Heinz Faßmann: "Die Krise darf nicht zu Lasten der Lernschwächeren gehen"

Bildungsminister Heinz Faßmann ist sich sicher, dass die Schulen am 7. Dezember wieder öffnen. Und er erklärt, wie das Lernen danach funktionieren wird

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Interview - Heinz Faßmann: "Die Krise darf nicht zu Lasten der Lernschwächeren gehen" © Bild: Ricardo Herrgott

Anm.: Das Interview stammt ursprünglich aus der News Ausgabe Nr.47/20 und wurde geführt, bevor die Information bekannt wurde, dass die Zentralmatura auf den 20.Mai 2021 verschoben wird.

News: Der Druck auf Sie und die Regierung, die Schulen offen zu lassen, war jetzt viel größer als beim Lockdown im Frühjahr. Wieso dieser Wandel?
Heinz Faßmann:
Das hängt natürlich mit dieser Pandemie-Müdigkeit zusammen. Viele möchten davon gar nichts mehr hören. Daher akzeptiert man auch nicht mehr alle Maßnahmen.

In manchen Schulen soll es derzeit bis zu 80 Prozent Anwesenheit geben, vor allem bei den jüngeren Kindern. Teilweise wurden die Eltern aktiv aufgerufen, die Kinder zu bringen. Ist das in Ihrem Sinne?
Gemessen an den rund 5.000 Pflichtschulen ist das aber nur ein ganz kleiner Anteil. Wir sehen an den erhobenen Zahlen, dass nur rund 15 Prozent der Kinder in die Schule kommen. Im Sinne des Ganzen wäre es nicht, wenn alle ihre Kinder in die Schule schicken. Wir machen das ja zur Infektionsbekämpfung. Dazu müssen wir Kinder und Jugendliche aus dem öffentlichen Raum herausnehmen und die Zahl der Kontakte reduzieren. Das sollte man nicht konterkarieren.

Es würde das Gesamtziel, die Corona-Infektionszahlen zu reduzieren, gefährden?
Wenn wir alle so tun, als ob wir Normalität hätten in einer Zeit, die alles andere als normal ist, dann wäre das tatsächlich eine Konterkarierung unserer Ziele.

»Wenn wir nach der Wiedereröffnung den Weg in den dritten Lockdown gehen, ist nichts erreicht worden«

Ab dem 7. Dezember soll es wieder Präsenzunterricht für alle in den Schulen geben. Wie sicher sind Sie, dass das tatsächlich so sein wird?
Ich habe eine hohe Sicherheit, dass wir das so machen werden. Die Diskussion der letzten Tage und Wochen hat ja letztlich eines gezeigt: wie groß die Bedeutung der Schule aus der Sicht der Bevölkerung ist. Das Senken der hohen Zahlen in der Pandemie ist eine Notwendigkeit, aber dann müssen wir die Schule wieder in ihre volle Funktionalität bringen. Das darf nicht nach der Eröffnung des Handels sein, sondern mit der Eröffnung des Handels. Das ist ein Erfolg der Diskussion der letzten Tage.

Wenn die Zahlen nicht wie erhofft sinken, sperren aber weder Schulen noch Handel auf. Diesen Worst Case kann man nicht ausschließen.
In Zeiten großer Unsicherheit kann man keinen Worst Case ausschließen. Aber ich habe mir jene Staaten angesehen, die einen harten Lockdown gemacht haben, und alle haben ein deutliches Absinken der Infektionszahlen gezeigt. Es wäre also sehr verwunderlich, wenn das in Österreich nicht klappen würde.

Dass Baumärkte vor Schulen öffnen...
...wird es nicht mehr geben.

Wenn man also irgendetwas Positives an der Situation finden will, dann die Tatsache, dass sehr viele Menschen nach dem Homeschooling im Frühjahr erkannt haben, wie schwierig es ist, Kindern Wissen zu vermitteln, und wie wichtig Schulen sind?
Ich sehe das genau so. Wir haben ja meist bildungspolitische Diskussionen, wo die Kritik im Vordergrund steht. Nun diskutieren wir über den Mehrwert der Schule und des Bildungssystems. Das halte ich für gar nicht schlecht.

