Buch für die Enkelkinder

Chilenische Bestsellerautorin über ihr Buch, Verlust, Chile, Obama und ihren Siebziger

von
Isabel Allende - Buch für die Enkelkinder

Zum 70. Geburtstag am 2. August bringt Isabel Allende ein Meisterwerk mit vielen Lebensthemen: "Mayas Tagebuch“ (ab 2. 8., Suhrkamp)handelt von Gefährdung, Identitätssuche und Selbstfindung der heutigen Jugend. Das 2009 angesiedelte, aus der Sicht der Protagonistin erzählte Werk zählt zum Bewegendsten der chilenischen Bestsellerautorin (Weltauflage: 57 Millionen).

Wie Maya verschwand Allendes drogenabhängige Stieftochter Jennifer spurlos. Anders als im Roman aber musste sich ihre Familie von der Hoffnung auf ein Wiedersehen verabschieden (nachzulesen in Allendes Autobiografie "Das Siegel der Tage“). "Mayas Tagebuch“ thematisiert auch Chiles düstere Vergangenheit. Einundzwanzig Bücher oft politischen Inhalts hat die Nichte des in der Pinochet-Diktatur ermordeten Präsidenten Salvador Allende verfasst. 1992 starb ihre Tochter an den Folgen einer Stoffwechselerkrankung, woraus sie den bewegenden Roman "Paula“ generierte. Seit 1989 lebt sie im kalifornischen Exil.

NEWS: Ihre drogenabhängige Stieftochter verschwand auf tragische Weise. Wie schwierig war es, einen Roman über dieses Thema zu schreiben?
Isabel Allende: Meine Stieftochter führte ein elendes Leben und starb an Drogenmissbrauch. Ich habe die Folgen der Sucht aus nächster Nähe miterlebt. Für "Mayas Tagebuch“ musste ich nicht viel recherchieren, weil ich die Informationen aus erster Hand hatte. Meine Familie hat die Drogenproblematik jahrelang miterlebt. Drogensüchtige leben meistens nicht lang. Entweder sie hören auf, oder sie sterben. Aber mithilfe einer Rehab lernen viele junge Leute, ihre Sucht zu kontrollieren und ein neues Leben zu beginnen. Maya hatte Glück: Sie hatte ihre Großeltern, die sie liebten, sie erhielt in ihrer Kindheit Struktur, Fürsorge und Liebe. Sie verbrachte nur kurze Zeit in Las Vegas, war bereit, ihre Sucht behandeln zu lassen, und landete in Chiloé, wo ihr Manuel, ein paar Freunde und die Dorfbewohner halfen.

NEWS: Ihr Buch ist Ihren Enkelkindern gewidmet.
Allende: Als ich es schrieb, fragte ich meine Enkel oft um Rat. Sie halfen mir, mir Maya als wirkliche Person vorzustellen, als Teenager wie sie. Ich lerne permanent von ihnen, sie sind stolz darauf, ihrer alten Großmutter etwas beizubringen. Diese Kinder sind viel besser informiert, als ich es je sein werde. Sie glauben, dass ich geistig gehandicapt, technisch minderbemittelt und die schlechteste Autofahrerin der Welt bin - sie steigen nie bei mir ein. Deshalb erinnere ich sie, dass ich weiser bin. Auch wenn sie vielleicht klüger sind.

NEWS: In Chiloé findet Maya wieder zu sich selbst. Wie können wir im lauten Westen zu einem authentischen, einfachen Leben zurückfinden?
Allende: Obwohl Chiloé magisch scheint, ist es kein Paradies. Es gibt dort Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Armut, Inzest, Einsamkeit und viele andere Probleme. Aber es hat noch immer den Charme alter ländlicher Gemeinschaften, wo das Leben einfach ist und, wie Maya es sagt, „wir Zeit haben, unsere Gedanken zu Ende zu denken“. In den westlichen modernen Gesellschaften ist es zu laut, jeder ist in Eile, niemand hat Zeit etwas zu reflektieren oder zu honorieren, wir springen von einer Reizsituation zur nächsten. Es ist fast unmöglich, ein authentisches und spirituelles Leben zu führen, sofern wir unseren Lebensstil nicht radikal ändern. Aber sehr wenige Menschen verspüren das Bedürfnis danach, vor allem die jungen nicht, die alles erleben wollen. Im Buch erzählt Maya dem alten Manuel einmal, dass sie sich in Chiloé niederlassen will, sie möchte ihren Freund davon überzeugen, dorthin zu übersiedeln, zu heiraten und mehrere Kinder dort zu bekommen. Manuel antwortet ihr: „Ihr zwei würdet Euch auf dieser schroffen Insel zu Tode langweilen, Maya. Außenstehende, die sich hierher zurückziehen, sind enttäuscht von der Welt. Niemand kommt hierher, ehe er nicht begonnen hat zu leben.“

