Wer falsch und wer richtig ist

Die ÖVP verheddert sich unter dem Einfluss schlechter alter Angewohnheiten in eine ebenso unselige wie unsinnige Werte-Debatte

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Es war in den mittleren 80er-Jahren. Der kleine Lebensmittelhändler ums Eck war noch gut im Geschäft und, Jahre vor dem Supermarkt-Boom, tatsächlich der Ort, an dem man Brot, Wurst, Milch für den alltäglichen Gebrauch einkaufte. Ein schöner Ort voller angenehmer Kindheitserinnerungen, bis auf den einen Tag, an dem die Wursttheken-Fachkraft lautstark bemängelte, dass man die Wurstsemmel-Bestellung nicht in ausreichend ausgeprägtem Dialekt vorgetragen habe. „Bist du aus Deitschlond, oda wos?“ Das war, lange bevor es modern wurde, zu klingen, als habe man sein halbes Leben in Hamburg verbracht, eine sehr effiziente Art, ein österreichisches Kind zu beschämen. Eigentliche Botschaft: Du sprichst komisch und gehörst nicht dazu.

Der Grund, warum diese kleine – nicht ansatzweise an die Ausgrenzungserfahrung zugewanderter oder aus anderen Gründen diskriminierter Personen heranreichende – Geschichte ausgerechnet dieser Tage aus den trüben Wässern des Vergessens auftaucht: Die Parallelen zwischen der Argumentation der Wurstverkäuferin und den Versuchen der ÖVP, eine Leitkultur zu definieren, die sich über Ausgrenzung und Beschämung bestimmt. Entweder du bist genauso wie wir, oder du bist falsch. Entweder du sprichst Dialekt, oder du bist falsch. Maibaum, oder falsch. Schweinsschnitzel, oder falsch. Ein Mantra, das nicht nur völlig ungeeignet ist, die gesellschaftliche Realität der Gegenwart abzubilden, sondern in dem auch entsetzliche historische Erinnerungen nachhallen. Dürfte man von einer staatstragenden Partei, die beflissentlich für sich in Anspruch nimmt, aus der Vergangenheit gelernt zu haben, dafür nicht mehr Sensibilität erwarten?

»Kurz-Apologeten, die flotte Memes im Internet verbreiten, wollen nichts lösen, sondern recht haben«

Ein Teil dieser Partei ist offenbar immer noch im Sebastian-Kurz-Modus. Teilen und spalten, das konnte der notorisch geschichtsvergessene frühere ÖVP-Chef besonders gut. Stadt gegen Land. In- gegen Ausländer. Zwietracht säen, um politisch davon zu profitieren. Aber diese Zeiten sind vorbei. Kurz ist nicht zuvorderst an den raffinierten Machenschaften des politischen Mitbewerbs gescheitert, falls das noch irgendjemand glauben sollte, sondern an der eigenen Hybris. Seine Art, Politik zu machen, gehört der Vergangenheit an. Das zeigt auch das mangelnde Interesse an der unsäglichen Leitkultur-Kampagne: Viele Menschen haben offensichtlich keine Lust mehr auf zynischen Spiele zwecks Machterhalts.

Sie wollen Lösungen. Die hatte Kurz allerdings nie parat. Und auch seine Apologeten, die flotte „Tradition statt Multikulti“-Memes im Internet verbreiten, wollen nichts lösen, sondern recht haben, und sich über jene erheben, die sie in Wahrheit verachten. So wird ein wichtiges Zukunftsthema verhöhnt. Denn reden müsste man darüber, aber mit echtem Interessen aneinander und einem konstruktiven Ausgang des Gesprächs: Was erwarten wir von den Menschen, die nach Österreich kommen, und was sind wir bereit, ihnen zu bieten? Welche Regeln sind unbedingt einzuhalten und wie setzen wir diese Einhaltung durch? Solange die Kanzlerpartei unter dem Einfluss des Kurz’schen Populismus steht, finden solche Debatten nicht statt. Schade. Auch für sie selbst: Die Mitte, die sich laut Umfragen gerade von der ÖVP abwendet, wäre an einer ernsthaften Debatte womöglich mehr interessiert als an billigen Sprüchen.

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