Konnten Sie diese Stimmung nützen, wenn es um Geld fürs Bildungssystem geht?
Die Budgetverhandlungen sind abgeschlossen, und ich muss sagen, das Bildungsbudget steigt dabei gut aus.

Zurück zum 7. Dezember: Was wird für Kinder und Lehrende anders sein, wenn sie an diesem Tag in die Schule kommen?
Wir müssen sicher mit einer anderen Einstellung und einem anderen Bewusstsein hineingehen. Nämlich danach zu trachten, einen Wiederanstieg der Infektionszahlen zu vermeiden. Wenn wir nach der Wiedereröffnung den Weg in den dritten Lockdown gehen, ist nichts erreicht worden. Das heißt zunächst: verstärktes Tragen des Mund-Nasen- Schutzes, das hat sich als wesentliche Infektionsbremse herausgestellt. Wir prüfen aber auch noch andere Maßnahmen. Eine Ausdünnung der Klassen steht zur Diskussion. Wir müssen letztlich zu einer "virusrobusten" Schule kommen. Einer Schule, die mit Infektionen umgehen kann.

Und zwar wie?
Zum Beispiel schnelle Antigentests in der Schule, damit man weiß, ob ein Kind oder eine Lehrperson einen ganz normalen Schnupfen hat oder einen, der mit Covid im Zusammenhang steht.

Sobald ein Kind oder ein Lehrender sich nicht gut fühlt, kommt ein Testteam ins Haus?
Dort müssen wir hinkommen: schnell anlassbezogen testen. Das meine ich mit virusrobuster Schule: nicht alle gleich nach Hause schicken, sondern vor Ort testen. In Wien haben wir bei solchen Verdachtsfällen schon fast 6.000 Schülerinnen und Schüler getestet. In den meisten Fällen ist es Gott sei Dank sowieso Fehlalarm. Und natürlich: kranke Kinder gar nicht erst in die Schule schicken. Das habe ich ja schon mehrfach betont.

Solche Schnelltests kann man bundesweit an den Schulen durchführen?
Das ist eine Herausforderung, aber daran arbeiten wir. Wir sehen durchaus Chancen, das flächendeckend durchzuführen. Das wäre wichtig, denn am 7. Dezember werden wir das Sars-Virus nicht begraben haben, sondern es wird weiter in der Gesellschaft sein.

Viele Lehrende sagen, mit Mund-Nasen-Schutz vor 30 Kindern zu stehen und vor dem Fenster ist womöglich noch eine Baustelle, das geht nicht gut. Klassen teilen wäre besser. Können Schulen das künftig autonom entscheiden? Oder Klassen im Homeschooling lassen, wenn die damit gut umgehen können?
Bei den unter 14-Jährigen gebe ich zu bedenken, dass das zu einer Betreuungsproblematik führt. Bei den Oberstufen ist so ein Modell durchaus ins Auge zu fassen. Zur Maske sage ich: Aus diesem Grund war ich auch nie einer, der gesagt hat, hurra, mit Maske in die Schule, und die ist dort sechs bis acht Stunden zu tragen. Aber natürlich ist mir jedes gelindere Mittel recht, damit wir eine funktionsfähige Schule haben.

Man hört von Klassen an höheren Schulen, die Homeschooling freiwillig bis Weihnachten fortsetzen möchten, weil sie sich da sicherer fühlen.
Wir haben für Schülerinnen und Schüler, die sich sehr unsicher fühlen, eine Ausnahmeregelung geschaffen. Sie gelten mit einem entsprechenden Attest als entschuldigt. Aber was ganze Klassen betrifft: Ich möchte sie nicht so locker zur Gänze ins Distance Learning entlassen. Präsenzunterricht mit direkter Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, wo Fehlerkorrektur auch unmittelbar erfolgt, ist schon eine wichtige Komponente der Schule. Aber wir werden für die Oberstufen da sicher andere Regelungen treffen als für die Unterstufen und Volksschulen.

Aber es ist noch nicht fix entschieden?
Es wird noch eine konzeptive Antwort geben. Und bei manchen Dingen, die in der öffentlichen Diskussion herumschwirren, muss man berücksichtigen, dass wir hier am Minoritenplatz dafür gar nicht zuständig sind.

