigen. Es geht nicht um Kompromisse oder darum, ständig darüber reden zu wollen, damit man sich in der Mitte trifft. Das ist nicht nötig. Man muss es manchmal eben aushalten können und wollen, dass zwei Menschen unterschiedliche Dinge mögen. Es wäre Wahnsinn, alles in einen Konsens überführen zu wollen.

Warum machen das viele Menschen trotzdem? Auch, wenn es Wahnsinn ist?
Weil wir in einer Liebesbeziehung dieser freudianischen, regressiven Idee einer Verschmelzung hinterherrennen. Hier wollen wir in unseren kleinkindlichsten Erfahrungen abgeholt werden. Der kleinkindlichste Wunsch ist die Verschmelzung. Ich will mit dem anderen Menschen eins werden, damit ich möglichst wenig Schmerz spüre. Es auszuhalten, dass der Eine Ja und der Andere Nein sagt und wir trotzdem in Differenz in Liebe zueinanderstehen können, das können die wenigsten.

Zur Person

© Jakob Karutz

Der 1967 geborene Therapeut hat nach seinem Studium der Geistes- und Sozialwissenschaften in Berlin und New Orleans mehr als zehn Jahre in der Politikberatung und in der freien Wirtschaft gearbeitet. Zuletzt war er verlegerischer Geschäftsführer in einem internationalen Medienkonzern. Seit 2001 arbeitet er als Coach, Berater und Paartherapeut in Berlin. Seine Methodik orientiert sich an Carl Rogers, Milton Erickson, Steve de Shazer und Steven C. Hayes sowie an aktuellen Erkenntnissen aus der Hirn- und Bewusstseinsforschung.

Das Interview erschien ursprünglich im News 7/2020.