Haruki Murakami: Fantasiewelten eines virtuosen Verstörers

Der Schriftsteller Haruki Murakami wird seit Jahren für den Nobelpreis favorisiert. Seine in 50 Sprachen übersetzen Romane faszinieren ein Millionenpublikum. Bei Dumont erscheint nun "Die Stadt mit der ungewissen Mauer". Übersetzerin Ursula Gräfe und Österreichs Literaturstar Clemens J. Setz erklären das Faszinosum.

von Autor Haruki Murakami © Bild: IMAGO / Christian Thiel

Eine Stadt, umgeben von einer acht Meter hohen Backsteinmauer. Kein Sturm, kein Erdbeben, nichts kann diese Mauer zerstören. Sie hält die Stadt fest im Griff. Ein strenger Torwächter hütet den einzigen Durchlass, und der führt nur in die Stadt. Wer sie betreten will, muss in seiner Welt alles zurücklassen, sogar seinen Schatten darf er nicht mitführen. Und er muss wissen: Es gibt kein Zurück.

Die Mauer, von der hier die Rede ist, ist das titelgebende Element in Haruki Murakamis Roman "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer", der am 12. Jänner bei Dumont erscheint, an jenem Tag, an dem der japanische Meister literarischer Verstörungen sein 75. Lebensjahr vollendet.

 Roman "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer"
© beigestellt

Das Buch
Im Roman "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" kehrt Haruki Murakami in die faszinierenden Fantasiewelten aus früheren Werken zurück. Dumont, €35,95.*


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Für Kenner seiner Romane ist das Szenario kein neues. Denn mit dem 636 Seiten starken Werk kehrt der Autor in eine seiner faszinierenden Fantasiewelten zurück, in die seines 1985 in Japan erschienenen Romans "Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt".

Zwischen zwei Welten

Darin gibt ein namenloser Ich-Erzähler alles auf, auch seinen Schatten, und zieht in die Stadt, aus der es kein Zurück gibt, um seiner Jugendliebe nahe zu sein, die aus seinem Leben jäh in diese Stadt entwichen ist. In einer geheimnisvollen Bibliothek nimmt er den Posten des Traumlesers an, weil er dort die Frau findet, die er in der alten Welt verloren hat. Wenn er nicht in der Bibliothek ist, beobachtet er Einhörner, die einzigen Wesen, die sich auch jenseits der Mauer aufhalten dürfen.

All das trägt sich nun auch im aktuellen Roman so zu. Der einzige Unterschied ist das Ende. Im 1985 erschienenen Roman gibt es für den Ich-Erzähler kein Entkommen aus der Stadt. Im aktuellen wird er zum Reisenden zwischen den Welten.

Fortschreibung eines Frühwerks, kunstvolle Neukomposition oder eine Neuschreibung, eine Art Update, nach dem Fall der realen Mauer?

"Murakami zitiert sich immer selbst. Es sind auch zahlreiche Bezüge zu anderen Werken in diesem Roman vorhanden", konstatiert Übersetzerin Ursula Gräfe im Gespräch mit News. Sie kennt das Werk des Virtuosen des Surrealen genau: Mehr als 20 Romane und Erzählungen hat die studierte Japanologin aus Frankfurt am Main ins Deutsche übertragen. Mit Murakamis Literatur ist sie seit mehr als 20 Jahren vertraut. Doch diese Vertrautheit musste sie sich selbst erarbeiten. Denn Gespräche über seine Literatur lehnt Murakami strikt ab.

© imago/Christian Thiel Haruki Murakami

Umso erstaunlicher, dass er nun selbst für Klarheit über eines seiner Werke sorgt: Im Nachwort zum Roman verrät er dessen Ursprung: eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Die Stadt und ihre ungewisse Zukunft", die bereits 1980 in der japanischen Literaturzeitschrift "Bungakukai" erschienen ist. Er selbst sei von dieser Arbeit allerdings nicht überzeugt gewesen, weshalb er sie in keinen Erzählband aufgenommen habe.

"Ich hatte jedoch von Anfang an das Gefühl, dass die Geschichte Aspekte enthielt, die für mich von entscheidender Bedeutung waren. Leider verfügte ich damals noch nicht über die schriftstellerische Fähigkeit, sie angemessen herauszuarbeiten", merkt er selbstkritisch an.

In einem Interview mit der amerikanischen Nachrichtenagentur AP (Associated Press) verweist Murakami auf das zentrale Thema: die Überwindung von Mauern. "Um an die andere Seite einer Mauer zu gelangen, bedarf es Entschlossenheit, Überzeugung und körperlicher Anstrengung", stellt Murakmi fest.

Er hat selbst erfahren, wie es ist, hinter einer Mauer zu leben. Zunächst in den 1980er-Jahren, als er sich mit seiner Ehefrau in Berlin aufhielt und Mozarts "Zauberflöte" in der im damaligen Ostberlin gelegenen Staatsoper besuchte. Bis spätestens Mitternacht musste man damals beim Checkpoint Charlie einfinden, Schlag zwölf wurde die Grenze geschlossen, blickte er in seiner Dankesrede für den Literaturpreis, den ihm die deutsche Zeitung "Die Welt" 2014 verliehen hatte, auf seinen Ausflug hinter die Berliner Mauer zurück.

Auslöser für die erneute Auseinandersetzung mit dem Eingeschlossensein hinter Mauern war der Lockdown 2020 während der Coronapandemie, erklärt Murakami im Nachwort zu "Die Stadt mit der ungewissen Mauer". Dabei beruft er sich auf Jorge Luis Borges, der meinte, es gebe nur eine begrenzte Anzahl von Geschichten, die ein Schriftsteller im Laufe seines Lebens richtig erzählen könne. Für sein Schreiben bedeute dies: "Die Wahrheit liegt nicht im unveränderlichen Stillstand, sondern im steten Wandel. Das ist das Wesen des Erzählens."