Zum Beispiel?
Die Anmietung von zusätzlichen Räumlichkeiten muss bei den Pflichtschulen von den Gemeinden gemacht werden, die sind die Schulerhalter. 5.000 der rund 5.800 Schulen sind Pflichtschulen.

Städte und Gemeinden hätten sich darum schon kümmern sollen?
Wir sind im Gespräch mit dem Gemeindebund, um das zu initiieren. Ich will nur sagen: Manchmal hört man, was wir alles zu tun hätten, bis hin zu CO2-Messgeräten an den Schulen, und wir haben gar nicht die Kompetenzen dafür.

Lässt in der Krise auch manchmal der Hausverstand nach? Regelmäßig lüften kann man ja auch, ohne dass vorher ein Messgerät piept, das der Staat bereitstellt.
Ich würde sagen, das gehört zum österreichischen Duktus dazu, zu einer gewissen Form eines starken Staates, der viel tut. Das ist anders als in anderen Staaten Europas, wo sehr viel mehr von den Kommunen gemacht wird und sehr viel mehr in Eigenverantwortung steht.

Viele Eltern und Schüler machen sich Sorgen um die Matura. Sie fürchten, der Stoff wird nicht zur Gänze durchgenommen werden.
Wir müssen darauf achten, dass die Maturanten faire Chancen für ein erfolgreiches Absolvieren der Reifeprüfung haben. Es wird zusätzliche Förderungen geben und ich habe schon letztes Schuljahr gezeigt, dass ich bereit bin, festgefügte Bedingungen einer Matura zu verändern, wenn ich sehe, dass sie nicht zeit-und situationsadäquat sind. Dieses Versprechen kann ich auch jetzt abgeben. Auf der anderen Seite sollten wir aber auch realistisch bleiben: Wir haben jetzt 14 Schultage Distanzlernen. Da ist vieles noch aufholbar.

Wenn es bei diesem einen Lockdown bleibt.
Genau.

Für den Fall, dass der Stoff nicht durchgebracht wird: Fällt die Zentralmatura dann aus und die Schulen gestalten die Prüfungen autonom? Oder gibt es die Zentralmatura auf jeden Fall und sie wird eben heuer "leichter"?
Wir werden die Zentralmatura machen, wie auch letztes Jahr. Auch da hat es pessimistische Stimmen gegeben. Manche haben mir geraten: "Lass die doch sein, das Leben ist Prüfung genug." Aber ich muss sagen, dieser Abschluss der Sekundarstufe II ist nicht nur ein Ritual, sondern er bescheinigt offiziell die Hochschulreife. Das ist schon wichtig.

»Die Bildungsschere soll nicht weiter aufgehen. Die Schüler können ja nichts für die Situation«

Vielen Kindern in allen Schulstufen fehlt noch Stoff vom Vorjahr, jetzt kommen 14 Tage Lockdown dazu: Was tun Sie, um diese Wissenslücken zu schließen?
Es wird finanzielle Mittel und personelle Ressourcen für zusätzlichen Förderunterricht geben, um genau diese Defizite auszugleichen. Mir ist es ein wirkliches Anliegen, dass die Corona-Krise nicht zu Lasten der Lernschwächeren geht. Die Bildungsschere, die uns immer wieder droht, soll jetzt nicht weiter aufgehen. Die Schüler können ja nichts für diese Situation. Hier muss die öffentliche Hand kompensatorisch tätig werden.

Und diese Förderung gibt es unbürokratisch?
Das wird im Prinzip unbürokratisch. Es gibt ja jetzt schon dieses Instrument, wo Lehrer etwa nach einer schwachen Schularbeit sagen können: "Kommt in den nächsten Tagen, wir machen Förderunterricht, um Defizite aufzuholen." Die Kontingente dafür werden wir erhöhen.

An vielen Schulen sind die Leihlaptops aus. Die Regierung hat ja angekündigt, die Kinder der fünften und sechsten Schulstufe nächstes Jahr mit Gratisgeräten auszustatten. Könnte man das vorziehen?
Das ist eine der größten digitalen Beschaffungsaktionen im österreichischen Bildungssystem, die es je gegeben hat. Sie müssen mir bitte zugestehen, dass ich hier rechtlich einwandfrei vorgehe und das streng nach Vergaberecht europaweit ausschreibe. Das ist nichts, wo ich zum nächsten Elektroladen gehen und sagen kann: "Ich hätte gerne 160.000 Geräte und wenn möglich geschenkmäßig verpackt." Das dauert seine Zeit.