NEWS: Ihr Mann und Sie haben beide ihre Töchter verloren. Was gab Ihnen die Kraft, diese Verluste zu überwinden, beieinander zu bleiben?
Allende: Liebe und Therapie. Wir mögen und lieben einander, aber wir haben Probleme, wie die meisten Paare sie haben. Und es gab wirklich belastende Zeiten in unserem Leben. Wenn wir verzweifelt waren, haben wir uns Hilfe gesucht. Die Therapie hat unsere Ehe mehr als einmal gerettet.

NEWS: Und unsere Kinder sind heute gefährdeter denn je.
Allende: Es ist schwer, unsere Kinder heute zu schützen. Sie sind allem ausgesetzt: Alkohol, Drogen, Gewalt, Pornografie usw. Aber sie sind auch vernetzt und informiert, sie sind viel klüger, und sie wissen viel mehr als die meisten ihrer Eltern oder Großeltern in ihrem Alter. Als Eltern können wir ihnen Grenzen setzen und Liebe geben, wenn sie aufwachsen, und ein Zuhause, in dem sie sich sicher fühlen. Der Rest liegt leider nicht in unserer Hand.

Ich meditiere jeden Morgen.

NEWS: Wie leben Sie Ihre Spiritualität?
Allende: Meine Spiritualität ist simpel: Liebe und Natur. Ich gehöre keiner organisierten Religion an. Ich meditiere jeden Morgen und ich praktiziere Dankbarkeit und Dienst am Nächsten.

NEWS: Wie wichtig sind Frauen in Ihrem Leben?
Allende: Sehr. Abgesehen von meinem Mann sind die mir nächsten Menschen meine Mutter und Lori, meine Schwiegertochter. Juliette und Sarah, zwei wunderbare junge Frauen, die mit mir arbeiten, sind wie Töchter für mich. Ich habe meine "Schwestern vom immerwährenden Durcheinander“ - eine Gruppe von sechs älteren Frauen, die sich regelmäßig treffen, um sich auszutauschen - und mehrere andere Freundinnen. Ich habe eine Stiftung, die Frauen und Mädchen unterstützt, weil ich glaube, dass weibliche Energie die Welt zum Besseren verändern kann. Und natürlich begleitet mich immer Paulas Geist. Meine Mutter ist 91 und gerade bei mir in Kalifornien. Die Reise aus Chile dauert von Tür zu Tür zweiundzwanzig Stunden, und sie hat sie gemacht. Sie ist hell, charmant, gesund, stark, immer noch kokett und eitel. Sie malt wunderschön und schreibt mir jeden Tag.

NEWS: Ihre 1992 verstorbene Tochter ist immer noch sehr präsent in Ihrem Leben?
Allende: Paula ist immer präsent in meinem Leben. Fotos meiner Tochter sind überall in meinem Haus und Büro. Meine Leser erinnern mich immer an sie in ihren E-Mails und Briefen. Ich träume von ihr und ertappe mich oft, wie ich laut mit ihr rede wie eine Verrückte. Die Stiftung, die zu ihrem Andenken gegründet wurde, erinnert mich permanent an ihren Platz in meinem Herzen. Aufgabe der Stiftung ist es, Frauen und Kindern in Bildungs-, Sicherheits- und Gesundheitsbelangen, Verhütung inklusive, zu helfen. Wir unterstützen Programme an vielen Orten der Welt, immer für die schwächsten Gruppen (Infos: www.isabelallendefoundation.org ; Anm. d. Red.).

