Die gefeierten Märtyrer von Kobane

Kurden beweinen ihre Toten. Wut gegen die AKP-Regierung wächst mit jedem Opfer.

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Kampf gegen IS - Die gefeierten Märtyrer von Kobane

Verschleierte Frauen tragen die Särge der weiblichen Toten. Sie schnalzen mit ihren Zungen und weinen. Die Männer schultern die in Fahnen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gehüllten Särge der männlichen Leichen. Stumm gehen sie durch die Menge zu den frischen Gräbern. Die in weiße Tücher gehüllten Körper werden aus den Särgen geholt und in die Erdlöcher heruntergelassen. Hunderte Kurden stehen auf dem sandigen Friedhof, Flaggen mit dem Konterfei des inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan werden geschwenkt. Die Menschen rufen auf Kurmandschi, einem kurdischen Dialekt, "Kobane, halte durch!" und "Sehit" - "Märtyrer".

"Tote sind für mich wie meine Kinder"

Am Sonntag Nachmittag wurden in Suruc, in der türkischen Provinz Sanliurfa, acht Tote aus der syrischen Stadt Kobane beigesetzt. Niemand weiß, wie die Verstorbenen heißen oder ob irgendwo jemand auf sie wartet. Sie sind alle im Kampf gegen die Miliz "Islamischer Staat" (IS) umgekommen. Es waren syrische Kurden - das ist es, was hier zählt. "Die Toten sind für mich wie meine Kinder", sagt eine ältere Frau weinend.

Die 60.000-Einwohner-Stadt Suruc liegt etwa zehn Kilometer von der türkisch-syrischen Grenze entfernt, direkt dahinter befindet sich die nordsyrische Stadt Kobane. Seit mehr als drei Wochen ist die Grenzregion im Ausnahmezustand. Die Terrormiliz hat trotz heftiger kurdischer Gegenwehr und von den USA angeführten Luftangriffen weitere Viertel der Stadt Kobane erobert. Der arabischsprachige Nachrichtensender Al-Arabiya veröffentlicht täglich Bilder, wie IS-Milizen immer weiter in Kobane eindringen.

Leichentransporte nach Suruc

Falls möglich, dann werden die Toten aus Kobane nach Suruc transportiert. Wegen des Chaos haben die Menschen in Kobane keine Gelegenheit, die Verstorbenen in ihrer Stadt beizusetzen. Die Leichen werden an die türkische Grenze geschafft, wo sie von der Ambulanz abgeholt und von den Kurden als Märtyrer umjubelt beigesetzt werden. Fast jeden Tag werden neue Gräber ausgehoben.

Auf dem Friedhof in Suruc schüttet ein Bagger die Gräber zu. Junge Männer in Pluderhosen und olivgrünen Overalls, der Uniform, die auch PKK-Kämpfer tragen, schreien "Kobane wird zum Grab für den IS". Die Frauen tragen Ketten mit Öcalan-Bildern. Sie schnalzen mit ihren Zungen, so zeigen sie ihren Respekt vor den als Märtyrern Verstorbenen.

"Kobane wird nicht fallen"

Eine junge Frau hat ihr Gesicht mit einem Tuch in den Farben der kurdischen Flagge, rot, weiß und grün, vermummt. Sie ist aus Dersim angereist, um "meinen syrischen Brüdern und Schwestern" Beistand zu leisten. "Die Türkei freut sich doch darüber, dass die Islamisten uns Kurden in Syrien ermorden", sagt sie und schiebt hinterher: "Aber Kobane wird nicht fallen, das werden wir nicht zulassen. Bevor Kobane fällt, werden wir alle sterben. Wir lassen unsere Leute nicht im Stich."

Die Wut von den Kurden in der Türkei wächst. Denn mit dem Verlust Kobanes und der umliegenden Region könnten die syrischen Kurden ihre in den Wirren des syrischen Bürgerkriegs errungene Selbstverwaltung wieder einbüßen. Eine Horrorvorstellung für die Kurden, nationalistischen Türken wäre das willkommen. So twitterte der Istanbuler AKP-Abgeordnete Ismail Safi, der "barbarische" Ton kurdischer Politiker, die zu Regierungsprotesten aufriefen, werde "am besten vom IS verstanden".

Laufend Zusammenstöße

In Suruc kam es in den vergangenen Nächten immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Kurden und Sicherheitsbeamten, die Demonstranten wurden mit Tränengas und Wasserwerfern von Polizisten davongejagt. Suruc ist in kurdischer Hand, die Bürgermeisterin wird von der kurdischen BDP-Partei gestellt. Vor drei Tagen wurden an der Grenze 300 türkische Kurden festgenommen, die ihren syrischen Brüdern und Schwestern in Kobane beistehen wollten. Ramazan Pekgöz, Sprecher der BDP in Suruc, berichtete, die Festgenommenen seien in einer Schule untergebracht worden, wo sie verhört werden. "Ankara macht alles Mögliche, um die Kurden zu schwächen", sagt er. "Sie wollen uns tot sehen."

Auf dem Friedhof rennen zwei Kinder herum. Die Buben sind Freunde, 15 und 12 Jahre alt, kurdische Flüchtlinge aus Syrien. In Damaskus besuchten sie eine Schule, in Suruc arbeiten sie in einem Restaurant. Sie albern herum, schubsen sich gegenseitig und erzählen, dass sie vor dem Bürgerkrieg Lehrer und Arzt werden wollten. Und was wollt ihr jetzt? "Ich will zur YPG, ich will kämpfen, ich will als Märtyrer sterben", antwortet der Ältere. YPG sind die kurdischen Volkseinheiten, die Kobane gegen den IS verteidigen.

"Ich will sterben"

Ober er nicht erwachsen werden wolle, vielleicht irgendwann wieder zurück nach Hause mag? "Ich werde Damaskus niemals vergessen, aber Damaskus gibt es nicht mehr", sagt er. Aber er sei doch noch viel zu jung, um zu sterben. Er zögert, und sagt dann: "Ich will sterben." Der Jüngere stimmt ihm zu: "Ich will kein Doktor mehr werden, ich will zur YPG und sterben."

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