Viele Kinder interessiert, ob sie Tests und Schularbeiten, die jetzt ausfallen, in den wenigen Schulwochen bis zu den Semesterferien nachholen müssen.
Das fällt in die Autonomie der Schulen. Wir achten aber darauf, dass es nicht zu einer Überlastung der Schülerinnen und Schüler kommt. Diese klare Anweisung habe ich gegeben. Es ist genug Druck im System. Und für eine Beurteilung reicht auch die reine Mitarbeit. Man muss nicht immer Tests und Schularbeiten machen. Das gibt unser Schulrecht her.

»Die Kinder lernen jetzt viel, das nicht im Lehrplan steht, aber für das Leben Gültigkeit besitzt«

Machen wir Eltern uns zu viele Gedanken darüber, was Kinder in diesen Lockdown-Wochen versäumen? Sollten wir pragmatisch sagen, das meiste, was die Kinder jetzt gelernt hätten, würden sie in den Ferien sowieso vergessen?
Es steht mir nicht zu, zu urteilen, ob sich Eltern zu viel oder zu wenig Sorgen machen. Ich kann nur sagen, Kinder lernen viel, Kinder lernen auch in dieser Krise: selbst organisiertes Lernen zum Beispiel oder den Wert von Solidarität und die Bedeutung von Freundschaften. Sie lernen viel, das nicht im Lehrplan steht, aber fürs Leben eine große Gültigkeit besitzt. Wenn ich überlege, was Nachkriegsgenerationen an schulischer Bildung versäumt haben und welche Karrieren und welches Wirtschaftswunder sie in Österreich und Deutschland bewirkt haben - also man sollte hier keine Endzeitstimmung entfalten.

Die Krise kann ein Fortschrittsbeschleuniger, aber auch ein Brandbeschleuniger sein: Die Bildungsschere gibt es ja schon immer. Was haben Sie in den letzten Wochen hinsichtlich der langfristigen Bewältigung dieses Problems gelernt?
Die Bildungsschere gibt es seit jeher und sie wird nie ganz zu schließen sein. Menschen sind ungleich, Familien sind ungleich und haben ungleiche Ressourcen, das wird nie perfekt auszugleichen sein. Aber wir lernen daraus, dass die öffentliche Hand hier stärker kompensatorisch eingreifen muss. Wir müssen bereitstellen, was das Elternhaus nicht leisten kann, um einen Ausgleich für jene zu schaffen, die mit ungleichen Chancen begonnen haben. Das ist eine klare Reflexion aus dieser Krise.

Im Regierungsprogramm ist eine Förderung für sogenannte "Brennpunktschulen" vorgesehen - wobei dieses Wort an sich ja despektierlich ist.
Ja, das stimmt. Und solche Wörter haben einen selbstverstärkenden Effekt. Wer bringt sein Kind schon in eine "brennende" Schule? Mir ist der Titel "100-Schulen-Projekt" lieber. Es ist mit 15 Millionen Euro budgetiert. Wir müssen eruieren, wie man den Schulen wirklich helfen kann. Natürlich kann man sagen, mehr Ressourcen und die am besten mit der Gießkanne verteilt, aber ich bin überzeugt: Das ist es nicht. Dieses Projekt soll feststellen, was wirklich die Schlüsselfaktoren sind, um auch vor dem Hintergrund einer schwierigen sozioökonomischen Struktur gute Schulerfolge zu erzielen. Das Projekt wird wissenschaftlich von der Uni Wien begleitet und ich erwarte mir viel davon.

Man hört, Sie mussten mit Rücktritt drohen, um zu verhindern, dass die Schulen schließen, während der Handel offen bleibt.
Es gehört für einen Fachminister dazu, dass er für seine Aufgabenbereiche eintritt. So sehe ich meine Aufgabe. Es waren anstrengende Wochen, aber notwendige Wochen, um der Schule eine bestimmte Bedeutung zu geben. Also: alles in Ordnung.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News-Ausgabe Nr.47/20

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