NEWS: In Österreich verdienen Frauen immer noch weit weniger als ihre männlichen Kollegen. Alleinerziehende Mütter sind die ersten, die unter die Armutsgrenze fallen.
Allende: Frauen können ihre Rechte sehr leicht verlieren. In den U.S.A. demontieren die konservativen Politiker fundamentale Rechte wie Verhütung und Abtreibung. Es ist sehr wichtig für Frauen, informiert und vernetzt zu sein, denn sie sind nur mächtig, wenn sie vereinigt sind. Junge Frauen heute nehmen die Rechte, die sich ihre Mütter und Großmütter mit viel Kampf und Leiden erarbeitet haben, als selbstverständlich. Sie nennen sich nicht Feministinnen, weil es nicht sexy ist, und sorgen sich nicht sonderlich um die Frauen im Rest der Welt, die missbraucht und ausgebeutet werden.

NEWS: Stimmen Sie für Obama?
Allende: Ich bin ein wenig enttäuscht von ihm. Als Kandidat war er außergewöhnlich, er rüttelte die meisten Leute in diesem Land und der Welt auf. Als Präsident wurde er den Erwartungen nicht gerecht. Aber ich unterstütze ihn trotzdem und hoffe, er wird wiedergewählt.

NEWS: Werden Bücher durch das Internet überflüssig?
Allende: Junge Leute lesen am Bildschirm, entweder auf Kindle, iPad oder welches Gerät auch immer die neue Technologie gerade erschafft. Aber Literatur und Geschichtenerzählen haben immer noch einen Platz in der Welt und werden ihn auch immer haben. Die Dinge verändern sich, und wir müssen uns anpassen. Heute müssen die Kinder nicht mehr Daten und Fakten auswendig lernen, multiplizieren, chemische Symbole lernen usw., denn sie können all das in einer Sekunde in ihren Computern finden. Das heißt nicht, dass Geschichte, Wissenschaft oder Mathematik ausgedient haben, sondern dass mehr Menschen Zugang zu ihnen haben und das menschliche Gehirn frei ist, um kreativer zu sein. Vielleicht wird es bald einen Chip geben, der in die Haut implantiert wird, und wir werden beim Schlafen lesen können … und vielleicht werden Bücher dann rare Objekte sein, die nur mehr in Bibliotheken aufbewahrt werden. Ich heiße alle diese Innovationen willkommen und habe keine Angst um die Literatur. Ich lese selbst viel, auch auf iPad, und höre in meinem Auto Audio-Books.

NEWS: In Chile wurde kürzlich ein Kinofilm gezeigt, der Pinochet glorifizierte.
Allende: Trotz all der Schrecken des Zweiten Weltkrieges gibt es heute Neonazi-Bewegungen und Leute, die diese Greueltaten rechtfertigen oder negieren. Genauso gibt es in Chile Menschen, die Pinochet verteidigen oder sich ein neues Militärregime wünschen. Und wir haben auch eine große Anzahl von Leuten, die es vorziehen, die Vergangenheit zu ignorieren.

NEWS: Pinochet starb unbelangt. Ist Vergeben unter diesen Umständen möglich?
Allende: Nur die Opfer können das beantworten, denn Vergeben ist etwas sehr Persönliches. Manche können ihr Leben weiterleben, andere bleiben für immer in den erlittenen Traumata stecken. Das Land muss sich auf die Zukunft konzentrieren, aber es muss sich auch die Vergangenheit anschauen.

NEWS: Was gab Ihnen Kraft?
Allende: Ich bin nicht verbittert. Mein Leben war interessant, ich litt und erlitt Verluste wie jeder andere auch. Und ich erfuhr auch Liebe und Freude. Das Exil machte mich stärker und flexibler. Es machte mich auch zur Autorin.

NEWS: Wenn Sie zurückschauen: Was war das Wichtigste, das in Ihrem Leben passierte?
Allende: Meine Kinder, Liebe und Schreiben.

NEWS: Und der bevorstehende 70. Geburtstag?
Allende: Siebzig zu werden bereitet mir keine Probleme. Ich bin physisch gesund und voll Energie. Im Geist fühle ich mich wie fünfzig. Emotional bin ich immer noch verliebt. Und die Seele ist zeitlos - was gibt es also zu fürchten?

NEWS: Bleiben noch Wünsche?
Allende: Ich wünsche mir, bis ans Ende meiner Tage auf dieser Welt weiter schreiben zu können.