Beim Baseball zum Schriftsteller

Wie er zum Schriftsteller wurde, könnte eine Szene aus einen seiner Romane sein. Als der Student der Theaterwissenschaft und Betreiber eines Jazzclubs ein Baseball-Match im Jingu-Stadion besuchte, erkannte er seine Berufung. Auslöser war der schöne, satte Ton, der beim Auftreffen eines Schlägers auf den Ball zu hören war. "Ich erinnere mich noch genau an diesen Augenblick. Ich hatte das Gefühl, etwas wäre langsam vom Himmel gesegelt und ich hätte es mit den Händen aufgefangen." Nach dem Spiel erstand der junge Mann Papier und eine Füllfeder und begann zu schreiben

Universelle Figuren

Der junge österreichische Kollege Clemens J. Setz, Büchner-Preisträger des Jahres 2021, erklärt die Faszination, die von Murakamis Literatur ausgeht, mit der Freiheit im Umgang mit Bildern. "Einfach von Einhörnern zu erzählen oder von einem sprechenden Frosch, das muss man sich erst verdienen", konstatiert Setz. Murakamis Romanfiguren, die bisweilen von sich behaupten, sie seien nur eine Metapher oder ein Prinzip, seien fast schon so etwas wie Parodien auf das Erzählen. Aber da Murakami diesbezüglich keine Erklärungen abgebe, dringe das in psychologische Dimensionen vor.

Das Attraktive sei sein Spiel mit Elementen, etwa Figuren aus Fantasyromanen, die sich bei Murakami aber dann doch in reale Menschen wandeln. Setz hebt die Faszination von Murakamis Figuren hervor, die sich allem verweigern, was andere literarische Wesen zu Helden werden lässt. "Möglicherweise sind diese Figuren für Japaner besonders attraktiv, aber sie funktionieren universell."

Übersetzerin Ursula Gräfe sieht das ähnlich. Die Sogwirkung, die Murakamis Geschichten ausüben, gehe von seinen Figuren aus: Helden, die sich gewissermaßen aus allem ausklinken. "Meine Theorie ist, dass sie in beiden Kulturen, der fernöstlichen und der westlichen, das Lesepublikum ansprechen. Protagonisten, die aus allen Beziehungen gefallene Einzelgänger sind." Das spreche sehr viele jüngere, aber auch ältere Leute in Korea oder in Japan an, in diesen konfuzianischen Gesellschaften, wo der Druck, der von Familie und Firmen ausgehe, die Menschen überfordere. "Helden, die sich dem verweigern, üben da natürlich einen großen Reiz aus", erklärt Ursula Gräfe.

»Einer der Literaturpäpste sah in Murakamis Romanen den Niedergang der japanischen Literatur«

Leicht hatte es der junge Schriftsteller Murakami jedenfalls nicht. Die renommierte Literaturkritik habe seine frühen Arbeiten abgelehnt, sagt die Übersetzerin. "Die Hochliteratur in Japan pflegte einen sehr komplizierten, naturalistischen Stil. Murakami fühlte ein Bedürfnis, sich davon zu lösen. Sein Credo war immer, in einem sehr gut verständlichen, erzählerischen Stil zu schreiben. Noch heute hat er den Anspruch, sich von dieser gelehrten, sehr wortreichen und komplizierten Art zu schreiben, die die japanische Hochliteratur kennzeichnet, zu distanzieren." Das sei dem jungen Literaten zunächst nicht leicht gefallen, bis er seine Methode fand: Da er selbst als Übersetzer tätig ist, übertrug er seine eigenen Werke ins Englische und tradierte sie zurück ins Japanische. Dadurch, sagt Ursula Gräfe, habe er sich seinen schlichten, leicht verständlichen Stil erarbeitet. Einer der japanischen Literaturpäpste sah in Murakamis Romanen gar den Niedergang der japanischen Literatur. "Aber diese Kritiker sind in Japan heute nicht mehr aktiv tätig."

Stilistisches Experiment

Ursula Gräfe weiter: "Heute habe ich das Gefühl, dass er versucht, sich um eine immer leichter verständliche, deutlichere Sprache zum bemühen. Andererseits hatte ich bei diesem Buch doch das Gefühl eines stilistischen Experiments, das mir auch etwas Schwierigkeiten bereitet hat. Er hat grammatikalische Zeitenwechsel vorgenommen, auch wenn sie nicht den Regeln entsprochen haben."

Den aktuellen Roman sieht Gräfe folgerichtig als stilistisches Experiment, nicht typisch für Murakamis literarischen Stil.

Besonders schätze sie den unbefangenen Umgang mit dem Surrealen, dem Realen und dem Jenseitigen. "Das Changieren zwischen diesen Welten wird bei ihm ganz selbstverständlich abgehandelt, Wir wissen auch, dass es diese Stadt irgendwie geben kann, dass sie vielleicht auch etwas Inneres sein kann, etwas, das im Bewusstsein verborgen wird. Das, glaube ich, macht seine Literatur für Europäer und oder westliche Menschen sehr interessant, weil wir das in unserer Literatur nicht haben. Dieses Kontinuum, wo einfach ein Übergang zwischen Diesseits -ich sage jetzt Diesseits und Jenseits, im Japanischen heißt es immer diese Welt und jene Welt -ganz selbstverständlich ist. Und ich glaube, das macht diese große Anziehungskraft seiner Werke aus."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 1+2/2024.